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[Rezensionen im Vergleich] Vlach: Ein Meister aus Tschechien

Josef Vlach und das Tschechische Kammerorchester
Stanislav Duchoň, Oboe; Ilya Hurník, Klavier; Karel Patras, Harfe

Henry Purcell: Suite aus ‚King Arthur’ für Streicher
Wolfgang Amadeus Mozart: Divertimento D-Dur KV 136, Eine kleine Nachtmusik KV 525, Adagio und Fuge c-moll KV 546
Pjotr Tschaikowsky: Andante cantabile aus dem 1. Streichquartett op. 11, Serenade C-Dur op. 48
Antonín Dvořák: Serenade E-Dur op. 22, Tschechische Suite op. 39
Claude Debussy: Danse sacrée et danse profane
Josef Suk: Serenade Es-Dur op. 6
Ottorino Respighi: Gli Uccelli
Igor Strawinsky: Apollon musagète
Benjamin Britten: Variations on a Theme of Frank Bridge op. 10
Jiří Pauer: Symphonie für Streicher (1978)
Ilya Hurník: Konzert für Oboe, Klavier und Streichorchester (1954/59)

Supraphon SU 4203-2 (4 CD-Box) (EAN: 099925420321)

Josef Vlach (1923-88) gilt den traditionsbewussten tschechischen Musikern als der legitime Fortführer einer authentischen Linie, die sich von Antonín Dvořák, Josef Suk und Václav Talich als seinem direkten Vorläufer bis heute zu Jiří Bělohlávek (heute Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie) und dessen Schüler Jakub Hrůša (der jetzt im Herbst seine Stellung als Chefdirigent der Bamberger Symphoniker antritt) erstreckt. Das kann man hören! War Talich der bis heute bedeutendste Dirigent Tschechiens, so ist Vlach nicht nur in Bezug auf seine verfeinerte natürliche Muskalität der Nachfolger Talichs, er übernahm als hervorragender Geiger auch aus dessen Händen das Tschechische Kammerorchester, das er fortan vom Konzertmeisterpult aus leiten sollte (leider sind keine Mitschnitte des Streicherensembles unter Talich erhalten). Unter Vlach wurde das Tschechische Kammerorchester denn auch zu einem der weltweit anerkannt führenden Streichorchester, vergleichbar den Busch Chamber Players, dem Kammerorchester Edwin Fischers in der Schweiz, dem Niederländischen Kammerorchester unter Szymon Goldberg, der Salzburger Camerata unter Sándor Végh oder später dem finnischen Ostrobothnian Chamber Orchestra unter Juha Kangas – als einer jener unverkennbaren Klangkörper, die von einem herausragenden Künstler geformt und in jeder Hinsicht sowohl zu bestechender Makellosigkeit angehalten wurden als auch eine ganz spezifische Klang- und Ausdruckskultur verkörperten. Was ist typisch für Vlachs Tschechisches Kammerorchester? Der dunkel abgetönte Klang, der zwar die Oberstimmen sich wunderbar entfalten lässt, jedoch immer die Mittel- und Unterstimmen ebenso lebendig mitwirken und zur Geltung kommen lässt – gerade auch die Bratschen und Celli sind ganz wunderbar sowohl hinsichtlich der Gruppenhomogenität als auch der technischen und tonlichen Vollendung: also ein Fundament, das vital trägt und von den Geigengruppen umso höhere Qualität fordert – denn, wenn die Tiefe so sauber und klar ist, hört man umso unvermeidlicher jede Trübung und Unkultiviertheit in der Höhe. Das Ganze hat einen großartig geschlossenen Ausdruck, die Phrasierung jeder Stimme ist so einheitlich, als spielte jeweils ein großes Instrument. Hinzu kommt jene besondere Wärme, Empfindsamkeit und lyrische Leidenschaftlichkeit auch in den verträumtesten und introvertiertesten Episoden, und jene subtil beschwingte Musikanterie, wie sie den Tschechen wie keinem anderen Volk zu eigen ist – eine Süße auch, die etwas herber und viel unschuldiger ist als etwa jene des Wiener Stils. Über allem liegt ein unaussprechlicher Zauber, ein Geheimnis der Beseeltheit, ein wunderbar ausgeglichenes Verhältnis von immerwährendem Gesang und nie ins Mechanische umkippendem noch erlahmenden Rhythmus. Das Schnelle wird nicht hart und hysterisch, das Langsame badet nicht in haltlosen Emotionen – es ist also auch jener Schuss Nüchternheit dabei, der nichts mit sachlicher Kälte zu tun hat (dies beispielsweise eine Gefahr deutscher Ensembles), der aber die durchgehende Orientierung am strukturell Wesentlichen ermöglicht. Auch der Humor bleibt fein, und die Kunst der Übergänge zeugt von großer innerlicher Beweglichkeit und agogischer Flexibilität. Alles Zeichen einer Kultur im Höchststand.

Vlachs Mozart ist kraftvoll, vital, und dabei stets auch transparent, klar artikuliert ohne die auch bei den Wienern so übliche redundante Betonung der schweren Taktzeiten, und die Leichtigkeit ist weniger eine Sache des Klangs an und für sich als der Beweglichkeit der Gestaltung. Ganz großartig ersteht Adagio und Fuge in c-moll, man fühlt sich in die barocke Welt des Introitus und Kyrie aus Mozarts Requiem versetzt. Und auch von der Kleinen Nachtmusik kenne ich keine natürlicher und treffsicherer ausgeführte Aufnahme.

Bei Dvořák und Suk ist man ganz zuhause. Das kann nicht authentischer verstanden werden. Wie bei Dvořák wird es auch bei Tschaikowsky nie billig, langweilig, sentimental oder mechanisch, sondern fesselt mit einer Würde, Grazie und unaufgesetzten Tiefe der Empfindung, wie dies kaum irgendwo der Fall ist. Auch zeigt sich hier endlich einmal wieder, was für einmalige, in einer adäquaten Aufführung unübertreffliche Meisterwerke die beiden berühmten Serenaden von Dvořák und Tschaikowsky sind. So gespielt, wenn eine solche Fülle und Lebenskraft sogar noch auf einer antiquierten Aufnahme rüberkommt, kann man nur bedauern, dass man es nie wieder im Konzert wird hören können!

Henry Purcells King Arthur-Suite werden Verfechter der heute landauf landab eingesickerten ‚historischen Aufführungspraxis’, also einer philologisch aus dem Notenbild und schriftlich überlieferten Berichten und Anleitungen abgeleiteten hypothetischen Herangehensweise, in der hier zu hörenden Art und Weise entschieden ablehnen. Was sie dabei überhören, ist bei allen gewiss vorhandenen Relikten romantischer Tradition die wendige Phrasierung, die sich natürlich nicht in spritziger Kleinteiligkeit verzettelt, sondern stets den Blick aufs Ganze heftet, wie auch die beseelte Sanglichkeit und rhythmische Urkraft, die nicht gestelzt prätentiös von Höckchen zu Stöckchen hüpft, sondern aus dem zugrundeliegenden Momentum schöpft.

Von Ottorino Respighis ‚Gli Uccelli’ habe ich nie auch nur annähernd so zauberhafte und bis ins Zerbrechlichste vitale Aufführung gehört. Man achte zum Beispiel nur einmal darauf, wie unwiderstehlich sich das neobarocke Rustico in ‚La Gallina da Jean-Philippe Rameau’ artikuliert und entfaltet.

Auch Benjamin Brittens kapriziöse Frank Bridge-Variationen und Igor Strawinskys aparte Farben- und Gestenwelt ‚Apollon musagète’ erfahren mustergültig organische, in jedem Moment wunderbar feine und klar charakterzeichnende Darbietungen. Sehr schön auch, wenngleich nicht ganz so am Kern des Idioms, die beiden stilisiert schreitenden Tänze Debussys mit dem Harfensolisten Karel Patras.

Bleiben die beiden tschechischen Meister, die hierzulande heute kaum jemand kennt. Ilya Hurník (1922-2013) erweist sich als musikantischer Architekt eines dissonanzgewürzten, kurzweiligen, dabei aber in klarer Formgebung verankerten Neobarock mit einem spezifisch böhmischen Einschlag, wie wir das – in ornamentisch komplexerer Faktur – auch teilweise von Martinů kennen. Sein Konzert ist viersätzig, mit entschieden kontrastierenden Charakteren, mit einem spielerisch filigranen Element auch bei harter, kurz abgerissener Artikulation, und außer dem ausgezeichneten slowakischen Oboisten Stanislav Duchoň wirkt der Komponist selbst am Klavier mit, was uns natürlich auch ahnen lässt, wie sehr die Musik hier im Sinne des Komponisten erarbeitet wurde. Diese Musik mag nicht groß sein, doch sie bietet mehr als distinguierte Unterhaltung und einprägsame Gesten.

Ein anderes Kaliber freilich noch ist Jiří Pauer (1919-2007), dessen reife Symphonie für Streicher das Zeug hätte, auch heute noch eine effektvolle Bereicherung des Streicherrepertoires zu sein. Pauer knüpft an das Bartók’sche Barbaro an, mit wuchtigen, dissonanzfreudigen Akkordbildungen, sehr zielstrebig angelegten Steigerungen, couragierten Schichtungen und einer die Entwicklungen offenkundig gliedernden, klar formulierten Motivik, die an und für sich die geringste Leistung des Komponisten ist. Es sind eindeutig nicht die etwas unbedeutenden markanten Motive, die die Qualität dieser Musik ausmachen, sondern die Art ihrer Durchführung. Der große langsame Mittelsatz eröffnet eine andere, tragische Einsamkeit auslotende Welt – man kann hier gar an Schostakowitsch denken –, doch der originelle Aufbau beinhaltet einen plötzlichen Scherzo-Ausbruch, dem – zunächst wie ein Trio scheinend – eine äußerst leidenschaftliche, getragene melodische Entfaltung folgt, die sich zu höchster Spannung steigert. Überraschenderweise kehrt das Scherzando nicht wieder, sondern der Abbau der Spannung leitet direkt in das breite Haupttempo über, in welchem das ergreifende Stück endet. Auch im schnellen Schlusssatz sind es erhebliche Tempo- und Strukturkontraste, die unerwartet eintreten und das Werk mit ganz eigenem Leben erfüllen. Darüber sieht man gerne über einige vielleicht allzu oberflächliche Effektfolgen hinweg, die zunächst sehr animierend wirken können, sich jedoch bei öfterem Hören, wenn es nicht so fantastisch gespielt wird wie wir, auch schnell abnutzen könnten. Dieser Einwand gilt aber auch für eine Vielzahl von Musik, die regelmäßig in unseren Konzertsälen zu hören ist. Den Namen Pauer sollte man sich merken, denn es gibt nicht gar so viel Musik auf solchem Niveau in der tschechischen Musik seit Martinů.

Fazit: eine grandiose Box von einem der besten Ensembles in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, das mit einer Eindringlichkeit und charakterfesten Unbedingtheit, auch einem ausgesprochen fein geschulten Korrelationsvermögen und höchstkultivierter Abstimmung in allen Bereichen agiert. Jeder Streichorchesterleiter sollte diese Aufnahmen kennen. Auch die klangliche Aufbereitung der Aufnahmen aus den Jahren 1960-81, die davon profitiert, dass diese bereits damals exzellent verwirklicht wurden, ist sehr ansprechend, rund, brillant und natürlich. Und der Booklettext von Petr Kadlec erzählt in sehr anrührender Weise die Geschichte Vlachs und seines Kammerorchesters.

[Christoph Schlüren, August 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Wahrhaft legendäre Aufnahmen

Supraphon, SU 4203-2; EAN: 0 99925 42032 1

„Legendary Recordings“ des tschechischen Violinisten und Dirigenten Josef Vlach erschienen nun bei Supraphon. Vier CDs mit Aufnahmen von Antonín Dvořák, Josef Suk, Wolfgang Amadeus Mozart, Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Benjamin Britten, Claude Debussy, Ilja Hurník, Jiří Pauer, Henry Purcell, Ottorino Respighi und Igor Strawinsky enthält die Box. Es spielt das Czech Chamber Orchestra, teils unterstützt durch das Prague Chamber Orchestra (Dvořák Op. 39 und Respighi), die Solo-Harfe in Debussys Tänzen übernimmt Karel Patras, in Hurníks Konzert für Oboe, Klavier und Streicher ist Stanislav Duchoň der Solist, Hurník ist selbst am Klavier zu hören.

 

Seinerzeit ein international legendärer Musiker, heute nur Liebhabern ein Begriff: Josef Vlach. Der 1923 geborene Tscheche studierte unter anderem bei Stanislav Novák und arbeitete intensiv mit Václav Talich zusammen, auch nach der Auflösung des damaligen (ersten) Tschechischen Kammerorchesters, welches Talich leitete. 1950 gründete Vlach das Vlach-Quartett, das bis 1957 bestand – aus ihm kristallisierte sich auch ein Kammerorchester heraus, welches nach dem ersten Konzert auf Wunsch Talichs den bis dahin mit ihm verbundenen Namen Tschechisches Kammerorchester annahm. Das Kammerorchester feierte europaweit riesige Erfolge in den 1960er- und 70er-Jahren. Vlach war bei all seinem Perfektionismus mit stundenlangen Proben und intensivster Vorbereitung doch als freundschaftlich-kameradschaftlicher und ruhiger Leiter geschätzt, so dass alle Proben freiwillig und ohne Druck stattfinden konnten (in der Freizeit der anderweitig hauptberuflichen Musiker!). Zwei Sätze Vlachs seien aus dem informativen Booklettext von Petr Kadlec zitiert, um einen Eindruck von seiner Maxime zu gewinnen: „Wir waren jung, nicht vom Professionalismus verdorben, Intrigen und Neid waren uns unbekannt und wir litten nicht unter ungesundem Stolz; wir behandelten einander gleich und fühlen uns alle frei.“; „Der Gemeinschaft zu dienen heißt auf egoistische Selbstgefälligkeit zu verzichten, nicht ich – sondern wir…“.

Beinahe unerhört scheint der Orchesterklang unter Josef Vlach, es herrscht eine durchgehende Wärme und eine spürbar tiefe Liebe zur Musik, eine stetige geistige Präsenz und eine Dichte, die jede Stimme als Individuum aufleben lässt und so ein atmend-pulsierendes Ganzes schafft von einer Qualität, von der man heute meist nur träumen kann. Schnell wird klar, was Vlach damit meinte, nicht vom Professionalismus verdorben zu sein: Es ist absolut keine Routine in den zu hörenden Aufnahmen zu vernehmen, die Musik entsteht frei und ohne jede Art von Mechanisierungen, sie ist im Moment empfunden und gelebt.

Wirklich überrascht war ich vor allem von Mozart (Divertimento in D-Dur KV 136, Adagio und Fuge c-Moll K 546, Eine kleine Nachtmusik KV 525), noch nie durfte ich seine Musik auf eine so durchreflektierte und durcherlebte Weise hören, die eine Frische hat, als würden die Stücke gerade eben das erste Mal das Licht der Welt erblicken. Den flächigen, weichgezeichneten Klang, welcher heute die Rezeption bestimmt, sucht man vergebens, Vlach lässt auch die herben Kontraste hervorscheinen. Gerade im grandiosen Adagio und Fuge c-Moll KV 546 kann er damit den Hörer erschüttern, hier zeigt sich Mozart von seiner progressivsten und wildesten Seite – und Vlach denkt nicht daran, dies zu glätten.

