Ars Produktion Schumacher, ARS 38 566; EAN: 4 260052 385661
„Chinese Dreams“ heißt die neue CD mit der Pianistin Lydia Maria Bader. Sie spielt Werke chinesischer Komponisten sowie Musik, die durch dieses Land inspiriert wurde. Wang Luobins „In that place wholly faraway“ (arr. Zhang Zhao) eröffnet die Platte, es folgt die Ballett-Suite “Die Meerjungfrau“ (arr. Wu Zuquiang) und „Sonnenblume“ aus der Feder Wang Yu Shis (arr. Lin Eryao). Nach diesen originär chinesischen Beiträgen kommen drei „Chinesische Stücke“ von Abram Chasins, „Lotus Land“ von Cyril Scott und „Alt-China, Fünf Traumdichtungen“ von Walter Niemann. Ren Guang schrieb „Silberwolken jagen den Mond“ (arr. Wang Jianzholng), was uns wieder zurück nach China führt. Volksliedbearbeitungen von Chu Wanghua und Wang Jianzhong beschließen das Programm.
Vor zehn Jahren tourte Lydia Maria Bader erstmals nach China. Das dortige Konzertleben steckte zu dieser Zeit noch in den Kinderschuhen und in manchen Gegenden nahmen die Zuhörer lange Strecken auf sich, um die deutsche Pianistin zu hören. Auch wenn sich in den letzten zehn Jahren das Konzertleben vollständig veränderte und der Klavierabend zum festen Bestandteil des Kulturlebens etablierte, blieb der Kontakt bestehen. Lydia Maria Bader nahm nicht nur einmalige Erfahrungen von ihren Reisen mit, sondern auch zahlreiche musikalische Impressionen.
Das Klavier setzte sich erst spät in China durch, doch dann umso mehr: als Europa im 20. Jahrhundert von Diktaturen und Kriegen gebeutelt wurde, emigrierten zahllose Musiker nach Asien und errichteten eigene Hochburgen klassischer Ausbildung. So kommt es auch, dass alle Komponisten dieser CD im 20. Jahrhundert wirkten und die meisten der chinesischen Tonsetzer noch unter uns weilen.
Hier zulande kennt man kaum welche der chinesischen Kompositionen, vor Ort scheinen diese Werke sich hingegen größter Beliebtheit zu erfreuen. Man kann mit Recht sogar behaupten, sie feiern Erfolge wie Popmusik: denn in China unterscheidet man nicht wie in Europa zwischen E- und U-Musik, sondern feiert gelungene Melodien gleich welcher Ausarbeitung. Die melodische Komponente ist auch diejenige, die am deutlichsten ausgeprägt erscheint und mit „typischer“ chinesischer Pentatonik tonaler oder modaler Ausprägung sogleich ein asiatisches Flair verbreitet. Harmonisch bleibt die Musik tonal verankert; manche Wendungen erinnern an französischen Impressionismus, doch kamen eben diese Klänge umgekehrt durch die Weltausstellung von China nach Frankreich. Von den Stücken begeistern mich vor allem die „Sonnenblume“ von Wang Yu Shi und das mittlerweile als traditionell geltenden „Silberwolken jagen den Mond“ aus der Feder von Ren Guang, das ursprünglich für traditionelles Ensemble geschrieben wurde, durch seine Klavierfassung von Wang Jianzhong zum Welterfolg wurde.
Während Abram Chasins zu Lebzeiten durchaus zu den gefragten Komponisten zählte, verblasste sein Ruhm bedauerlicherweise nun gut dreißig Jahre nach seinem Tod. Die Orchestration des mittleren der „Drei Chinesischen Stücke“, „Flirtation in a Chinese Garden“, wurde durch Toscanini mit den New York Philharmonic aufgeführt, was zu einem seiner größten Erfolge wurde (höchstens überboten durch die Uraufführung des 2. Klavierkonzerts unter Leopold Stokowski). Walter Niemann – der eine Ausbildung bei Moscheles, Reinecke und Humperdinck genoss – war einer der wenigen deutschen Komponisten, die sich dem Impressionismus annäherten und auch regelmäßig exotische Sujets für seine Kompositionen nutzte. Im Vorwort von Alt-China heißt es: „Er fordert nicht: Du mußt mir glauben, denn ich bin ein Chinese, sondern er bittet: glaube mir, wenn ich, ein Deutscher, mich mit Dir einmal nach China träume.“ – was schließlich zum Motto der CD wurde. Einen ebenso starken Drang zur Exotik verspürte der australische Pianistenkomponist Cyril Scott, der vor allem durch seine legendären Grieginterpretationen bis heute beliebt ist. Er sah sich jedoch im gleichen Maße als Komponist, platzierte sich gar selbst unter den Top 10 seiner Liste der besten Komponisten aller Zeiten.
Mit klarem, perlendem und wohlklingendem Ton brilliert die Pianistin Lydia Maria Bader in diesen aus Asian kommenden sowie den dorthin verweisenden Miniaturen. Ohne sich übermäßige Freiheiten zu nehmen, schafft sie dabei ein Gefühl von Ungezwungenheit und grenzenloser Leichtigkeit, was besonders bei den rauschhaften, dem Impressionismus nahen Stücken einen steten Sog evoziert hin zu mitreißenden Expansionen. In vielen dieser dankbaren kleinen Klavierstücke schafft sie subtile Gegensätze in der vom Komponisten oft wenig differenzierten Dynamik, lässt die Musik auf diese Weise plastisch vor uns entstehen.
[Oliver Fraenzke, Mai 2020]