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Gordon Sherwood zum 10. Todestag

Der Lebenslauf Gordon Sherwoods darf mit Fug und Recht als einer der ungewöhnlichsten gelten, die sich in der Musikgeschichte finden lassen. Frühzeitig preisgekrönt und mit einer Aufführung an exponiertester Stelle ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, anschließend in jahrelangen Aufbaustudien bei besten Lehrern ausgebildet, entschied sich der 1929 geborene US-Amerikaner schließlich gegen eine Laufbahn im etablierten Musikbetrieb und zog jahrzehntelang rastlos kreuz und quer über den Globus. Er sah über 30 Länder auf fünf Kontinenten und durchstreifte als Künstler die Musikkulturen der Welt ebenso wie das klassische Erbe der abendländischen Musik. Den Entbehrungen eines strapaziösen Wanderlebens zum Trotz schuf er, unablässig weiter komponierend, ein sich auf nahezu alle Gattungen der Instrumental- und Vokalmusik erstreckendes Gesamtwerk von bemerkenswerter stilistischer Vielfalt. Vor zehn Jahren, am 2. Mai 2013, endete dieses abenteuerliche Leben im oberbayerischen Peiting. Anlässlich seines Todestages sei hiermit ausführlich an Gordon Sherwood erinnert!

Gordon Holt Sherwood kam am 25. August 1929 in Evanston nahe Chicago zur Welt. Seine musikalische Begabung zeichnete sich früh ab, doch legten seine Eltern keinen Wert darauf. Stattdessen ließen sie ihn zwischen seinem zwölften und fünfzehnten Lebensjahr in Kadettenanstalten unterbringen. Der Drang des empfindsamen Jungen zur Musik wurde durch den militärischen Drill, den er über sich ergehen lassen musste, aber nur gesteigert. Nachdem er 1944 zum ersten Mal Beethovens Siebte Symphonie gehört hatte, stand für ihn fest, dass er Komponist werden würde. 1950 nahm er ein Musikstudium an der Western Michigan University in Kalamazoo auf, das er 1953 mit dem Bachelor of Music abschloss. Ab 1954 studierte er an der University of Michigan in Ann Arbor und erwarb dort 1956 den Master of Music. Bereits während seiner Studienzeit gewann er 1955 den 1. Preis beim nationalen Wettbewerb für junge Komponisten der National Federation of Music Clubs. Während seines Studiums erschloss sich Sherwood die Vielfalt der zeitgenössischen und historischen Kompositionsstile abendländischer Musik. Die stärkste Wirkung übte das Schaffen Johann Sebastian Bachs auf ihn aus, doch beschäftigte er sich intensiv auch mit allem anderen, was ihm an Musik begegnete, bis hin zu Bartók, Stravinsky, Schönberg und den Nachkriegsavantgardisten. Aus einer Prüfungsaufgabe heraus entstand seine Erste Symphonie op. 3, deren letzte beide Sätze er als „Introduction and Allegro“ 1957 zum 12th Gershwin Memorial Award einreichte. Sherwood erhielt den Preis, wobei die Stimme von Dimitri Mitropoulos den Ausschlag gab, der das Werk anschließend mit dem New York Philharmonic Orchestra in der Carnegie Hall uraufführte. Dies schien der Beginn einer vielversprechenden Karriere zu sein. Sherwood konnte sich in Tanglewood kurzzeitig bei Aaron Copland weiterbilden, und, mit Stipendien ausgestattet, den Sprung über den Atlantik wagen. Seine Studienaufenthalte an der Hamburger Musikhochschule bei Philipp Jarnach und in Rom an der Accademia Santa Cecila bei Goffredo Petrassi krönte er 1967 mit einem weiteren Kompositionspreis.

Den scheinbar folgerichtigen Schritt, sich mit diesen optimalen Voraussetzungen um eine feste Position im öffentlichen Musikleben zu bemühen, tat Sherwood jedoch nie. Anstatt in Europa oder Amerika eine abgesicherte Existenz, etwa als Kompositionsprofessor, zu führen, ging er gemeinsam mit seiner Ehefrau Ruth, einer Sängerin aus Hamburg, in den Nahen Osten. Zunächst zogen sie nach Kairo, wo Sherwood die Musik zu Fatin Abdel Wahabs Spielfilm Ard el Nifaq (Land der Heuchelei) komponierte. Von 1968 bis 1970 hielten sie sich in Beirut auf – damals, vor den Verheerungen des Libanesischen Bürgerkriegs, weithin als „Paris des Nahen Ostens“ gerühmt – und verdienten ihren Lebensunterhalt u. a. durch gemeinsame Auftritte in Hotels. Als Bar- und Kinopianist entdeckte Sherwood während dieser Zeit die Welt des Blues, Ragtime und Boogie-Woogie für sich. Nach einem weiteren Aufenthalt in Ägypten und einer Reise durch Griechenland, wandten sich die Sherwoods 1972 nach Kenia und ließen sich in Nairobi nieder, wo sie, unterbrochen durch kürzere Aufenthalte in Mombasa und Nakuru, acht Jahre lang lebten. Hier begann Gordon Sherwood ein Studium in Kisuaheli, das er mit Diplom abschloss. Er bemühte sich um eine Förderung durch die Familie des Staatspräsidenten Jomo Kenyatta, doch letztlich ohne Erfolg. Zunehmende Ehekonflikte und das Auslaufen der Aufenthaltsgenehmigung ließen ihn 1980 einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben ziehen. Er trennte sich von Ruth und begab sich, vom Buddhismus begeistert, auf eine Reise durch Südostasien. Mit seinem letzten Geld flog er von Singapur nach Oslo, von wo man ihn nach London abschob. Nachdem er dort erstmals gebettelt hatte, wurde er in die USA ausgewiesen und fand sich schließlich in einem New Yorker Obdachlosenheim wieder. Nach kurzzeitiger finanzieller Unterstützung durch seinen früheren Studienkollegen George Crumb ging Sherwood 1982 nach Paris.