Ein wahres Heimspiel sind selbstverständlich Dvořák und Suk, die in spielerischer Leichtigkeit und mit größter Spielfreude erklingen. Aber auch die modernen Tschechen, die hier zu hören sind, können überzeugen: Ilja Hurník und Jiří Pauer. Wer sich von der idiotischen Diffamierung solcher ‚klassizistischen’ Musik als „Anachronismus“ lösen kann und auch eine definierbare Form und Struktur in moderner Musik akzeptiert, wird hier zwei großartige Komponisten für sich entdecken. Beinahe eine Haydn’sche Beschwingtheit und Leichtigkeit durchzieht das Konzert für Oboe, Klavier und Streichorchester von Hurník, nur wesentlich dichter und komplexer, gerade im Kopfsatz. Der Komponist sitzt selbst am Klavier, welches allerdings nicht solistisch auftritt, Stanislav Duchoň spielt die Oboe. Die Musik Pauers spielt mit Changierungen zwischen grellen Dissonanzen und sanften Entspannungen, immer in einer gewissen Doppelbödigkeit, in der teils durchaus ein beinahe sarkastischer Zug erkennbar ist, fast schon an Schostakowitsch gemahnend.

Wahre Klangmagie prägt die Serenade C-Dur Op. 48 von Tschaikowsky, ein sanfter Schleier verhüllt frei agierende Klanggewalten in gar unschuldig erscheinender Tanz-Geste, desgleichen im Andante cantabile – hier singt es wirklich! – aus dem ersten Streichquartett Op. 11.

In unserer Zeit entsteht immer mehr eine tiefe Kluft zwischen alter und neuer Musik, Hochschulen wie auch die Musikwissenschaft sind in zwei Lager gespalten. Wie wenig Sinn solch eine Trennung ergibt, stellt Vlach unmissverständlich klar, bei Purcell und auch dem historisierenden Respighi (Gli Uccelli, eine Suite für kleines Orchester, die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts paraphrasiert) wie bei Britten, Debussy (Karel Patras an der Solo-Harfe) oder Strawinsky. Vlach und sein Orchester teilen die gleiche Liebe für jede Musik, wie das breit aufgestellte Spektrum auch beschaffen sei.

Gesondert über die Streichersolisten zu sprechen, macht in dieser Aufnahme – ebenfalls für heutige Einspielungen undenkbar – wenig Sinn, derart integriert sind sie in den lebendigen Orchesterklang und teilen die selbe Freude und Zuneigung zur Musik mit dem Ensemble.

[Oliver Fraenzke, August 2016]

Große Aufgaben für kleines Ensemble

Linn Records CKD 516; EAN: 6 91062 05162 0

Die berühmte Gran Partita KV 361 von Wolfgang Amadeus Mozart ist das Titelstück der neuen CD von Trevor Pinnock gemeinsam mit dem Royal Academy of Music Soloists Ensemble für Linn Records; zudem gibt es Joseph Haydns Notturno Nr. 8 in G-Dur Hob: II:27.

Regelrecht als revolutionär ist Wolfgang Amadeus Mozarts Serenade in B-Dur KV 361 mit dem Titel „Gran Partita“. Sie sprengt den Rahmen der bis dahin gebräuchlichen Harmoniemusik, einer reinen Bläserbesetzung aus Holz mit dem sich in den Holzbläserklang gut einfügenden Horn als zentralem Bestandteil, der nur selten auch mal ein Streichinstrument beigegeben wird. Anstelle der üblichen verspielt kurzen und meist leichten Stücke für diese meist unter freiem Himmel spielenden Ensembles verfasst Mozart ein siebensätziges Werk von über 45 Minuten Länge, welches jedem der dreizehn Bläser sowie dem hinzugefügten Kontrabass (welch eine herrliche Besetzung!) heikle Schwierigkeiten und solistische Anforderungen zukommen lässt, welches dergestalt die Harmoniemusik in den großen Konzertsaal überführt. Auch stilistisch wagt Mozart wie so gerne einen Blick in die Zukunft und schreibt hier eine Musik, die wieder einmal beileibe nicht dem typischen „Mozart-Klischee“ entspricht, viel freier und unkonventioneller ist sie, durchzogen mit unerwarteten Wendungen und mancherorts gar düsteren Zusammenklängen. Kaum weniger reizvoll, wenngleich wesentlich unbekannter, ist Haydns Notturno Nr. 8 in G-Dur Hob. II:27 für sechs Streicher, zwei Hörner, Flöte und Oboe (letztere waren in der ursprünglichen, kürzeren Fassung durch zwei Lyren zu besetzen). Das dreisätzige Werk umfasst eine große Stilbreite von Elementen der Barockzeit bis hin zu unerhört fortschrittlichen Passagen, die man gut und gerne ins 19. Jahrhundert verorten könnte – eine spannende Entdeckung.

Trevor Pinnock entlockt dem Royal Academy of Music Soloists Ensemble einen sehr durchsichtigen und lupenreinen Klang mit einer offenen Ausstrahlung. Alles ist in sehr feiner Manier dargeboten und zeichnet sich durch edle Zurückhaltung aus. Den Musikern beziehungsweise den Solisten gelingen ihre Aufgaben mit Bravour und spielerischer Leichtigkeit. Dabei sind stets die zentralen Stimmen gut hörbar und lassen einen fein abgewogenen Kontrapunkt entstehen. Mancherorts wäre noch wünschenswert, mehr Fokus auf die organische Entfaltung der Musik zu spüren, das Tempo driftet gerne etwas aus dem Ruder und die harten Kontraste verlieren sich in Gleichförmigkeit, die durch Verfeinerung der Dynamik im kleinen wie im großen Kontext schnell an Vielschichtigkeit gewinnen könnte. Was leider stört, sind die vollkommen gleich vorgetragenen Wiederholungen – es ist, wie wenn man ein Buch um einige Seiten zurückblättert und die Geschichte haargenau noch einmal von dieser Stelle aus liest, ohne dabei zumindest den Tonfall zu ändern, es als Spannungssteigerung oder als sich auflösende Spannung zu empfinden. Damit kann der Spannungsbogen nicht funktionieren, der energetische Fluss setzt aus. Es wäre schöner, wenn man kein Gespür dafür hat, die Wiederholungen einfach auszulassen, als somit die Musik unnötig in die Länge zu ziehen, ohne dass es als Ganzes funktionieren kann.

Bei Haydn funktioniert die Kontinuität besser, es entsteht mehr das Gefühl der unzertrennlichen Einheit der Sätze. Besonders hervorzuheben hier sind die beiden Violinen – gerade die erste -, die einen ganz eigentümlichen, beinahe folkloristischen Ton hervorbringen, was stellenweise die Barockelemente unterstreicht, teils aber auch vollkommen neue Farben hineinzuzaubern vermag in diese herrliche Musik. Es entsteht eine gewisse Natürlichkeit, die der Musik sehr gut tut.

[Oliver Fraenzke, Juni 2016]

„Wie es alle machen“? Oh nein! – Mozarts Da-Ponte-Oper als makellose Interpretation von subtiler Schönheit

Erato, LC 04281; EAN: 8 25646 82306 2

Bekanntermaßen ist die Zahl der Mozart-Operneinspielungen gerade im Bereich der Da-Ponte-Opern äußerst vielfältig, ja man möchte sagen: unüberschaubar. Man denke nur an die diversen Aufnahmen des eingefleischten Mozart-Dirigenten Karl Böhm, sowohl unter dem EMI- und Decca- als auch dem Deutsche Grammophon-Label. Darunter finden sich mindestens jeweils drei Einspielungen und Mitschnitte einer jeden dieser Opern. Selbiges gilt beispielsweise auch in ähnlichem Ausmaß für die Aufnahmen von Sir Georg Solti oder Herbert von Karajan.

Die vorliegende Aufnahme nun, beheimatet unter dem Label Erato (heute ein Unterlabel von Warner Classics) versprüht einen ganz besonderen und einzigartigen Zauber. Es ist der nostalgische Flair einer vermutlich untergegangenen Welt, einer „aurea aetas“, der goldenen Zeit des karajanesken Musiktheaters. Beheimatet ist diese in einer der schaffensfreudigsten Perioden des Stereozeitalters. Es war eine Zeit unsterblicher Dirigenten und vergöttert-umjubelter Sänger, primadonnenhafter Diven und hinreißender, italienischer Tenöre. Außerhalb dieses elitären soziokulturellen Rahmens ist es auch eine Zeit politischer Veränderungen, die Zeit des Brusthaar-Toupets, die Zeit von LSD sowie noch von Led Zeppelin und Pink Floyd.
Wir schreiben das Jahr 1977. Der Frühling ist eingezogen, es ist Mai. Auch um den Palais de la Musique zu Strasbourg beginnt es zu diesem Zeitpunkt rundherum zu blühen, in welchem sich gerade eine herausragende Sängertruppe um den französischen Dirigenten Alain Lombard versammelt hat. Ihr gemeinsames Projekt: Mozarts schillernde Ensemble-Oper „Così fan tutte“.

Die Maori-stämmige Sopranistin Kiri Te Kanawa hatte ihr Platten-Debüt bereits 6 Jahre zuvor mit der kleinen Nebenrolle der Contessa Ceprano in Verdis „Rigoletto“ (EAN: 028941426925) neben Luciano Pavarotti und Joan Sutherland gegeben. Ihre warme, leicht dunkel timbrierte und wandlungsfähige Stimme war es vor allem, die sie zu einer der Lieblingssopranistinnen Sir Georg Soltis machte und für die Rolle der Fiordiligi geradezu prädestinierte. In den jungen Jahren ihrer Karriere verfügte Te Kanawa über ungeahnte lyrische Qualitäten sowie über genügend Flexibilität in den koloristischen Passagen, was für die großen Mozart-Partien nahezu unabdingbar ist – anders als in den mittleren und späten Jahren ihres Schaffens, welche sich durch eine dunklere Nachfärbung ihres Timbres und infolge der verbreiterten und schwereren Stimme auch durch weniger Agilität kennzeichnen. An ihrer Seite steht der glanzvolle und sinnliche Mezzosopran von Frederica von Stade, welche ihr Platten-Debüt gerade einmal zwei Jahre vor dieser Einspielung gab. Bekannt wurde die in New Jersey geborene Mezzosopranistin zumal durch die Interpretation von Mozart- und Rossini-Rollen sowie durch diverse Aufnahmen unter Herbert von Karajan (wie vor allem „Pelléas & Mélisande“ von Claude Debussy; EAN: 5099996672327). In der vorliegenden Aufnahme gestaltet sie die Rolle von Fiordiligis Schwester Dorabella. Interessant ist dabei auch, dass sowohl Kiri Te Kanawa als auch Frederica von Stade ihr gemeinsames US-Bühnendebüt am 30. Juli 1971 in Mozarts „Le Nozze di Figaro“ im Opernhaus Santa Fe in New Mexico begingen, Te Kanawa als Contessa und von Stade in der Rolle des Cherubino. Insofern verwundert es wenig, dass es sich in dieser Aufnahme bei beiden bereits um ein eingespieltes Team handelt.

Beider Stimmen verschmelzen in den Ensemble-Nummern, insbesondere aber in den intimen Duetten, zu einer derart harmonischen Einheit, dass man meinen könnte, es müsse sich dabei um eine einzige Stimme handeln. Phrasierungen und Atempausen sind bis ins letzte wohllautende Sechzehntel exakt aufeinander abgestimmt, Legati, Portamenti und Koloraturen bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Gerade wenn man denken mag, eine so klangschöne Einheit rechtfertige den Verdacht des Langweiligen, ja Emotionslosen, wird man eines Besseren belehrt. Beide Diven gestalten ihre Rollen mit der idealistischen Frische ihrer blühenden Jugendlichkeit und größter Expressivität, denn auch in ihrer vollkommenen Einheit, ihrer geschlossenen Paarung spiegeln sich Kontrast und gegensätzliche Leidenschaften wider. Ein scheinbares Paradox, eine sprichwörtliche Quadratur des Kreises, möchte man meinen. Selten verspürt man eine dermaßen ausdrucksstarke mentale Einheit wie bei Te Kanawa und von Stade. Man höre sich nur die gänsehautverdächtigen Nummern „Ah guarda, sorella“ zu Beginn des ersten Aktes sowie mehr noch das „Ah che tutta in un momento“ am Schluss desselbigen an! Erst da wird einem bewusst, wie Mozart klingen kann. Allein wegen diesen beiden Ausnahme-Sängerinnen würde sich die Anschaffung dieser Aufnahme allemal lohnen, doch des Lobes ist an dieser Stelle bei Weitem noch nicht genug getan.

Als weitere Stars dieser Aufnahme müssen auch der Dirigent und sein Orchester genannt werden. Noch fern den Bewegungen der historischen Aufführungspraxis dirigiert Lombard einen äußerst feinsinnigen und gefühlvollen Mozart. Er lässt die Partitur atmen, gestattet jeder Phrase die Zeit, welche sie braucht, um sich zu entwickeln. Lombard ist der eigentliche Klangmagier dieser Aufnahme, denn mittels seiner kundigen Hände lotet er die filigrane Balance zwischen Sängerkorpus und Instrumentarium aus, wählt jeweils instinktiv immer das angemessene Tempo und gibt den Sängern stets den größtmöglichen Entfaltungsraum und die Sicherheit, um der subtilen Schönheit der Partitur zu größtmöglichem Glanz und Wohllaut zu verhelfen. Große dynamische Bögen werden auf überzeugende Art und Weise gestaltet, von zarten, melancholischen Tönen bis hin zu feurig-leidenschaftlichen Sequenzen, welche mitunter, wenn passend, auch ein komödiantisches Kolorit nicht vermissen lassen. In dem elsässischen Orchestre Philharmonique de Strasbourg hat der Dirigent einen höchst emphatischen und einheitlichen Klangkörper gefunden, der es aufs Beste versteht, besagte Balance mit der nötigen Transparenz und Differenziertheit auszustatten. Auch der engagierte Choeur de l’Opéra du Rhin verdient an dieser Stelle großes Lob.

Von den übrigen Sängern sind noch David Rendalls Ferrando und Teresa Stratas Despina hervor zu heben. David Rendalls Tenor ist von lyrischer Kraft und kerniger Agilität. Technisch weiß er durch ein samtenes Messa di voce, ausdrucksstarke Pianissimi und geschickte Verzierungen zu überzeugen. Aufgrund dieser versierten Eigenschaften ist es nicht allzu verwunderlich, dass Ferrando das Herz Fiordiligis, der Dame seines Wettkonkurrenten, in Null-Komma-Nichts zum Schmelzen bringt. Ein eindrückliches Zeugnis ist in dieser Hinsicht das Duett „Fra gli amplessi“ im zweiten Akt.

Die griechische Sängerin Teresa Stratas vermag mit ihren schauspielerischen Fähigkeiten eine äußerst kokette und komödiantische Despina zu zeichnen. In der Rolle des anstiftenden Naivchens und der Verbündeten Don Alfonsos bringt sie ihren neckischen Soubretten-Sopran zu voller Geltung.

