Kopf in den Wolken? Die Klaviermusik des Sergei Bortkievicz

Russian Piano Music Series – Volume 12: Sergei Bortkievicz – Klavier: Alfonso Soldano
Klaviersonate Nr. 2, Esquisses de Crimée, Lyrica Nova, Nocturne, Étude Op. 15, Drei Präludien
Label: divine art; Art.-Nr.: dda25142 / EAN: 0809730514227

In der Serie „Russian Piano Music“ veröffentlicht das Label „divine art“ nun ein Album mit Musik des Komponisten Sergei Bortkievicz. Dass Bortkievicz Ukrainer war und zudem ein äußerst untypischer Vertreter der Musikszene während der Sowjetzeit, verwirrt im Zusammenhang mit dem Erscheinen in der genannten Reihe. Interpretatorisch hat das Album dank des beherzten Einsatzes des Pianisten Alfonso Soldano für diese nicht unproblematische Musik jedoch sehr viel zu bieten.

Der Grat zwischen „Oh, das gefällt mir aber gut“ und „Ui, das gefällt mir aber gar nicht“ ist oft schmaler als man denkt. So geschehen bei mir hinsichtlich der Musik des hierzulande nur wenig bekannten Komponisten Sergei Bortkiewicz, der von 1877 bis 1952 lebte. Obwohl er den größten Teil seines schöpferischen Lebens im 20. Jahrhundert verbrachte, schrieb er Musik, die man vordergründig am Ehesten mit Komponisten wie Frédéric Chopin, John Field oder Mili Balakirev vergleichen könnte.

Bortkievicz studierte bei Anatoli Liadov, der (bei allem Respekt für Liadovs Musik, die ich sehr schätze) ein ebenfalls eher rückwärts gewandter Komponist war. Trotzdem mag man Bortkievicz, der überiegend Klaviermusik komponierte, kaum als Fortführung von Liadovs Stil einstufen, eher ging der Schüler noch einen Schritt weiter zurück als der Lehrer, und so gehen Bortkievicz zum Beispiel auch so ziemlich alle „Impressionismen“ ab, die immerhin Liadov (der 20 Jahre früher geboren wurde) auf seine späten Tage noch reichlich auslebte.
Bortkieviczs Musik ist deshalb durchaus heikles Terrain: Spielt man ihn wie Chopin wäre es einfach falsch, denn Bortkievicz ist bei aller Rückwärtsgewandtheit doch ein Komponist, der einen anderen Rückblick auf die Musikgeschichte hatte. Er ist, was die Mittel des Komponierens für das Klavier angeht, zweifellos auf der Höhe seiner Zeit und bedient sich immer wieder Effekten, die etwa auch bei Rachmaninov oder Prokofiev zu hören sind. Spielt man ihn aber wie Rachmaninov, so würde man die bemerkenswerte Historizität von Bortkieviczs Musik unter den Tisch kehren, denn auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen: Rachmaninov war ein moderner Komponist, in seinen Ansätzen viel moderner, als man auf den ersten „Blick“ hört.

Nun ist eine CD erschienen, die einen quasi idealen Mittelweg findet und eine Interpretation vorlegt, bei der Bortkieviczs Musik auf optimale Art und Weise zum Zuge kommt. Zu verdanken ist dies dem Pianisten Alfonso Soldano, der diese Musik mit so viel Hingabe und Herzblut spielt, dass man gar nicht anders kann, als bezaubert zu sein. Soldano ist zudem ein Pianist, der spieltechnisch völlig souverän agiert und überhaupt gar keine Probleme bei der Ausführung dieser über weite Strecken hoch virtuosen Musik hat. Die geradezu herzerwärmende Emotionalität, die Soldano in seine Interpretation legt, ist einfach entwaffnend. Zudem stellt Soldano Bortkievicz genau als den dar, der er ist: Als einen Komponisten des 20. Jahrhunderts, der aber womöglich gern 80 Jahre früher geboren worden wäre. Ein bemerkenswert schöner Klavierklang in einer makellosen Aufnahmetechnik tut sein Übriges dazu, dass diese CD als eine Referenz in Sachen Bortkievicz durchgehen kann. Ich würde sagen, sie schlägt so ziemlich alles andere, was ich von diesem Komponisten bislang von anderen Pianistinnen und Pianisten auf anderen Labels gehört habe (denn live hört man Bortkieviczs Musik ja praktisch überhaupt nicht).

Ein Satz zum Schluss: Leicht irritierend ist es, dass diese CD in der Reihe „Russian Piano Music“ des Labels „divine art“ erscheint. Ist Bortkievicz nicht in der Ukraine geboren? Hört man sich seine Musik an, so ist der Einfluss Liadovs zwar spürbar, aber ansonsten sind kaum Rückgriffe auf die große russische Schule zu hören. Teilweise nimmt der Komponist sogar klipp und klar Bezug auf die deutsche Tradition: Bach, Beethoven, Schumann, Brahms. Vor allem aber scheint er Chopin- und Field-Bewunderer gewesen zu sein. Deshalb ist es zumindest irreführend, ihn in dieser Serie zu bringen, zumal er nicht einmal besonders typisch für die sowjetische Klaviermusik ist. Sein Stil wirkt hingegen eher wie ein Eskapismus aus dem sowjetisch-russischen Musikzwang. Bortkieviczs Musik ist schwelgerisch, verträumt, ganz und gar überirdisch und überhaupt nicht lebensnah.

[Grete Catus, September 2016]

Ein Gedanke zu „Kopf in den Wolken? Die Klaviermusik des Sergei Bortkievicz

  1. Das Label Divine Art wies mich darauf hin, dass die CD in der Serie „Russian Piano Music“ ganz richtig aufgehoben sei, weil Bortkiewicz zwar in der Ukraine geboren, diese zur Zeit seiner Geburt aber Teil des russischen Imperiums gewesen sei. Des Weiteren habe Bortkiewicz sich selbst als „Russe“ bezeichnet. Die Serie „Russian Piano Music“ beschäftige sich überdies nicht nur mit Musik aus der Sowjetzeit, sondern umfasse die gesamte Historie des russischen Reiches und seiner Nachfolgestaaten. Dies ist, was mir die Plattenfirma schrieb, was ich hiermit meinerseits unkommentiert an die Leser des „New Listener“ weiterreiche.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.