Als nicht unwesentlicher Rest der Sängertruppe um Lombard seien darüberhinaus noch der stattliche Bariton Philippe Huttenlochers in der Rolle des Guglielmo und der voluminöse belgische Bass von Jules Bastin in der Rolle des Don Alfonso gewürdigt.

Das Zusammenspiel all dieser Partien erweckt den Eindruck eines eingespielten und perfekt aufeinander abgestimmten Ensembles, wie man es vielleicht noch am ehesten von Wiener Mozart-Ensembles der Nachkriegszeit um Dirigenten wie Josef Krips in Erinnerung behalten hat. Die großartige Aufnahme-Akustik und Räumlichkeit des Klanges setzt der vorangegangenen Liste des Lobes ein weiteres i-Tüpfelchen auf. Eine Aufnahme, die den Glanz dieses goldenen Zeitalters wieder heraufbeschwört und durch ihren nostalgischen Zauber sowie ihre absolute Einzigartigkeit besticht. Così fan tutte? Mitnichten!

So liegt hier meines Erachtens eine der besten „Così fan tutte“-Darbietungen der Plattengeschichte vor.

[Georg Glas, Juni 2016]

Gefilde der seligen Geister

Matinée am 5. Mai 2016 um 11 Uhr im Prinzregententheater
Symphonieorchester Wilde Gungl München
Dirigent: Michele Carulli; Moderation: Arnim Rosenbach

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Am strahlenden Himmelfahrtstag ein strahlendes Konzert im ausverkauften Saal des Prinzregententheaters, das ist ein treffliches Zusammenkommen. Und solch ein Konzert können die Münchner nur mit „ihrer“ WILDEN GUNGL erleben! Aufforderung zum Tanz hieß das Motto nach dem berühmten Stück von Carl Maria von Weber – das natürlich auch zu hören war im bunten Strauß der Stücke, die dieses Himmelfahrts-Konzert ausmachten. Viele davon waren die sogenannten Reißer, der Blumenwalzer aus dem „Nußknacker-Ballett“ von Tschaikowsky, der Kaiserwalzer von Strauß, Kontretänze des jungen Beethoven, zu Beginn ein Mozart-Menuett aus dem Divertimento KV 317. Also alles Stücke, die man durchaus kennt und sicher auch schon oft gehört hat. Auf CD, im Radio oder sonst wo. Aber:

So, wie sie heute die Musikerinnen und Musiker des Symphonieorchesters Wilde Gungl entstehen ließen, wie es eben doch nur bei einem Live-Konzert zu erleben ist, das hat wieder einmal die ganze Kraft und Energie der Tonkunst gezeigt. Keine noch so gute Aufnahme, kein noch so guter Mitschnitt kann eben das leibhaftige Entstehen von Musik ersetzen, da hatte Maestro Celibidache einfach Recht.

Und wie die Kompositionen heute entstanden! Anmoderiert auf seine unnachahmlich charmante Art vom Konzertmeister Arnim Rosenbach ergab sich aus dem Programm mit den vielen Einzelstücken ein wunderbarer Bogen von Mozart bis zu den zwei Zugaben, die sich das begeisterte Publikum erklatschte. Und gerade bei den scheinbar ach so oft gehörten „Ohrwürmern“ kam durch die Klangentfaltung und durch das Wahrnehmen der einzelnen Orchestergruppen oder Solisten das „Gungl-Wunder“ – wie es der Präsident Kurt-Detlef Bock hinterher beschrieb – eben jene Magie auf, die Musiker und Zuhörer gleich verzauberte und mitnahm in die „Gefilde der Seligen Geister.“

Natürlich hatte Maestro Michele Carulli daran den Anteil, den er als Dirigent an all den drei Konzerten, die ich bisher das Vergnügen hatte, zu hören, als „Anfeuerer“, als tänzerischster „Begeisterer“ eben einfach hat. Seine intensive und mitreißende Körpersprache, sein völliges Aufgehen im Augenblick der Gestaltung eines Stückes, sind umwerfend, eben con anima e corpore, wie ich schon einmal schrieb. Nur waren es heute eben Aufforderungen zum Tanz, die ein leider zum Stillsitzen verurteiltes Publikum eben nur innerlich – immerhin – erleben konnte. Der schon beim letzten Konzert im Herkulessaal ausnehmend weiche und dennoch füllende Klang der Streicher wurde aufs Schönste und Passendste ergänzt und gesteigert durch die Bläser und in einigen Stücken natürlich auch durch die Pauke, die Harfe (!) und verschiedenste „Schlagzeuge“. Den Solistinnen und Solisten galt denn auch nach jedem Stück Maestro Carullis Dank, den er – wie zum Schluss auch einigen Damen des Orchesters die Rosen – vollendet „gentlemanlike“ zum Ausdruck brachte.

Im letzten Stück des offiziellen Programms – einem Ausflug nach Brasilien mit der Komposition „Tico-Tico“ von Zequinha de Abreu – brach ein Beifallssturm los, den das Orchester zusammen mit Maestro Carulli mit zwei Zugaben beantwortete. Im letzten, einem Galopp des Namensgebers des Orchesters Josef Gung’l machte er sich mit perfekt geschauspielertem „Entsetzen“ über seine „Rolle“ als Dirigent lustig: nach dem Goethe’schen Motto „Wer sich nicht selbst zum Besten halten kann, der ist gewiß nicht von den Besten!“

Und das kann man von ihm und „seinem“ Orchester“ nach diesem wunderbaren, herzbewegenden Konzert sicher nicht sagen.

(Ceterum censeo: Auch die Münchner Presse täte langsam gut daran, die Konzerte der „Wilden Gungl“ endlich einmal angemessen zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen!)

[Ulrich Hermann, Mai 2016]

Die Tradition auf neue Wege weiterführen

Die Uraufführung des bereits fünften Solokonzerts (ein Concertino mit einberechnet) von Michael F. P. Huber spielt das Orchester der Akademie St. Blasius Tirol unter Karlheinz Siessl im VIER und EINZIG in der Haller Str. 41 in Innsbruck. In der Matinée am 17. April 2016 wird außerdem das Concertino für Klavier und Orchester von Jean Françaix dargeboten sowie die Symphonie Nr. 38 KV 504, die „Prager“, von Wolfgang Amadeus Mozart.

Ein Klavierkonzert zu schreiben ist eine der schwierigsten Aufgabe für einen Komponisten. Nicht nur, dass neben dem eigentlichen Orchester auch das Klavier eine Art zweites Orchester mit umfangreichen Möglichkeiten darstellt, auch lasten unzählige große Meisterwerke auf den Schultern des Komponisten, mit denen viele Hörer das neue Werk unweigerlich mehr oder weniger unterschwellig vergleichen. Eine aufsehenerregend neue und kreative Art, mit diesen bestehenden Werken umzugehen, gelingt dem Innsbrucker Michael F. P. Huber. Der erst im vergangenen November mit dem Landespreis für zeitgenössische Musik Tirol ausgezeichnete Komponist beginnt sein Konzert mit vier Tönen, die einem überraschend bekannt vorkommen und einen geradezu verdutzen dreinschauen lassen: Doch, tatsächlich, direkt zu Beginn erklingt das eröffnende Viertonmotiv aus Tschaikowskys b-Moll-Konzert. Damit nicht genug der Anspielungen – Beethovens c-Moll-Konzert wird wie auch das zweite von Rachmaninoff in derselben Tonart zitiert, und ein Hornmotiv aus Schumanns a-Moll-Konzert. Und dies sind alleine die Werke, die ich beim ersten Hören ausmachen konnte, wie viele weitere für mich noch im Verborgenen geblieben sind, darf sich bei weiterem Hören offenbaren. „Hommage“ nennt Huber treffend diesen ersten Satz und zeigt damit, dass er einer Tradition entspringt, derer er sich gerne bewusst ist und die er eben fortführt anstatt mit ihr brechen zu wollen.

Das Klavierkonzert von Michael F. P. Huber (Autor von derzeit drei Symphonien, nunmehr fünf Solokonzerten, Vokal- und Kammermusik) bleibt seinem bisherigen Stil treu und ist trotzdem eine Weiterentwicklung dessen. Die Musik ist zweifelsohne modern, jedoch fern aller Beliebigkeiten und avantgardistischen Moden, stets erfrischt sie mit einem ansprechenden Ton ohne maßlos aufgehäuft schmerzende Dissonanzen. Formale Struktur und Entwicklung sind zentral für Hubers Werkschaffen – und so wird auch besagtes Viertonmotiv wiederkehrendes Kernelement des Kopfsatzes. Die Musik changiert zwischen polyphonem Beinahe-Chaos und klar gegliederter Ordnung, in beiden Extremata ist die bei Huber ohnehin faszinierend beherrschte Instrumentation spürbar weiter ausgereift. Das Klavier, bisher noch wenig bedacht von Michael F. P. Huber, ist virtuos und vielseitig eingesetzt mit vollgriffigen Akkorden, rasenden Läufen, Glissandi und komplexer Polyphonie. Im Mittelsatz, einem „Nocturne“, ist ihm ein selten zu hörender Partner, das Lupophon, beigeordnet – eine Bassoboe, eine Neuerfindung, welche 2011 erstmals öffentlich präsentiert wurde, und es ist eine sehr gelungene Ergänzung der Oboenfamilie, die nun mit Oboe, Englischhorn, Heckelphon und besagtem Lupophon zum vierstimmigen Satz ergänzt ist wie ein gemischter Chor. Nach dem zweiten Satz folgt ein „Capriccio“ als Finale mit schwunghaften Rhythmen, in eine sonderbare „quasi Cadenza“ einmündend, von wo aus der Satz ein offenes Ende findet.

Mit klarem und durchsichtigem Ton glänzt der Pianist und Organist Michael Schöch am Soloinstrument. In flexibler Wendigkeit stellt er sich schlagartig auf neue Situationen ein, wobei sein Spiel stets locker bleibt. Auffallend ist sein orchestrales Denken: Übernimmt er thematisches Material aus dem Orchester, so bietet er es auch mit den klanglichen Charakteristika des jeweiligen Instruments an. Fein ist entsprechend auch sein Gespür für Phrasierung und dynamische Schattierungen.

Dem Concertino von Jean Françaix belässt er einen frischen und knackig-markanten Ton, der einen Hauch von ins Chansonmilieu abgedrifteter Wiener Klassik mitschwingen lässt: Eine klangliche Wohltat für das meist viel zu romantisch und pedallastig gespielte Werk des Franzosen. Im Übrigen ist das Concertino ein hinreißend charmantes Stück, aus vier miniaturhaften Sätzen mit ansprechend-lockerer Muse zusammengefügt, wie flüchtig hingeworfen und doch merklich ausgearbeitet und fein ziseliert. Als Zugabe gibt es Ligeti, und der Hörer staunt über die rasche linke Hand, über der sich eine sangliche Oberstimme erhebt.

Eine beeindruckende Leistung ist auch wieder einmal vom Orchester der Akademie St. Blasius unter Karlheinz Siessl zu würdigen, das sich mit keinem der Stücke leichtes Repertoire ausgesucht hat. Bis hin in die undurchdringlichste Polyphonie bei Hubers Konzert bewahrt man kultivierten Klang und technische Reinheit, bleibt bei Jean Françaix klar und strukturiert und brilliert bei Mozart vor allem im gefürchteten Bläsersatz. Siessl gelingt es gar, beide Wiederholungen des Finales von Mozarts Prager Symphonie derart entstehen zu lassen, dass sie als Potenzierung der jeweils ersten Wiedergabe zu funktionieren scheinen. Insbesondere in Hubers Konzert blühen die Musiker voll auf und stellen ihr hohes Können und ihre musikalische Gestaltungskraft als Resultat ihrer langjährigen gemeinsamen Schaffenszeit mit Karlheinz Siessl eindrücklich unter Beweis.

Michael F. P. Huber wird noch eine blühende Zukunft vor sich haben. Schon bei meiner Besprechung über die Dritte Symphonie und zwei seiner bisherigen Konzerte nannte ich ihn einen der größten Symphoniker des beginnenden Jahrtausends, und auch nun in diesem Konzert bestätigt sich diese vielleicht gewagt erscheinende Aussage. An alle Orchester lässt sich nur appellieren: Spielt Huber und verbreitet seine Musik auch jenseits der Landesgrenzen Österreichs, denn sie hat es verdient, ihr habt es verdient, und wir haben es verdient!

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Arabesken, Fantasien, Andenkrieger

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Am Montag, den 9. April spielte die italienische Pianistin Ottavia Maceratini in der ‚série jeunes’ des Tonhalle-Orchesters Zürich ihr Debütkonzert im Kammermusiksaal der Zürcher Tonhalle. Nach der ersten Hälfte mit Schumanns Arabesque, Mozarts Rondo in a-moll und Schumanns Fantasie folgten Ravels Sonatine, zwei ‚Essays in the Modes’ von John Foulds, Kaikhosru Shapurji Sorabjis Pastiche über das Lied des Hindu-Händlers aus Rimsky-Korsakovs Oper ‚Sadko’ und die Uraufführung der großen, hochvirtuosen Fantasie ‚Guerrero Andino’ des peruanischen Meisterpianisten Juan José Chuquisengo.

Die ‚série jeunes’ des Zürcher Tonhalle-Orchesters ist eine Beobachtungsstätte für aufstrebende junge Künstler und wird von einem entsprechend fachkundigen, hochinteressierten, natürlich auch kritischen Publikum besucht. Und der Zuspruch zu diesen Konzerten ist ausgezeichnet, wie auch an diesem Abend zu spüren, der durchaus furios und denkwürdig war. Ottavia Maria Maceratini ist eine Musikerin, die nicht um jeden Preis Karriere machen möchte. Es geht ihr um die Musik und um die Begegnung mit dem Publikum, und eben nicht um den demonstrativen Ego-Trip, was ihrem Spiel anzumerken ist. Eine phänomenale Technik ist natürlich die Voraussetzung, um ‚ganz oben’ mitzuspielen, und ein kultivierter Klang und Stilbewusstsein sollten dazugehören, sind aber keine Selbstverständlichkeit. Bei ihr ist das alles in schönster Weise gegeben. Vor einem Jahr gab sie ihr Debüt mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin in der deutschen Erstaufführung von John Foulds’ einzigem, großartigem Klavierkonzert ‚Dynamic Triptych’, davor war sie unter anderem mehrfach mit Lavard Skou Larsen, einem der feinsten Dirigenten unserer Zeit, aufgetreten, hatte mit Gidon Kremer und der Kremerata Baltica beim Schleswig Holstein Musik Festival debütiert, mit dem Nowosibirsk Philharmonic und dem Münchener Kammerorchester konzertiert, und vieles weitere. Nun also ihr erster Zürcher Auftritt, der von großem Erfolg beim Publikum bekrönt wurde.

Sie begann mit Robert Schumanns Arabeske op. 18, vielleicht etwas flüchtig im Entwurf, dabei mit bezauberndem Feinsinn dargeboten. Es ist nicht einfach, über die zwei lyrisch kontrastierenden Zwischenspiele hinweg den großen Bogen entstehen zu lassen, doch die erwärmende Intimität des Ausdrucks nahm sofort gefangen. Es folgte Mozarts Rondo in a-moll, in der organischen Entfaltung über die weite Strecke und den vertrackten dynamischen Vorschriften durchaus ein besonders anspruchsvolles Werk von 1787, und es waren außergewöhnliche Klarheit und feinnervige Phrasierungskunst zu bestaunen. Ottavia Maria Maceratini ist hier schon einen weiten Weg der Bewusstwerdung gegangen, sehr ungewöhnlich in der die Strukturen auffächernden Ernsthaftigkeit für einen jungen Menschen. Auch klanglich fesselt ihr perlendes, niemals verwaschenes Spiel, das der Spur einer kontinuierlichen Durchdringung folgt, die keine nichtssagenden Formelhaftigkeiten kennt. Es ist sehr nahe dran an einem idealen Mozart, auch hinsichtlich des graziös gemessenen Tempos. Was noch fehlt, ist in entscheidenden Momenten eine gewisse Ruhe, das Auskosten des atmenden Gesangs. Und zugleich ist so erfreulich, dass bei ihr nicht die geringste Gefahr sentimentalen, sich selbst zelebrierenden Stillstands besteht. Diese Musik bewegt sich fortwährend auf einem schmalen Grat, und wir dürfen hoffen, dass es ihr gelingt, einen vollendeten Ausgleich zwischen Vorwärtsdrängen und subtilem Innehalten im Dienste der Gesamtform zu finden. Das ist ein Prozess, der Zeit braucht, und dem sich die wenigsten Musiker stellen.

Gleiches gilt auch für Robert Schumanns gewaltige dreisätzige Fantasie C-Dur op. 17 von 1835-36. Hier ist vorauszuschicken, dass Frau Maceratini eine Darbietung gelang, die nicht nur zum Besten gehört, was heute in Sachen Schumann zu vernehmen ist, sondern auch, dass sie dieses komplexe und gefürchtete, so viel gespielte Meisterwerk mit einer technischen Vollendung spielte, wie das kaum je geschieht. Auch die extremsten Schwierigkeiten gelangen ihr, ohne Verzerrungen des Tempos, mit phänomenaler Leichtigkeit. Nie knallt ihr äußerst kraftvolles Forte, alles ist klar und rund, legt die Polyphonie offen, folgt den harmonischen Impulsen, lässt die Musik mit unwiderstehlichem Charakter sprechen. Da fehlt nicht viel! Einzig möchte ich anmerken, dass der Mittelteil des Kopfsatzes zwischendurch zu sehr beschleunigt, dass auch im Mittelsatz einige Male in der Hitze des Gefechts das Tempo etwas davonzulaufen tendiert, dass im Finale die letzte Beruhigung etwas spät kommt. So ist auch hier der einzige kardinale Kritikpunkt, mehr Raum für die Ruhe zu lassen, die natürlich nichts mit Ermattung zu tun hat, sondern mit Innigkeit, die potentiell ohnehin da ist, jedoch noch nicht wirklich zu ihrem Recht kommt.

Ravels Sonatine erklang mit der pantomimischen Zerbrechlichkeit, die so bezeichnend für diese Musik ist, wunderbar stilisiert und natürlich zugleich in den Details – auch den formbildenden Tempokontrasten, und dort, wo es angesagt ist, den Blick in die Abgründe offenbarend. Auch hier: gelegentlich noch mehr Ausatmen lassen, der lyrischen Gegenwelt mehr Raum geben, und die schnelleren Tempi nicht davoneilen lassen.

Zwei der sieben 1926 in Paris komponierten ‚Essays in the Modes’ op. 78 von John Foulds (1880-1939) schlossen sich an, was programmatisch passender nicht hätte gewählt werden können: das Passacaglia-artig lyrisch kontrapunktierende ‚Ingenuous’ und das herrlich verinnerlichte, in vier ‚Strophen’ auf archaischen Pfaden feierlich dahinschreitende ‚Strophic’. Es ist unglaublich, welchen Reichtum Foulds einer niemals modulierenden Musik in jeweils einem einzigen Modus entlockt. In solchen Werken erweist er sich als der substantiellste und transzendenteste englische Komponist seiner Zeit, durchaus mit Ravel und Bartók auf Augenhöhe, und hier kann sich die lyrisch-introvertierte, klangsensitive Begabung der Pianistin wunderbar entfalten.

Dann Sorabji, mit seinem ‚Pastiche on the Hindu Merchant’s Song from Sadko by Rimsky-Korsakov’ – wie eine Edelstein-glitzernde Episode aus Tausendundein Nächten, von der Pianistin herrlich abschattiert in der immer vernehmlichen, reich ornamentierend umkleideten einfachen Gesangsmelodie.

Mit Spannung wurde die abschließende Uraufführung des Peruaners Juan José Chuquisengo erwartet. Er schrieb nicht den ursprünglich angekündigten Tango, sondern eine Gedächtnismusik für einen verstorbenen Freund aus den Anden, dessen Andenken das Werk gewidmet ist: ‚Guerrero Andino’. Diese große Fantasie ist nicht nur eine zugleich höchst dankbare gigantische pianistische Herausforderung, sondern besticht bei ihrem immensen harmonischen Reichtum, ihrer melodischen Schönheit, abwechslungsreichen rhythmischen Vitalität und unkonventionellen kontrapunktischen Eleganz vor allem dadurch, dass die eigentlich rhapsodische Anlage auf organisch kunstreichste Weise ineinander verwoben ist. Es ist keine ‚moderne Musik’ in dem Sinne, in welchem sie in unserer subventionierten Kulturlandschaft nach wie vor hartnäckig verstanden wird, dafür ist sie nicht nur viel zu schön, sondern auch in der Subtilität viel zu neuartig. Eine unglaublich kraft- und prachtvolle, farbenreiche, lebendige, innerlich reiche Musik, die endlos scheinende Räume eröffnet und das Gefühl einer unerschöpflichen Freiheit atmet. Es kann gut sein und ist zu wünschen, dass dieses Werk ein Klassiker der Soloklaviermusik in unserer Zeit wird. Juan José Chuquisengo beweist darin auch sozusagen ganz nebenbei, dass er nicht nur einer der feinsten Pianisten unserer Tage ist, sondern auch ein wahrhaft großartiger Komponist (am 22. April wird im Freien Musikzentrum in München seine symphonisch angelegte Piazzolla-Hommage ‚Tango-Metamorphosen’ für Streichquintett uraufgeführt, die bald darauf in Augsburg durch die Bayerische Kammerphilharmonie auch in der Streichorchesterfassung erstmals erklingen wird). Ottavia Maria Maceratini hat mit ‚Guerrero Andino’ ein gewaltiges Werk an den Schluss ihres Programms gesetzt, das ihrer Ausnahmebegabung in schönster Weise entspricht und das Publikum in Begeisterung versetzt. Sie dankt für den Applaus mit einer so wundervollen wie hochoriginellen Zugabe, dem ‚Persian Love Song’ von John Foulds, in verfeinertster Wiedergabe. Möge sie bald wieder in Zürich zu hören sein.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, April 2016]

Mehta macht Mozart – 3 Mal

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Drei Mal Wolfgang Amadeus Mozart gibt es am 22., 24. und 26. März 2016 in der Philharmonie im Gasteig. Zubin Mehta dirigiert die Münchner Philharmoniker und den Philharmonischen Chor München in der Serenade für 12 Bläser und Kontrabass B-Dur KV 361 „Gran Partita“, dem Requiem für Soli, Chor, Orgel und Orchester d-Moll KV 626 in der Fragmentfassung ohne die Vervollständigungen seiner Schüler Franz Xaver Süßmayr und Joseph Eybler sowie die Motette „Ave verum corpus“ KV 618. Der Chor ist von Andreas Herrmann einstudiert, die Solisten sind Mojca Erdmann, Okka von der Damerau, Michael Schade und Christof Fischesser.

Seit 2004 bereits darf sich Zubin Mehta als erster Ehrendirigent der Münchner Philharmoniker in deren über 120-jähriger Geschichte bezeichnen. Nun ist er wieder einmal bei „seinem“ Münchner Orchester und widmet drei Konzertabende voll und ganz Wolfgang Amadeus Mozart, der im Januar diesen Jahres 260 Jahre alt geworden wäre.

Ungewohnt leer ist die Bühne in der ersten Hälfte des Konzerts am 24. März, für welches ich, für The New Listener, eine Karte in den mittleren Rängen erworben habe. Das unausgefüllte Podium hängt allerdings nicht mit einer Krankheitswelle bei den Musikern zusammen, sondern mit der kammermusikalischen Besetzung des ersten Werks: Lediglich dreizehn Musiker verlangt die Serenade B-Dur KV 361 mit dem Titel „Gran Partita“. Die Philharmonie im Gasteig kommt der kleinen Aufstellung bedauernswerterweise überhaupt nicht entgegen, der Klang erscheint bereits in den Blöcken G, H, I und J – immerhin zur ersten und zweiten Preiskategorie gehörend – distanziert und fahl. Vermutlich haben die vorderen Blöcke, auch durch die tiefgestellten Klangsegel, eine annehmbarere Akustik, was allerdings auch auf Kosten der weiter hinten gelegenen Plätze geht. Zubin Mehta dirigiert Mozart mit kleinen und nur auf das Nötigste beschränkten Bewegungen, jegliche übermäßige Zutat ist ihm fremd. Das kommt dem Zusammenspiel und der Präzision seines Ensembles zugute, die Musiker wirken durchwegs aufeinander abgestimmt und erstaunlich synchron, was bei reiner Bläseraufstellung (plus dem hinzugefügten Kontrabass) alles andere als einfach ist. Alle Mitwirkenden können ihr enormes Können in den solistisch gesetzten Passagen unter Beweis stellen – mehr als einmal wird die Serenade in der Literatur als Konzert für dreizehn Solisten bezeichnet. Besonders in den leisen Passagen zeigen Bläser und Kontrabass einen enormen Reichtum an Klangschattierungen, doch gerade in den extrovertierten Momenten könnten sie etwas mehr aus sich herausgehen und bräuchten nicht in der Zurückhaltung zu verharren. Das beeinflusst nämlich nicht zuletzt den Farbenreichtum, der durch den Raum schließlich eh bereits gedämpft ist.

Nach der Pause füllt sich die Bühne, nun befinden sich ein für Mozart’sche Verhältnisse volles Orchester, ein Chor, ein Orgelpositiv und vier Gesangssolisten auf der Bühne. Im Rahmen dieser Konzerte wird das Fragment gebliebene Requiem KV 626 gespielt, das letzte Werk des großen Genies. Auf Geheiß seiner Witwe Constanze wurde das Werk zeitnah nach seinem Tod von seinen Schülern Franz Xaver Süßmayr und Joseph Eybler vervollständigt, sprich, das nur acht Takte umfassende Lacrimosa vollendet und Domine Jesu, Hostias, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei nach den verbleibenden Skizzen konstruiert. So konnte das Requiem dem anonym gebliebenen Besteller überbracht werden, um den sich nach wie vor Mythen ranken, etwa, er sei an dem Ableben Mozarts schuldig oder zumindest daran beteiligt. Die Solisten im Münchner Gasteig sind Mojca Erdmann, Okka von der Damerau, Michael Schade und Christof Fischesser, sie alle weisen ein gutes Gespür für die Musik auf und singen ihre Soli mit Bravour. Lediglich Erdmann und Fischesser haben ein zu stur mechanisches und durchgängiges Vibrato, das dosierter und feinfühliger eingesetzt hätte werden müssen, vor allem auch, um beim Zusammenwirken aller vier Solisten durch die große Amplitude entstehende mikrotonale Spannungen zu vermeiden. Eine besonders außergewöhnliche und ansprechende Stimme weist Michael Schade auf, dessen Tenor als markig und prägnant sogleich erfreut. Chor und Orchester sind hier spürbar in ihrem Element, sie veranstalten ein sprühendes Feuerwerk an Farben und Ausdruck. Zubin Mehta bringt eine feine und auch in dichter Polyphonie durchhörbare Linie zum Vorschein, die wichtigsten Stimmen sind linear mitverfolgbar. Er achtet minutiös auf den großen, die Sätze zusammenhaltenden Bogen und verliert dennoch nicht das Detail und das Gefühl für das Wechselspiel aus Spannung und Entspannung.

Welch eine unfassbare Wirkung entsteht, wenn das Lacrimosa nach lediglich acht Takten zerfällt, die Soprane noch ohne ihre Mitstreiter weitersingen, aber auch sie nach zwei Takten ersterben! Das Wissen, dass dies das abrupte Ende eines der größten Kapitel der Musikgeschichte darstellt, lässt einen schaudern – der Abbruch ist wie das Zufallen des Sargdeckels, ein so unumkehrbares wie unaufgelöstes Ende. Solch eine Wirkung ist ansonsten nur noch im letzten Contrapunctus von Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ zu erleben, jenem unübertroffenen polyphonen Werk, das nach ungefähr zehnminütiger Spielzeit plötzlich mitten in der Ausführung ausgerechnet des B-A-C-H-Sujets abbricht …

Direkt im Anschluss gibt Mehta noch die kurze Motette Ave verum corpus, die doch noch ein versöhnliches Ende bringt und den Hörer nicht in der Unaufgelöstheit lässt. Dennoch bleibt dieses enorme Gefühl eines schicksalhaften Endes bestehen und wird den Hörer auch noch aus dem Saal heraus begleiten. Nicht zuletzt, da Mehta das Requiem vor der Aufführung all jenen gewidmet hat, die auf der Welt leiden und hungern müssen, und dafür auf den Applaus verzichtet. Ohne das wohl verdiente „Brot des Künstlers“ verlässt er die Bühne, der Hörer verbleibt – überwältigt von dieser Musik.

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Ein Programm, zwei Dirigenten

Das erste Programm der Munich Young Classical Players wird gleich an drei kleinen Spielstätten in München dargeboten, am 6. März in der Moor Villa, am 10. März im Bürgersaal Fürstenried sowie am 17. März im Kleinen Theater Haar. Für The New Listener höre ich die zweite Vorstellung mit einem Programm bestehend aus Joseph Haydns Ouvertüre in D Hob. Ia:7 und seiner Symphonie Nr. 87 in A-Dur Hob. I:87, der Symphonie Nr. 40 g-Moll KV 550 von Wolfgang Amadeus Mozart und der 5. Symphonie in B-Dur D 485 von Franz Schubert. In der ersten Hälfte wird das Dirigat von Sergey Lunev übernommen, die Symphonien von Haydn und Schubert leitet Maximilian Leinekugel.

Die Munich Young Classical Players wurden dieses Jahr erst gegründet von den beiden Dirigenten Sergey Lunev und Maximilian Leinekugel aus Studenten der Münchner Musikhochschule und anderen Musikern mit (beziehungsweise: in) hoher musikalischer Ausbildung. Ziel ist es, auch in kleinen Konzerthäusern Musik auf spieltechnisch hohem Niveau aufzuführen – Zentrum dabei soll vorerst München bleiben.

Spieltechnisch liegt die Qualität tatsächlich recht weit oben, die Musiker sind größtenteils auf einem beachtlichen Niveau und halten trotz der kurzen Zeit, die das Kammerorchester besteht, erstaunlich gut zusammen. Die Besetzung ist ziemlich klein, es gibt nur je drei erste und zweite Geigen, die Kontrabasssektion besteht gar aus nur einem einzigen Spieler, dafür ist ein ziemlich vollständig besetzter doppelter Bläsersatz vorhanden. Diese Ungleichheiten der Aufstellungen werden jedoch gut kaschiert, so dass das Verhältnis erstaunlich ausgewogen erscheint. Der Klang ist entsprechend recht trocken, da sich drei Geigen pro Stimme schlecht mischen, was durch große Präsenz und größtenteils reine Intonation wettgemacht wird. Besonders hervorzuheben ist zweifelsohne der grandiose Kontrabassist, der dem ganzen Streicherapparat eine solide Klanggrundlage schenkt, sein spiel ist exakt und sauber, auch gehört er zu den wenigen Streichern, die das Vibrato einmal vernünftig einsetzen (ein übermäßiges Vibrato ist bekanntlich der ständige Begleiter von vor allem hohen Violinen und Celli, letztere meist mit noch größerem und störenderem Ambitus). Auch der gesamte Bläserapparat glänzt durch Präzision und durch einen gediegenen Klang.

Nach der kurzen, aber typisch Haydn’schen Ouvertüre in D wagt sich das frisch gegründete Orchester unter Leitung von Sergey Lunev direkt an Mozarts Symphonie Nr. 40 in g-Moll, ein vielgespieltes und somit mit hohen Erwartungen versehenes Stück mit hohen technischen und inhaltlich-musikalischen Anforderungen. Dieses Werk des späten Mozart wird durch seinen dunklen und teils doppelbödig erscheinenden Charakter ausgezeichnet, es wirkt nur bei genauestem Verständnis von Dynamik, Phrasierung und Tempi. Sergey Lunev dirigiert es vor allem aus den Unterarmen heraus, dennoch mit ausladenden Gesten, und spornt das Orchester damit immer wieder an; seinem Schlag ist leicht zu folgen. Das Tempo gerät jedoch immer wieder ins Bröckeln und weist Inkonsistenzen auf, das Andante ist um einiges zu schnell, dafür fällt die Geschwindigkeit im Trio des Menuetts rapide ab. Das eh schon schnell begonnene Finale (eine Herausforderung vor allem für die Streicher) wird immer noch rasender, was es den Kammerorchestermusikern nicht einfach macht, da noch mitzuhalten. Obgleich die hohen Fähigkeiten der Musiker hier deutlich werden, macht das Stück stellenweise den Eindruck, nur auf Durchkommen geprobt zu sein. Einen schönen Klang macht dafür vor allem der Kopfsatz her, und auch das Allegretto-Menuett gerät knackig und frisch.

Nach der Pause steht Maximilian Leinekugel am Dirigentenpult. Der 1995 geborene Student, der bereits zwei Jahre Gaststudent in Dirigieren an der Musikhochschule war, leitet Schubert und erneut Haydn. Die Haydn-Symphonie avanciert zum Höhepunkt des Abends, hier wird die intensive Arbeit auch an musikalischer Struktur, dem atmenden und pulsierenden Bogen und vor allem an nuancierter Dynamikabstufung deutlich. Leinekugels Leitung geschieht hauptsächlich aus dem Oberarm, seine Gesten sind ausgearbeitet und sehr schwungvoll mit vielen kleinen Schnörkeln. Er geht viel mehr als Lunev auch aus seiner aufrechten Position heraus, mal krümmt er sich und geht in die Knie, mal bewegt er sich förmlich auf sein Ensemble zu. Die Orchestermusiker folgen gerne seiner Einladung zur aktiven Gestaltung dieser Symphonie und holen das beste heraus, was einem so frisch gegründeten Ensemble nur irgend möglich ist.

Abschluss des Abends ist die fünfte Symphonie von Franz Schubert, ein Werk von subtiler Komplexität und Vielschichtigkeit, das von den meisten leider unterschätzt und fast immer sehr oberflächlich dargeboten wird. Wahrhaftig wirkt das Werk bereits nach kurzer Übezeit, doch ein kurzer Blick in die Partitur genügt, um festzustellen, wie viel mehr doch dahinter steckt. Auch hier wird wieder viel Arbeit an Details sichtlich, wenn auch das Orchester teilweise an seine Grenzen stößt mit den hohen Anforderungen Schuberts, beispielsweise den Anfang tatsächlich Pianissimo zu spielen, die Stimmpolyphonie im zweiten Satz glaubhaft zur Geltung zu bringen oder auf kürzeste Distanz viele Sforzati einzeln aus der Melodie herauszumeißeln. Doch werden gerade die Randsätze sehr prägnant genommen, und auch das Allegro molto-Menuett hat beschwingten Charme.

Die jungen Musiker der Munich Young Classical Players sind auf einem hohen Niveau und werden sich unter guter Leitung sicherlich sehr bald zu einem Kammerorchester mit starkem Zusammenhalt und Liebe zum Detail entwickeln können. Sie schlagen bereits bei ihren ersten Konzerten einen ausgezeichneten Weg ein, den fortzuführen sich lohnen wird.

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Wiener Klassik mit der Wilden Gungl

Samstag, 5. März 2016 Herkulessaal

Wiener Klassik

Marie-Luise Modersohn, Oboe
Michele Carulli, Dirigent
Symphonieorchester Wilde Gungl München

Franz Schubert (1797-1828)
Ouvertüre C-Dur op.26 D 644
zu „Die Zauberharfe“ (später „Rosamunde“)
Andante – Allegro vivace

Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
Konzert für Oboe und Orchester
C-Dur KV 314

Allegro aperto
Adagio non troppo
Rondo Allegretto

Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Symphonie Nr. 4
B-Dur op. 60

Adagio – Allegro vivace
Adagio
Allegro vivace
Allegro ma non troppo

Beethovens „Vierte“ innerhalb eines Jahres drei Mal in München? BR-Symphonie-Orchester mit Herbert Blomstedt, Bruckner Akademie Orchester unter Jordi Mora, und nun – im vollbesetzten Herkulessaal der Residenz die „Wilde Gungl“ unter ihrem neuen Chefdirigenten Michele Carulli.  Dazu vor der Pause Schuberts Ouvertüre zu „Rosamunde“  und Mozarts Oboenkonzert KV 314, das ganze Konzert unter dem Titel „Wiener Klassik“ Ein hoher Anspruch also, man durfte gespannt sein…
Dass Michele Carulli nicht nur ein exzellenter Solist auf der Klarinette ist, hatte er im Sommerkonzert im Brunnenhof schon glänzend bewiesen. Aber was er mit dem Orchester in den vergangenen Monaten ge- und erarbeitet hat, das war mehr als deutlich zu hören. Mit „anima e corpore“ hatte ich damals geschrieben, um sein Dirigieren zu charakterisieren. Allerdings hatte er diesmal alle Hände frei, und schon beim ersten Stück, der scheinbar allzu bekannten Ouvertüre zu Schuberts „Rosamunde“, bekam man den Eindruck, dass dieses Stück nicht nur melodienselig daherkommt, sondern eben auch sehr temperament- und kraftvoll. Schubert hatte – wie im sehr informativen Programmheft zu lesen war – sein Können schon vorher an zwei Ouvertüren italienischen Typs erprobt, kein Wunder also, dass diese Musik voller Elan und Feuer ist.
Und noch etwas war mir beim Zuhören aufgefallen: Waren die Streicher- und zwar alle von hoch bis tief –  wirklich so weich und dennoch intensiv, wie es mir vorkam? Nicht, dass sie in den vergangenen Konzerten nicht gut gespielt hätten, aber da war etwas Neues zu hören, etwas Verändertes!
Beim Mozart’schen Oboenkonzert würde man ja weitersehen!
Als die junge Solistin in ihrem langen roten Kleid die Bühne betrat, hatte sich das Orchester ein wenig auf „Mozart-Maß“ verkleinert.  Marie-Luise Modersohn ist seit 2005 Solo-Oboistin der Münchner Philharmoniker. Schon im ersten Satz, dem Allegro aperto, wurde deutlich: das Orchester – trotz seines martialischen Namens „Wilde Gungl“ – war alles andere als wild, sondern begleitete die Solistin mit der größtmöglichen Delikatesse. Es wurde eine Sternstunde. Das Spiel der Oboistin war samtweich und melodisch, nie schrill oder unangenehm näselnd, sondern klangschön und hingebungsvoll, so schön, wie Mozarts Musik eben nur sein kann. In aller aufmerksamsten Gelassenheit bescherte das Orchester unter seinem Dirigenten Michele Carulli den drei Sätzen das Silbertablett, wie eine gute Begleitung eben sein kann und sollte. Natürlich weiß Carulli als Bläser, wie sich ein Solist die ideale Begleitung wünscht und vorstellt. Das – vor allem natürlich im klangschönsten singenden zweiten Satz – gelang ausnehmend gut, dazwischen immer wieder die kleineren oder größeren Kadenzen der Solistin, einfach wunderschön. Tosender Beifall, den Marie-Luise Modersohn mit einer Zugabe – einem der fünf Stücke für Oboe solo von Benjamin Britten (1913-1976) nach Metamorphosen von Ovid, nämlich „Pan“ – „belohnte“.  Und es war wirklich etwas Neues im Klang der Streicher, wie deutlich wurde.
Nach der Pause dann die vierte Symphonie von Ludwig van Beethoven, die Schumann ja einmal „eine griechisch schlanke Maid zwischen zwei Nordlandriesen“ genannt hat.
Aber was die „Wilde Gungl“ und Michele Carulli da zu Gehör brachten, war alles andere als ein Zwischenspiel zwischen der Dritten (Eroica) und der Fünften (Schicksalssymphonie). Schon der Beginn des ersten Satzes – geteilt in ein einleitendes Adagio und ein heftiges Allegro vivace – machte klar, dass hier Beethoven und nicht etwa ein anderer Symphoniker zu hören war. Diese Energie, diese unmittelbaren Abbrüche und Aufschwünge, diese Übergänge vom Energischsten zum fast unbewegt Ruhevollen, seine ausgefeilte Melodik und die das ganze Orchester souverän einsetzende Instrumentation und Harmonik, das ist stets aufs Neue bewegend und erhebend.  Der zweite Satz schwelgt natürlich in himmlischen Gefilden, was mich immer wieder davon überzeugt, dass Beethoven eben doch einer der größten Melodiker war und ist.
Die rhythmischen Vertracktheiten des dritten Satzes sind für ein klassisches Scherzo noch immer verwirrend und Rätsel aufgebend: Ist es nun ein Menuett oder eben doch ein „Zwiefacher“? Jedenfalls entfesselte der Dirigent mit all seinem Temperament und seiner Energie das gesamte Potential an Klang und Rhythmus in diesem Satz.
Konnte noch mehr kommen? Ja, es kam ein Finale von überschäumendem Temperament, wie es im Programmheft hieß. Und das kam dann auch, Michele Carulli verdeutlichte mit all seinem Einsatz, welch eine ungeheure Energie diese Beethoven’sche Musik in sich birgt und wie man sie – das Orchester „Wilde Gungl“  und sein Dirigent  – beschwört und erlebbar macht.
Riesengroßer Beifall, Bravo-Rufe, die eine Zugabe nach sich zogen, nämlich nochmal die Reprise des vierten Satzes, mit einer kurzen Unterbrechung, in der Michele Carulli auf die Bedeutung der Beethoven’schen Musik hinwies und sich sehr eindrucksvoll bei „seinem“ Orchester bedankte. Wenn das so weiter geht, wächst da ein nächstes – nicht mehr zu überhörendes und übersehendes – großes Orchester in der Münchner Musik-Landschaft heran, und das kann dieser Stadt und ihren Zeitungen ja nur gut tun.

[Ulrich Hermann, März 2016]

Klassik und Klassizistik im Prinzregententheater

Am Abend des 21. Februar 2016 spielt Jan Lisiecki im Münchner Prinzregententheater zusammen mit dem Zürcher Kammerorchester unter Leitung seines Konzertmeisters Willi Zimmermann die Klavierkonzerte Nr. 20 d-Moll KV 466 und Nr. 21 C-Dur KV 467 von Wolfgang Amadeus Mozart. Außerdem gibt das Orchester Mozarts Marsch D-Dur KV 249 sowie die fünfte Symphonie B-Dur D 485 von Franz Schubert. Der Veranstalter ist MünchenMusik.

Diese beiden Werke sind untrennbar miteinander verbunden, trotz ihres extrem divergierenden Charakters: Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierkonzerte Nr. 20 d-Moll KV 466 und Nr. 21 C-Dur KV 467. Die zwei Konzerte wurden 1785 innerhalb weniger Wochen hintereinander komponiert und werden bis heute auf etlichen Aufnahmen kombiniert, so auch auf dem Debütalbum des damals 17-jährigen Jan Lisiecki, der heute kurz vor seinem 21. Geburtstag steht. Das C-Dur-Konzert funkelt in strahlender Ausgelassenheit, einem strukturell komplexen Kopfsatz folgen zwei durchweg inspirierte und stringente Sätze, von denen vor allem der Mittelsatz große Beliebtheit erlangt hat. Ganz anders das düstere und unheilverkündende d-Moll-Konzert, das jeden Ausbruch ins Dur sofort wieder in den Abgrund zu reißen vermag: sogar das liebliche Romanzenthema des Mittelsatzes bricht im Mittelteil ein und bäumt sich mit aller Gewalt in donnerndem Moll auf. Neben diesen beiden unvergänglichen Werken Mozarts kann das Orchester sich mit Schuberts Symphonie Nr. 5 präsentieren, die häufig als erste klassizistische Symphonie der Musikgeschichte beschrieben wird. Tatsächlich besinnt sie sich auf überlieferte, Mozart‘sche und Haydn‘sche Ideale, ist die kürzeste und ohne Pauken, Klarinetten und Trompeten am sparsamsten besetzte Symphonie Schuberts. Dessen ungeachtet enthüllt auch sie eine ganz eigene und unverwechselbare Tonsprache im klassischen Korsett und geht furchtlos eigene Wege, modulatorisch und hinsichtlich der Themenentwicklung. Diese Symphonie hat eine freundliche und beschwingte Grundattitüde und brilliert durch eine von Schubert eher ungewohnte uneingeschränkte Leichtigkeit und Heiterkeit, einmal ohne den für ihn so bezeichnenden doppelten Boden.

Es ist durchaus erstaunlich, mit wie viel Liebe zum Detail Jan Lisiecki an die beiden ausgereiften Klavierkonzerte von Wolfgang Amadeus Mozart geht. In einem Alter, in dem heute die meisten Pianisten lediglich auf schnelle Finger und automatisierte Perfektion achten (was – welch ein Teufelskreis! – vom Publikum peinlicherweise meist auch noch durch besonders laute Bravo-Rufe und noch tosenderen Applaus honoriert wird), nimmt Lisiecki die Musik selbst unter die Lupe. In größter Detailverliebtheit gestaltet er jede Phrase und jede Stimme farbenreich aus. Beim C-Dur-Konzert mag es dadurch noch teilweise etwas steril und gewollt wirken sowie der Bezug zum großen Ganzen etwas fragmentarisch erscheinen, doch im d-moll-Konzert geht dies voll auf. Hier beweist er ein unerschütterliches Verständnis für die Musik, was auch beim Konzert in C-Dur schon durchaus ersichtlich wurde, und kann die Zerrissenheit und Untergründigkeit der Musik dem Hörer sinnhaft vermitteln. In beiden Konzerten glänzt sein Spiel durch klare und schlichte Tongebung mit technischer Brillanz und wohldosiertem Pedaleinsatz. Die Ausfeilung der Melodieführung bringt mit sich, dass Lisiecki auch die Gesetze von Spannung und Entspannung erfühlt und die Linien dynamisch aus den ihnen innewohnenden Kräften entstehen lässt.

Ein klein wenig geschmälert wird die furiose Wirkung der Konzerte bedauerlicherweise durch die Zugabe, die Träumerei aus Robert Schumanns Kinderszenen. Zwar formt Lisiecki auch hier die Melodie plastisch aus und bringt sie durch eine außergewöhnliche Abmischung der einzelnen Stimmen zum Strahlen, doch läuft ihm die hochromantische Musik strukturell vollkommen aus dem Ruder. Er „verträumt“ sich in der Träumerei, lässt das Tempo vollständig auseinanderfallen und somit den Hörer ohne jeden Sinn für Zusammenhang oder zentrale Aussage des Stückes zurück. Mit einem weiteren Stück von Mozart oder einem seiner Zeitgenossen hätte sich Jan Lisiecki einen größeren Gefallen getan – oder mit einem weiteren Satz eines anderen Klavierkonzerts von Mozart oder auch Haydn, wo außerdem das ausgezeichnete Orchester sich noch einmal hätte beteiligen können. Trotzdem wird anhand von Mozart deutlich, welch herausragender Musiker Jan Lisiecki bereits jetzt ist – einer, der früh schon einen guten Zugang zur Musik hatte und der einzelnen Tönen und deren Verbindungen spürend nachforscht anstatt sich auf zirkushafte Fingerfertigkeit zu verlassen – ein gehaltvoller Weg, den weiter zu beschreiten wahrlich lohnt, und der zweifellos von großem Erfolg gekrönt sein wird!

Das Zürcher Kammerorchester unter Willi Zimmermann, der nebenbei noch als Konzertmeister die ersten Violinen anführt, zeigt sich von seiner besten Seite. In der kleinen Besetzung begeistert das Ensemble durch seinen enormen Farben- und Artikulationsreichtum, durch Durchhörbarkeit und spürbare feinsinnige Abstimmung. Es ist offenkundig, wie wach sich die Musiker gegenseitig zuhören und ihren eigenen Klang in das Gewebe einpassen können. Das intime Gefühl, das durch die Nähe des Publikums zur Bühne ohne einschüchternde Erhebung oder großen Abstand im Münchner Prinzregententheater entsteht, kommt dem Kammerorchester zusätzlich zu Gute, in Kombination mit seinem warmen und frischen Klang wirkt alles sehr vertraut, gar heimisch. Die Begleitung der beiden Klavierkonzerte gerät hinreißend (abgesehen von der kurzen Panne, als die Musiker nicht genau zu wissen scheinen, wann denn die Kadenz im Kopfsatz des KV 466 nun endet und wann folglich ihr Einsatz folgt – was aber angesichts der doch recht eigenwillig gewählten Kadenzen in diesem Konzert im Gegensatz zu den angenehmen und sich gut einpassenden Kadenzen in KV 467 nicht allzu sehr zu verwundern vermag) und auch der eher unbekannte Marsch zu Beginn des Konzerts ist bereits ein musikalisches Erlebnis. Doch am meisten können die Musiker des Zürcher Kammerorchesters mit der fünften Symphonie von Franz Schubert verzaubern, die eine besonders schillernde Lebendigkeit erhält und stets atmend pulsiert. Zu keiner Zeit entstehen lähmende Längen und die Zeit verfliegt wie im Flug. Eine höchst bemerkenswerte Leistung dieses renommierten Schweizer Ensembles.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Eine hohe Inspiration

Inspired by MOZART

Julius Berger, Violoncello
Margarita Höhenrieder, Klavier

Nimbus Alliance NI 6319
0 710357 631924

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Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Zwölf Variationen über das Thema „Ein Mädchen oder Weibchen“ aus Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ op. 66 (1798)
Ludwig van Beethoven
Sieben Variationen über das Thema „Bei Männern, welche Liebe fühlen“ aus Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ Kinsky-Halm WoO 46 (1801)
Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
„Anfang eines Adagios“ für Violoncello und Klavier nach dem Fragment KV 480a (1790)
Franz Xaver Mozart (1791-1844)
„Grande Sonate für Klavier und Violoncello (oder Violine) E-Dur, op. 19 Nottelmann WV VI: 13 (1814)
(Amadame Josephine de Baroni, geborene Comtesse Castiglioni gewidmet)
Ludwig van Beethoven
Sonate für Klavier und Violoncello A-Dur, op. 69 (1809)
(dem Freiherrn Ignaz von Gleichenstein gewidmet)

Wenn eine exzellente Pianistin und ein hervorragender Cellist eine CD mit ausgezeichneter Musik aufnehmen, kann eigentlich nur etwas Außergewöhnliches draus werden, oder? Wenn dazu noch ein hochqualifizierter Tonmeister zur Verfügung steht,  kann sich das Ergebnis sowohl vom Musikalischen als auch vom Tontechnischen her hören und sehen lassen, wie die vorliegende CD zeigt. So ein direkt aufgenommener Flügel und ein wohlklingendes Violoncello sind selten in der weitgehenden Balance, kein Wunder, dass die Musik wie im echten Raum zu entstehen scheint. Natürlich sind das – bis auf eine Ausnahme – keine Novitäten, die man da zu hören bekommt, aber das Wie ist es eben, das den Unterschied macht. Auch wenn ich mir an einigen wenigen Stellen das Klavier zugunsten des Cellos etwas weniger im Vordergrund gewünscht hätte, so höre ich doch die beiderseitige Lust am Spiel und an der Gemeinsamkeit des Musizierens. Mit aller Energie und Spielfreude wird hier gespielt. Und die Sonate von Mozarts Sohn Franz Xaver ist eine echte Entdeckung, die seine quälenden Selbstzweifel im Nachhinein Lügen straft, ein absolut gelungenes Werk, dessen drei Sätze durchaus beeindrucken. Besonders das Andante espressivo lässt an musikalischer Tiefe und melodischem Reichtum nichts zu wünschen übrig.
Die Beethoven’sche Sonate op. 69 ist zum Abschluss natürlich das Stück, um die Möglichkeiten dieser Instrumental-Kombination, die ja auch heute mit den verschiedensten Musiker-Persönlichkeiten gut im Konzert vertreten ist, besonders eindrucksvoll zur Geltung zu bringen. So bleibt nur zu wünschen, die beiden Musiker nicht nur auf CD, sondern als Steigerung live im Konzert zu hören.

[Ulrich Hermann, Januar 2016]

Interview Beth Levin 2015

Die neueste CD der amerikanischen Konzertpianistin Beth Levin mit dem Titel „Inward Voice“ und Musik von Robert Schumann, Anders Eliasson und Franz Schubert wird ab 8. Januar auch in Amerika erhältlich sein. Für „The New Listener“ spreche ich mit ihr über sie, die einzigartige Art ihres Klavierspiels und ihre Neuerscheinung.

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[Zum englischsprachien Original]

[Oliver Fraenzke:]
Zunächst würde ich gerne etwas über Ihre Grundlagen sprechen sowie über Ihre Einflüsse. Ihre Art des Klavierspiels ist nicht die übliche, wie wir sie meist zu hören bekommen, Sie entwickelten einen komplett einzigartigen Stil, der eher mit den großen Meistern der frühen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergleichbar ist als mit zeitgenössischen Pianisten. Was waren Ihre wichtigsten Lehrer und sonstige musikalische Einflüsse für Ihren Stil? Und wie beziehungsweise warum kamen Sie zu dem Entschluss, etwas Neues auszuprobieren, anstatt lediglich wohlbekannte und vor allem erfolgreiche Gewohnheiten des Spiels zu kopieren?

[Beth Levin:]
Ich habe das Gefühl, meine eigene Stimme am Klavier zu haben und wenn das so unverwechselbar ist, bin ich froh darum, aber ich habe mich nicht darum bemüht, anders zu sein.

Meine Lehrer Marian Filar, Rudolf Serkin und Leonard Shure und deren Klangpalette, mit der ich aufgewachsen bin, hatten natürlich einen Einfluss auf mein Spiel. Aber noch einmal, jede/r von uns hat seine/ihre eigene Stimme auf dem Instrument. Ob gut oder schlecht, wir können es nicht ändern. Ich denke, wir versuchen alle, den Anforderungen der Musik gerecht zu werden und wir nutzen dazu alles, was wir haben – Ohr, Technik, Kenntnis, Erfahrung.

Das heißt, wir sind nicht in der Lage, unseren naturgegebenen Klang zu verändern, der jedem unveränderlich gegeben ist. Aber wenn nicht daran, woran dann können wir arbeiten, um unser Spiel zu verbessern?

Also ich bin der Ansicht, dass Begierde eine große Rolle in der Entwicklung unserer Technik und Kunstfertigkeit am Klavier spielt. Je mehr wir von und für die Musik wollen, desto mehr werden wir daran wachsen.

Sei nie zu sehr zufrieden. Bemühe dich, zu erreichen, was du dir in der Musik ausmalst und erhoffst in Begriffen wie Klang, Struktur, Phrasierung, Gefühl, Farbe – und du wirst, denke ich, als Künstler daran reifen.

Leonard Shure hörte in seinen Stunden eine oder zwei Phrasen der Musik und fragte: „Warum?“. Das war oft befremdlich für den Studenten. Er erklärte niemals – du musstest selber Gründe für jede einzelne Phrase der Musik finden.

Auch glaube ich, dass Hören sehr wichtig ist – höre Sänger, Streicher und natürlich Pianisten, besonders die alten Aufnahmen. Eine einzelne Phrase einer Maria Callas kann komplett richtungsändernd für dein eigenes Spiel sein. Und lass dich von allem beeinflussen – Natur, Kunst, Literatur … Lege all dies in das Instrument.

Es ist sehr interessant, dass Sie die Meinung teilen, alte Schallplattenaufnahmen seien wichtiger als heutige Einspielungen, denn für mich wirkt Ihr persönlicher Klang auch wesentlich eher wie aus jener Zeit. Warum beeindrucken Sie die alten Aufnahmen am meisten? Was machten frühere Pianisten „besser“ als heutige Musiker?

Es mag ein Mangel an mir selbst sein, aber diese alten Aufnahmen ziehen mich sehr stark an. Für mich ist die Darbietung meist wesentlich freier im Ganzen, mit tiefem Gefühl, und auch übermitteln sie das Gefühl, dass die Werke als Ganzes aufgenommen wurden anstatt zusammengestückelt worden zu sein.

Sicherlich haben wir auch jetzt brillante Musiker, aber der Druck der Perfektion dominiert manchmal die Kunstfertigkeit.

Ist das der Grund – „Kunst“ zu machen anstelle von kopfloser „Perfektion“ – warum Sie so lange gezögert haben, internationale Konzerte und Ruhm zu erlangen? Oder ist der Grund dafür eher die Angst, neben all den weltweiten Konzertverpflichtungen kein Leben mehr für sich selbst zu haben?

Ich weiß nicht … Lassen Sie mich etwas länger darüber nachdenken …

Vielleicht bin ich einfach schon glücklich, wenn ich ein bevorstehendes Konzert oder irgendein Musikprojekt habe, auch wenn es um die Ecke stattfindet. Wissen Sie, was ich meine? Ich suche keinen internationalen Ruhm, aber bin allerdings auch beflügelt von der Aufmerksamkeit, die ich derzeit erhalte.

Ich habe das Gefühl, ein großartiges musikalisches Leben zu haben, auch wenn es in einer kleineren Dimension stattfindet. Außerdem wollte ich unbedingt Kinder und errichtete mir ein Leben, das sowohl erlaubt, in der Musik zu sein, als auch Mutter zu sein. Ich glaube, das könnte mein Musikleben ein wenig in den Grenzen gehalten haben.

Sie nannten bereits drei Namen Ihrer wichtigsten Lehrer. Ist es möglich, den Fokus einmal darauf zu legen, was Sie von diesen gelernt haben, was sie so bedeutungsvoll für Ihre Art des Spielens macht? Vielleicht können Sie etwas über sie sagen, wer sie waren und warum Sie ausgerechnet sie ausgewählt haben.

Marian Filar war seinen Studenten gegenüber wie ein Vater und ermöglichte es uns, aufzublühen. Er war so ein feinfühliger Künstler, und wenn er spielte, hatte er eine hinreißende Gesangslinie und eine besondere Finesse. Seinem Spiel zuzuhören war eine Ausbildung. Er und ich hatten denselben Geburtstag!

Er betonte Intonierung, Stil, Fingersatz und er pflegte die tiefste Musikalität in einem. Als ich am Curtis Institut vorspielte, war ich von Filar brillant vorbereitet gewesen. Außerdem führte ich mit dem Philadelphia Orchester zwei Beethovenkonzerte unter seiner Leitung auf.

Meine Zeit mit Rudolf Serkin war wie eine Art musikalische „Pubertät“, denn ich entdeckte neues Repertoire und Kammermusik. Ich veränderte mich als junge Künstlerin und war nicht einmal sicher, was ich gerade tat. Meine Technik war vollkommen natürlich, aber jetzt analysierte ich sie und wollte mehr von ihr, um einem größeren, anspruchsvolleren Repertoire zu entsprechen. Er war ein großer Inspirator am Curtis Institute und in Music from Marlboro.

Ich hörte bereits von Freunden vom brillanten Musiker Leonard Shure und wusste, dass er in Boston lehrte. Ich klopfte buchstäblich an seine Tür und bat ihn, für ihn spielen zu dürfen. Er akzeptierte und nahm mich als Studentin an. Er hatte eine ästhetische Nähe zu Serkin, aber war noch fordernder. Ich wusste von einigen, die in den Stunden niemals über vier Takte hinauskamen. Für mich war die Struktur, welche er in seinen Darbietungen errichtete, unvergesslich und eine große Lektion für uns, als wir Werke von Beethoven, Schubert, Schumann und anderen studierten. Außerdem war er ein großartiger Kammermusikcoach.

Dorothy Taubman lebte in meiner Nachbarschaft in Park Slope, Brooklyn, und ich wurde ihre Studentin, nachdem ich nach New York gezogen bin. Damals waren meine Kinder sehr jung. Sie war ein Guru mit einer Technik, zu welcher wir unsere glaube ich alle ausweiten und wachsen lassen wollen. Sie konnte ihren Studenten ein tolles Gefühl von Freiheit, Abenteuer und Neugier einflößen.

Es scheint, als hätten Sie großartige Lehrer für Ihren persönlichen Weg hin zur Musik gefunden. Ihren Ausführungen zufolge wirkt es, als hätten Sie die Möglichkeit bekommen, sowohl in Kontakt mit etabliertem Repertoire als auch mit komplett neuen und unbekannten Stücken zu kommen. Auf Ihrem neuen Album, Inward Voice, hören wir einen dieser (noch) unbekannten Komponisten, den schwedischen Meister Anders Eliasson. Wo und wann hörten Sie erstmals von ihm, war es mit Rudolf Serkin?

Der Dirigent Christoph Schlüren führte mich an Eliasson heran – ich kannte seine Musik vorher nicht. Mittlerweile habe ich zwei seiner Klavierwerke eingespielt und hoffe, ein drittes nächstes Jahr folgen zu lassen.

Mich zieht der spirituelle Aspekte dieser Musik an, die rhythmische Vitalität, die expressiven Ideen, und ihre hintergründige Qualität.

Warum war es ausgerechnet Anders Eliasson, der Sie so begeistern konnte? Was macht ihn so besonders und einzigartig?

Es bereitet mir große Freude, neue Komponisten zu entdecken, und Eliasson ist beides: sowohl einfach als auch schwierig zu verstehen. Diese Herausforderung ist die eine Sache, warum mich seine Musik anzieht. Mir gefällt es, dass seine Sprache so modern ist und trotzdem in den westlichen Musiktraditionen wurzelt, was es dem Spieler ermöglicht, sich heimisch zu fühlen, obwohl die Musik ungewohnt ist. Ich habe eine Zeit lang gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass ich ausdrucksstark sein kann, eine lange Linie machen kann und mir meine Zeit in den Noten nehmen kann. Eigentlich bin ich noch immer auf der Reise mit Eliasson, wenn ich an seinem Disegno 3 arbeite. Ich habe großen Respekt vor seinem symphonischen Werk und hoffe sehr, mehr von seinem Schaffen zu hören. Heute arbeite ich an seiner Musik und spüre dabei eine unausweichliche, organische, omnipräsente Qualität.

In Amerika sind Sie vor allem dafür bekannt, zeitgenössische Musik aufzuführen. Sind Sie der Ansicht, es ist alles in allem einfacher, mit dem Spiel von moderner Musik bekannt zu werden (in einem entsprechenden, speziellen Kreis)? Und welche Art der neuen Klangkunst bevorzugen Sie am meisten?

Ich habe das große Glück, viele ausgezeichnete Komponistenfreunde zu haben, deren Musik ich gerne aufführe. Es hat etwas tolles, ein neues Werk in der Post zu erhalten, bei welchem die Tinte kaum trocken ist. Und die Möglichkeit zu haben, das Werk mit dem Komponisten zu erarbeiten und die Musik von erster Hand zu diskutieren.

Erfolg ist nichts, was man vorhersagen kann oder was zu entschlüsseln wäre. Man sollte einfach nach den besten Absichten arbeiten, immer mit den reinsten Impulsen, und einige Aufmerksamkeit kann daraus folgen. Oder auch nicht. Wenn es die Musik des 21. Jahrhunderts ist, was du am meisten liebst, dann solltest du diesem Pfad folgen. Ich würde nicht sagen, dass es unbedingt Ruhm mit sich bringt.

Ich glaube, ich spiele das, was ich am besten spiele – aber experimentiere manchmal mit dem Unbekannten und sehe dann, wohin es führt.

Neben Ihrer Ausrichtung zu zeitgenössischen Komponisten wie Scott Wheeler, Andrew Rudin, Yehudi Wyner, David Del Tredici, Mohammed Fairouz oder dem bereits genannten Anders Eliasson haben Sie auch eine Leidenschaft für einige etablierte Meister, vor allem Komponisten des frühen 19. Jahrhunderts wie Ludwig van Beethoven, Franz Schubert oder Robert Schumann. Warum ist es ausgerechnet diese Epoche, die Sie so sehr gefangen nimmt?

Ich habe ebenso auch viel russisches und französisches Repertoire, aber habe es nicht aufgenommen.

Aber manchmal denke ich, ich tue am besten daran, wenn es eine großartige Struktur und Disziplin in der Musik gibt wie bei Schubert, Beethoven, Brahms und Schumann. Ich mag es, wenn persönliche Gefühle in einem strengen Rahmen funktionieren. Das Ergebnis kann ergreifend und mächtig sein. Meine Lehrer, vor allem die großen Künstler Serkin und Shure, lebten in diesem Repertoire und konnten ein Gespür für diese spezielle Epoche übertragen.

Haben Sie denn vor, auch einmal russische oder französische Musik aufzunehmen?

Hauptsächlich haben Sie außergewöhnlich lange Werke eingespielt wie Bachs Goldberg-Variationen, oder Beethovens Diabelli-Variationen ebenso wie seine letzten drei umfangreichen Sonaten. Bedeuten diese Werke ein besonderes Wagnis der Form für Sie, das Sie inspiriert und anzieht?

Ja – ich hoffe, mehr und mehr einzuspielen und französisches und russisches Repertoire einzubeziehen.

Ich glaube, ich bin unbewusst der Art der Programme meiner Lehrer gefolgt, die immer lange Werke eingeschlossen haben. – Ich mag die „Mount Everest“-Werke als Herausforderung und das allumfassende Gefühl, das man von Werken wie den Goldberg- oder Diabelli-Variationen empfängt.

Gibt es einen bevorzugten „Mount Everest“ für Sie?

Ich wage weiterhin, Beethovens Op. 106 zu studieren, die Hammerklavier-Sonate. Aber manchmal muss man einfach glücklich sein, dass andere es so gut gemacht haben und es loslassen.

Das Konzert in B-Dur von Brahms ist ein anderer „Mount Everest“ für mich – ich würde es unglaublich gerne eines Tages aufführen.

Ich halte auch einige unentdeckte neue Musik für einen Mount Everest. Ich hoffe, es wird einige bisher ungeschriebene Werke geben, die in der Zukunft auf mich warten.

Schlussendlich, nichts ist einfach. Sagen wir, eine Mozart-Fantasie – die Einfachheit und Ehrlichkeit zu erreichen, ist eine andere Art von Everest.

Das ist ein Schlüsselsatz, jedes kleine Stück Musik kann ein Mount Everest sein. Wenn es mir erlaubt ist zu fragen, was ist für Sie der härteste Gipfel, den es zu erreichen gibt, für welche Art der Technik oder des musikalischen Anspruchs haben Sie am meisten zu üben?

Generell gesprochen strebe ich nach einem musikalischen Ziel in jeder gegebenen Phrase und wenn die Technik nicht hinreicht, worauf ich aus bin, suche ich wirklich nach Lösungen. Ich denke nicht viel an Technik – das kann ein Makel sein. Ich weiß es nicht. Ich verlange nach Dingen in der Musik und strebe nach einem technischen Weg, diese zu erreichen. Niemals anders herum.

Technik ist in Wahrheit unser Diener, aber ohne sie können wir nicht viel tun. Ich bewundere Technik bei anderen Spielern, aber niemals mehr als das Erreichen eines musikalischen Ziels. Lieber höre ich falsche Noten, wenn jemand offensichtlich nach etwas Göttlichem strebt.

Das ist natürlich eine gute Position. Könnten Sie mir bitte ein Beispiel dazu geben: Also wenn Sie an Beethovens Sonate Op. 111 arbeiten, was macht es so schwierig und so besonders? Was wäre denn Ihr musikalisches Ziel beim Spielen der Sonate?

In Op. 111 von Beethoven beispielsweise ist die Musik mehr ein Entwurf. Du musst darauf hinarbeiten, die Gesamtheit der Noten zu erreichen oder seine Ansprüche zu treffen. Schaue hinter die Noten (nimm die vollen Hände im Finalsatz) hin zu Farbe, Bewegung und Struktur, die die Noten erzeugen.

In einem Werk wie Op. 111 reist Beethoven an einen besonderen Ort und der Pianist muss ebenfalls die Reise auf sich nehmen.

Es ist eine große Herausforderung und eine Freude.

Ich bin der Überzeugung, in Werken wie Op. 111 führt die Aufführung selber zu neuen Ideen und öffnet neue Türen zum Klang …

Heute dachte ich, eigentlich nichts Bestimmtes betreffend, was für eine wichtige Idee die Eloquenz doch in der Musik ist. Sehr wie beim Schauspiel – wenn du einem großartigen Schauspieler zuschaust, wie eloquent er oder sie eine Seite umblättert, aufsteht oder seine/ihre Stimme und Mimik benutzt. Und wie er/sie etwas abbildet.

Auch in der Musik müssen wir etwas abbilden – nimm die Noten und Phrasen und sage etwas. Ich erinnere mich, wie ich die Appassionata von Beethoven als junge Person gespielt habe und mich ihr so nahe fühlte – ich wusste, ich konnte sie abbilden, weil ich diese Gefühle in mir hatte. Wir müssen ein großes Repertoire an Emotionen haben, denke ich, um ein Stück Musik abzubilden.

Wie auch immer, wie wir eine Musikphrase spielen, ist wichtig – wie eloquent wir sie aussagen.

Gerade sprachen wir über eine technisch wirklich schwierige Sonate von Beethoven, aber was ist mit einem technisch wesentlich einfacheren Werk von Mozart? Schlagen Sie den selben Weg ein, solch ein Stück zu lernen, oder ändert das etwas – oder alles?

Ich glaube nicht, dass es einen Unterschied gibt – Du hältst danach Ausschau, was die Musik macht, nach Richtung, Gefühlskontext, Struktur. Einfaches führt einen üblicherweise in die Irre, ist trügerisch einfach.

Das letzte Stück auf „Inward Voice“ ist Franz Schuberts Sonate Nr. 19 in c-moll D 958. Es ist eine der drei letzten großen Sonaten des früh verstorbenen Komponisten, die eine Art Zyklus bilden, obwohl jede Sonate für sich schon sehr lange ist. Warum haben Sie diese Sonate aus der Dreiergruppierung ausgewählt? Und würden Sie dem zustimmen, dass die Sonaten eine besondere Verbindung untereinander und eine bezwingende zyklische Form aufweisen? Oft kann man lesen, der letzte Satz von D 958 sei viel zu lang, eine zehnminütige Hetzjagd ohne Sinn, die den Hörer verwirrt über das Geschehen zurücklässt – würden Sie dieser Anschuldigung zustimmen? Was sehen Sie hinter dieser Hatz und was ist Ihre Aussage?

Ich arbeite derzeit an D 959 – vielleicht werde ich die Erfahrung machen, alle drei zu spielen und die Verbindung klar zu sehen. Wie Sie wissen, habe ich die drei letzten Beethovensonaten aufgenommen und dies wäre für mich ein perfekter nächster Schritt, ein perfektes Gegenstück.

Der Einfluss Beethovens scheint stark – bis hin zur Tonart c-Moll. Vielleicht beeinflusste der Tod Beethovens Schubert tief und öffnete ihm den Weg, diese drei Sonaten so zu schreiben, wie er es tat. Ich denke, hier ist der meiste Kontrast – hell und dunkel – und der letzte Satz geht im Galopp. Die richtige Tempowahl könnte den Schlüssel darstellen, Erfolg in dieser Tarantella zu haben. Ich stimme nicht zu, dass er zu lang sei.

Schubert starb vier Monate nach der Fertigstellung dieser letzten drei Sonaten – eine Dunkelheit durchdringt D 959, also vielleicht wusste er, dass er nicht mehr lange auf dieser Erde hatte.

Neben Schubert und Eliasson gibt es ein drittes Werk auf „Inward Voice“, Robert Schumanns zyklische „Kreisleriana. Fantasien Op. 16“. Mit diesem machten Sie etwas, was wirklich besonders und ungewöhnlich ist: Sie nahmen den ganzen Zyklus in einem langen Take auf, anstatt ihn in die einzelnen Sätze aufzuteilen. Was war der Grund dafür?

Ich glaube, wenn du beginnst, die Kreisleriana zu studieren, fühlst du, dass bestimmte Stücke zusammengehören und dass das Timing zwischen den Sätzen ausschlaggebend für die Aufführung ist. Als ich Kreisleriana live aufführte, war das Timing die Quintessenz und ich wollte versuchen, dies in der eingespielten Version zu behalten.

Vielen Dank für all Ihre Antworten, Frau Levin. Als letztes möchte ich noch fragen, was Sie gerne Künstlern von heute sagen möchten. Gibt es etwas, was Sie kritisieren wollen in unserem Musikleben, haben Sie Ratschläge für aufsteigende Künstler und für ihren Weg oder gibt es etwas, das Sie gerne einfach aussprechen möchtest?

Verliere niemals deinen Sinn für Besessenheit und Bescheidenheit. Ich bin der Ansicht, heutige junge Musiker suchen meist ausschließlich Ruhm und Geld und enden schnell darin, vom Geschäftsleben gefangen genommen zu werden. Als ich mit Shure und Serkin studiert habe, waren unsere Vorbilder anders. Wir gingen nach der Kunst und danach, großartige Musik zu machen, und weniger nach äußerlicher Belohnung. Sei immer ein guter Beobachter und Zuhörer. Befrage die Musik und nutze jeden Einfluss in Natur, Kunst und Leben, um als Musiker besser zu werden.

Die Musiker, die ich am meisten mag, sind die demütigsten. Ich meine, ich sah Rudolf Serkin ein Rezital geben und dann in einen Proberaum gehen, um an den Sachen zu arbeiten, von denen er fühlte, sie hätten besser gehen können. Stellen Sie sich das vor!

Vor allem am Klavier – entwickle dein Ohr! Hören ist fast alles, und auf etwas Hören ist gar noch besser – die Sehnsucht!

Interview und Übersetzung: Oliver Fraenzke
Alle Antworttexte: Beth Levin

Beth Levin: Inward Voice
Aldilà Records ARCD 005
EAN: 9 003643 980051
[zur Rezension der CD]

[The New Listener international:] Interview Beth Levin 2015

The CD „Inward Voice“ with music of Robert Schumann, Anders Eliasson and Franz Schubert of the American concert pianist Beth Levin will be published in America on the 8th of January. For „The New Listener“ I’m asking her about herself, the way of her unique style of playing and her new CD.

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[Oliver Fraenzke:]
First of all I would like to talk about your origin and your influences. Your way of playing the piano is not the usual way we hear mostly, you developed a completely unique style that is more comparable with great masters of the early second half of the 20th Century than with contemporary pianists. Who have been your most important teachers and what have been other significant musical impacts? And why did you come to the decision of trying something new instead of just copying the well-known and fashionable habits of playing?

[Beth Levin:]
I feel that I have my own voice at the piano and if it is distinctive I am glad, but I haven’t set out to be different.

Having Marian Filar, Rudolf Serkin and Leonard Shure as teachers and growing up with the sound-palette they created naturally impacted my own playing. But again, each of us has his/her own voice at the instrument. For better or worse we cannot change it.
I think we all try to meet the demands of the music, and we use everything we have – ear, technique, knowledge, experience – to fulfill it.

So we can’t change our natural given sound, that everybody has unalterably. But what is it than we can work on to improve our playing?

Well I think that desire plays a large role in developing our technique and artistry at the piano. The more we want for the music the more we will grow.

Don’t be too satisfied. Reach for what you imagine and hope for the music in terms of sound, structure, phrasing, emotion, color- and you will grow as an artist I think.

In lessons Leonard Shure would listen to a phrase or two of music and ask „why?“. This was often disconcerting to the student. He never explained – you had to come up with reasons for each phrase of music.

Also I think that listening is so important- listen to singers, to strings and of course pianists especially the vintage recordings. One phrase of a Maria Callas can be life changing for your own playing. And let everything affect you- nature, art, literature…put it all into the instrument.

It is very interesting that you share the opinion that vintage recordings are more important than contemporary recordings, because for me your personal sound is also much more as if it were from that time. Why is it the vintage recordings that impresses you most? What do earlier pianist play „better“ than today’s musicians?

It may be a flaw of my own, but I am very drawn to the old recordings. I find the performances much freer on the whole, deeply felt and also that they relay a sense that the works are being recorded as a whole rather than pieced together.

Of course we have brilliant musicians now but the pressure to be perfect sometimes overtakes the artistry.

Is this the reason – to do „artistry“ instead of mindless „perfection“ – why you hesitated so long to reach fame and become an international concert star? Or is it more the fear of not having any life left beneath giving concerts all over the world?

I don’t know….let me think about this more…

Maybe I’m just happy when I have a concert coming up or any musical project, even if it’s happening around the corner. You know? I didn’t seek international fame, but I’m certainly thrilled at some of the attention I’m currently receiving.

I feel I have a great musical life, even if it is on a smaller scale. Also I wanted children very much and fashioned a life that would allow me to be in music and be a mother. I think that might have kept my musical life in check a bit.

You already mentioned three names of your most important teachers. Is it possible to focus the most important things you learned from them, what made them so significant for your own way of playing? Maybe you can say something about them, who they were and why you chose exactly them.

Marian Filar was like a father to his students and really allowed us to blossom. He was such a sensitive artist and when he played he had a gorgeous singing line and a special refinement. Listening to him play was an education. He and I shared the same birthday!

He stressed voicing, style, fingering and he fostered one’s deepest musicality. When I auditioned at Curtis Institute I had been brilliantly prepared by Filar. Also I performed two Beethoven concerti with the Philadelphia Orchestra under his guidance.

My time with Rudolf Serkin was almost a kind of musical adolescence because I was discovering new repertoire and chamber music. I was changing as a young artist and was not at all sure of what I was doing. My technique had been totally natural but now I was analyzing it and wanting more from it to match the larger, more demanding repertoire. He was a great inspiration at Curtis and at Music from Marlboro.

I had heard about the brilliant musician Leonard Shure from friends and knew he was going to be teaching in Boston. I literally knocked on his door and asked to play for him. He agreed and took me on as a student. He had an aesthetic close to Serkin’s but was even more demanding. I know many people who never got beyond four bars of music in lessons. I think the structure he built in a performance was unforgettable and a great lesson to us as we studied works of Beethoven, Schubert, Schumann, et cetera. And he was a great chamber music coach.

Dorothy Taubman lived in my neighborhood in Park Slope, Brooklyn and I became her student after moving to New York. I had young children at that point. She was a guru with technique which I think we always want to see to widen and grow. She could instill a great sense of freedom, adventure and curiosity in her students.

It looks like you have chosen splendid teachers for your way towards the music. After your explanation it seems you had the possibility of getting in contact as well with standard repertoire as with completely new and unknown pieces. On your latest cd, Inward Voice, we can hear one of the (yet) unpopular composer, the swedish master Anders Eliasson. Where and when have you heard of him first, was it with Rudolf Serkin?

The conductor Christoph Schlüren introduced me to Eliasson- I hadn’t known his music before. Now I’ve recorded two of his works for piano and hope to record a third next year.
I’m drawn to the spiritual aspect of his music, the rhythmic vitality, expressive ideas and its enigmatic quality.

Why was it among all composers Anders Eliasson that could enthuse you so much? What is it that makes him so special and unique?

I enjoy discovering new composers and Eliassson is both easy and difficult to understand. So the challenge of it is one thing that attracts me to his music. I like that his language is modern and yet there are roots to the western musical traditions which enables a player to feel somehow grounded even when the music is not familiar. It took me a while to see that I could be expressive and make a long line and could take my time inside of the score. I’m actually still on that journey with Eliasson as I work on the Disegno 3. I’m awed by his symphonic work and little by little hope to hear more of his output. I am working on his music today I also feel an inevitable, organic quality always present.

In America you are especially known for performing contemporary music. Do you think, all in all it is easier to become famous (corresponding in a special circle) by playing modern music? And what kind of the new art of sound do you prefer most?

I’ve been fortunate to have many fine composer friends whose music I like to perform. There is something great about receiving a new work in the mail with the ink barely dry. And to be able to work with the composer and discuss the music first hand.

Fame isn’t something to really predict or to try to decipher. One should simply work from the best intentions, always from the purest impulses and some notice may follow. Or it may not.
If 21st-century music is something you love most then you should follow that path. I wouldn’t say it necessarily brings fame along with it.

I think I play what I play best- but sometimes experiment with the unknown and see where it leads.

Beneath your steering towards contemporary composers like Scott Wheeler, Andrew Rudin, Yehudi Wyner, David Del Tredici, Mohammed Fairouz or the already mentioned Anders Eliasson you also have a passion for some etablished masters, especially for composers of the early 19th century like Ludwig van Beethoven, Franz Schubert or Robert Schumann. Why is it this epoch that draws you so much into it?

I have played much Russian and French repertoire as well, but have not recorded it.

But I think sometimes I do best when there is a great deal of structure and discipline to the music as in Schubert, Beethoven, Brahms and Schumann. I like when one’s emotions can work inside of a strict framework. The result can be very poignant and powerful. My teachers, especially the great artists Serkin and Shure, lived inside that repertoire and could relay a sense of that particular epoch.

And are you going to record the Russian and French music one day?
Mainly you have recorded extraordinary large works such as Bach’s Goldberg Variations or Beethoven’s Diabelli Variations as well as his last three and extensive Sonatas. Do those works mean a special challenge of the form for you, that inspires and attracts you?

Yes- I hope to record more and more and include French and Russian repertoire.

I think I have unconsciously followed my teacher’s kind of programming that always included large works- I like the „Mt. Everest“ works for the challenge and the all-encompassing feeling one receives from working on say the Goldberg Variations or Diabelli Variations.

Is there one favourite „Mount Everest“ for you?

I keep daring myself to learn Op. 106, Hammerklavier, of Beethoven. But sometimes you just have to be happy that others have done it so well and perhaps let it go.

The B flat piano concerto of Brahms is another „Mt. Everest“ for me- I’d love to perform it some day.

I think of some of the unexplored modern music as Mt. Everests. I hope there will be as yet unwritten ones waiting for me in my future.

In the end, nothing is easy. A Mozart Fantasy, say- to reach its simplicity and honesty is another kind of Everest.

This is a very true sentence, that also a little piece of music can be a Mount Everest. If I’m allowed to ask, what is the hardest peak to reach for you, on what kind of technique or musical demand do you have to practice most?

Generally speaking I’m aiming for a musical goal in any given phrase and if the technique doesn’t achieve what I’m after I really search for solutions. I don’t think about technique very much- that may be a flaw. I don’t know. I desire things in the music and reach for a technical way to create them. Never the other way round.

Technique is truly our servant, but without it we can’t do much. I admire technique in other players, but never above reaching for a musical goal. I’d rather hear the wrong notes if someone is obviously aiming for something divine.

Could you please give me an example: So if you are working on Beethoven’s Sonata Op. 111, what makes this one so difficult and so special? What is your musical goal playing this sonata?

In Op. 111 of Beethoven for example the music is almost more of a blueprint. You have to aim to meet the fullness of score, or match its demands. See behind the notes (take the fistfuls in the final movement) to the color, motion, and structure that the notes create.

In a work such as Op. 111 Beethoven is traveling somewhere special and the pianist must take that journey.

It’s a great challenge and a joy.

I think in works such as Op. 111 the performance itself leads to new ideas and opens new doors to sound…

I was thinking today, apropos of nothing really, how eloquence is such an important idea in music. Much like acting- when you watch a great actor and see how eloquently he or she turns a page, or stands up or uses his/her voice and facial expressions. And how he/she portrays something.

In music too we have to portray the music- take the notes and phrases and say something. I remember playing the Appassionata sonata of Beethoven as a young person and feeling so close to it- I knew I could portray it well because I had those emotions in my being. We have to own a large repertoire of emotions I think to portray a piece of music.

Anyway, how we play a phrase of music is important-how eloquently we state it.

Now we have been talking a little bit about a technically really difficult sonata by Beethoven, but what about a technically more easy work by Mozart? Do you take the same way to learn such a piece or is there anything different – or everything?

I don’t think there is a difference- you’re looking to find out what the music is doing, its direction, emotional context, structure. Easy usually winds up being deceptively easy.

The last piece of „Inward Voice“ is Franz Schubert’s Sonata No. 19 in C minor D 958. It is the first of the great three last sonatas of this short-lived composer, they build like a cyclical entirety even though each of these sonatas is very long. Why have you chosen this sonata out of the three? And would you agree that these sonatas have a special connection and a compelling cyclical form? Often you can read that the last movement of D 958 is much too long, just a ten minutes hunt without purpose that leaves the listener irritated and confused about what just occured – would you agree with this allegation? What do you see behind this coursing and what’s its message?

I’m working on D 959 now- perhaps I’ll get to experience playing all three and see the connections clearly. As you know I recorded the final three piano sonatas of Beethoven and for me this was a perfect next step, a perfect foil.

The influence of Beethoven seems strong – even down to the key of C minor. Perhaps Beethoven’s death affected Schubert deeply and opened the way for him to write these last sonatas in the way he did. I think there is the most contrast here – light and dark- and the final movement does gallop. Picking the right tempo might be the clue to succeeding in the
Tarantella. I don’t agree that it is too long.

Schubert died four months after completing the last three piano sonatas – a darkness permeates D 959 so perhaps he knew that he was not long for this earth.

Apart from Schubert and Eliasson there is another great work on „Inward Voice“, Robert Schumanns cyclical „Kreisleriana. Fantasien Op. 16“. You made something with this that is really special and unusual: You recorded the whole cycle in one long take instead of splitting it up in its movements. What was the reason for this?

I think when you study Kreisleriana you begin to feel that certain pieces belong together and that the timing between movements is very crucial to the performance. When I performed Kreisleriana live the timing was at the essence of the thing and I wanted to try to keep that in the recorded version.

Last but not least I would like to ask what you want to say to today’s artists. Is there anything you’d like to criticize in our music life, are there any advices you want to give to upcoming artists on their way, or is there something else you just would like to say?

Never lose your sense of obsession or your humility. I think young musicians today seek only fame and fortune and get caught up too soon in the business end of things. When I studied with Shure and Serkin our role models were different. We went after the art of making great music and less the outward reward. Always be a great observer and a great listener. Question the music, and use every influence in nature, art and life to better yourself as a musician.

The people I like most in music are the humblest. I mean I used to watch Rudolf Serkin give a recital and then go into a practice room to work on things he felt could have gone better. Imagine!

Specifically at the piano – develop your ear. Listening is almost everything and listening for something is even better – the desire!

Beth Levin: Inward Voice
Aldilà Records ARCD 005
EAN: 9 003643 980051
[to the German review]

Meine „CD des Jahres“

Julia Lezhneva
Alleluja
Il Giardino Armonico / Giovanni Antonini

Antonio Vivaldi ( 1678-1741)   Georg Friedrich Händel (1685-1759)
Nicola Porpora (1686-1768)   Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)

Decca  478 5242
ISBN: 0 28947 85242

Ulrich0010

Alleluja (Lobet Jehovah) ist der Titel dieser CD, die für mich eigentlich so etwas wie eine „CD des Jahres“ ist, auch wenn sie schon 2013 erschien – jetzt erst landete sie als Geschenk auf meinem Gabentisch.

Um es gleich vorweg zu sagen: So berührend, ergreifend, frohmachend und herzerfüllend habe ich schon lange keine Sopranistin mehr singen – besser jubeln – gehört wie die junge, damals 23-jährige russische Sopranistin aus dem fernen Sachalin. Zusammen mit dem Ensemble „Il Giardino Armonico“ unter seinem  Leiter Giovanni Antonini gelingt hier eine ungeheuer musikalische Aufführung von vier Motetten, die jeweils mit einem „Alleluja“ enden. Als erstes eine tieftraurige, melancholisch-dramatische Komposition von Antonio Vivaldi, „In furore iustissimae irae“, ein eher wenig bekanntes Werk, das in der eindrucksvollen Kombination aus Schnelligkeit und Verhaltenheit – besonders im zweiten Satz – die ganze Bandbreite von Antonio Vivaldis Ausdrucksspektrum vorstellt. Es folgt die Motette „Saeviat tellus inter rigores“ von Georg Friedrich Händel: auch hier wieder eine gelungene Mixtur aus virtuosen und getragenen Passagen, bei der Julia Lezhneva alle Register ihrer meisterhaften Stimmführung und  -beherrschung zeigen kann, allerdings immer im Sinne der Frau Musica und nicht als Ego-Trip wie bei so vielen anderen Sängerinnen und Sängern.
Ihre Stimme ist auch in den bewegtesten Koloraturen leicht, sehr obertonreich, und dabei spürt man, dass sie eben keine Mädchenstimme hat, sondern trotz ihrer Jugend mit all ihrer Leiblichkeit und Körperlichkeit singt. Die hohen Töne kommen nicht als abgesetzte „Spitzentöne“, sondern im Zusammenhang der Bögen, zu denen diese entweder hinführen oder als deren Höhepunkt den Abfluss der Linie einleiten. Und all das „getoppt“ von einem Jubel-Laut im Singen, der besonders ans Herz rührt.

Obwohl ich ja sonst eine Lanze breche für die langsamen Tempi, die heute von den allermeisten Künstlern nicht adäquat erfasst werden – was sicher auch am vielen „Üben“ und am wenigen „Nachsinnen“ liegt – bin ich immer wieder überrascht, mit welchen Geschwindigkeiten das italienische Ensemble aufwartet. Und zwar nicht nur schnell, sondern dabei eben auch wunderbar phrasierend, allen Phänomenen gerecht werdend, und ebenso schnell vom Bewusstsein und vom Geist her. Mir fällt als positives Beispiel immer wieder auch der Jazz-Pianist Cecil Taylor ein, der eben nicht nur rasende Geschwindigkeit zaubert, sondern die nötigen geistigen Voraussetzungen für diese Tempi und die dann immer noch unerlässlichen und verständlichen Phrasierungen mitbringt.

Dann entstehen wie auf dieser CD Momente des Glücks und der Beschwingtheit, die süchtig machen können. Und zwar bei allen vier Stücken, von denen das von Nicola Porpora einen weniger bekannten, sehr melodiösen Komponisten vorstellt.
Dass die inzwischen berühmte Vivaldi-Aufnahme von Cecilia Bartoli bei der 11- oder12 jährigen Julia den speziellen „Kick“ auslöste, davon erzählt die junge Russin, aber eben auch von der Zusammenarbeit mit Giovanni Antonini, von der sie sicher umfassend profitierte.
Natürlich ist mit „Exsultate, iubilate“ von Mozart ein besonderes „Schmankerl“ an den Schluss dieser außergewöhnlichen Scheibe gesetzt, der auch ein mehrsprachiges Booklet mit allen Motetten-Texten beigefügt ist.

So küre ich mit Dank und Freude diese CD zu meiner „CD des Jahres 2015“ und bin gespannt darauf, was wir noch alles von Julia Lezhneva zu hören bekommen werden.

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]