Zunächst versuchte er dort an ein Geschäftsmodell anzuknüpfen, das er bereits während seiner Zeit im Libanon praktiziert hatte: seine Kompositionen an Passanten zu verkaufen. Bald allerdings merkte er, dass er mehr Geld verdienen konnte, wenn er die Leute direkt um Almosen bat. So entschied er sich für ein Leben nach dem Vorbild buddhistischer Bettelmönche und wurde „Selbst-Sponsor“. Seine Zeit teilte er dabei streng ein: Einen Teil des Jahres widmete er dem Gelderwerb auf der Straße; war er finanziell gut genug abgesichert, zog er sich in Domizile zurück, die ihm Freunde zur Verfügung stellten, um ungestört zu komponieren, oder ging auf Reisen, um sich in fernen Ländern zu eigenem Schaffen inspirieren zu lassen, stets mit einem Diktiergerät und einer Stimmgabel im Gepäck. Vom offiziellen Musikleben mittlerweile völlig abgeschnitten, als Komponist nur einer Anzahl kreuz und quer über die Welt verstreuter Eingeweihter bekannt, wurde er 1995 durch Erdmann Wingerts Filmportrait Der Bettler von Paris einem deutschen Publikum vorgestellt. Die in Deutschland lebende russische Pianistin Masha Dimitrieva sah die Dokumentation zufällig im Fernsehen und nahm sofort Kontakt mit Gordon Sherwood auf, der sich zu dieser Zeit bevorzugt in Costa Rica aufhielt. Ihrem begeisterten Einsatz für sein Schaffen verdanken nicht nur mehrere Kompositionen Sherwoods ihre Entstehung, es gelang ihr auch 2004 dem fast 75-jährigen Komponisten zu seinem CD-Debüt zu verhelfen: Für cpo hatte das Bayerische Landsjugendorchester unter der Leitung Werner Andreas Alberts neben der Ersten Symphonie die Sinfonietta op. 101 und, mit Masha Dimitrieva als Solistin, das Klavierkonzert op. 107 aufgenommen. Nachdem bereits im Jahr 2000 sein in Zusammenarbeit mit der Weltmusikgruppe Die Dissidenten entstandenes, oratorienartiges Werk Memory of the Waters op. 113 (Das Gedächtnis des Wassers, die originale Gattungsbezeichnung lautet „Dokumentar-Oper“) in Berlin erfolgreich uraufgeführt worden war, konnte Sherwood schließlich noch erleben, wie seine Musik allmählich bekannt zu werden begann. Seit 2005 lebte er in der diakonischen Kolonie Herzogsägmühle in Peiting, wo man sein Gesamtwerk digitalisierte. Solange es seine Gesundheit zuließ, unternahm er auch von dort noch Reisen. Er starb 2013, kurz nachdem er die Zusage zur Uraufführung seiner Dritten Symphonie op. 118, der Blues Symphony, erhalten hatte.

Gordon Sherwood war ein unabhängiger Künstler, der ausschließlich Musik schuf, die seinen eigenen Vorstellungen von Schönheit und künstlerischer Vollendung entsprach. So wenig es ihn reizte, auf das Rücksicht zu nehmen, was er einmal als Tagesmode oder Konvention erkannt hatte, so breit gestreut waren seine musikalischen Interessen: Indische Ragas, japanische Tempel- und arabische Volksmusik konnten ihn genauso in ihren Bann schlagen wie Johann Sebastian Bach und die Wiener Klassiker; Thomas „Fats“ Waller und Thelonious Monk nicht weniger als Arnold Schönberg, Béla Bartók und Paul Hindemith. Abneigungen hegte er lediglich gegen primitive Militärmusik und die sentimentalen Lieder Stephen Fosters, die ihn an die traumatischen Erfahrungen seiner Jugendzeit erinnerten und ihm als klingende Entsprechungen materialistischer Weltsicht und entseeltem Funktionierenmüssens erschienen. Reizte ihn dagegen ein klingendes Phänomen zur künstlerischen Auseinandersetzung, so reagierte er darauf ohne Berührungsängste, sei es Musik von der Straße oder Beethovens op. 111.

Eine Entwicklung von einem „Früh-“ zu einem „Spätwerk“ lässt sich bei Sherwood nicht feststellen. Er ist bereits in seinen ersten gültigen Werken ein ebenso stilsicherer wie technisch virtuoser Komponist. Die Vorliebe für kontrapunktischen Tonsatz, dissonanzreiche Harmonik, chromatische Melodik, markante Rhythmen, unregelmäßige Metren und konzise Formung aus tonalen Spannungen heraus lässt ihn als Vertreter einer für die USA der 1950er Jahre typischen Stilrichtung erscheinen, die der Musikhistoriker Walter Simmons als „Modern Traditionalism“ bezeichnet hat. Sherwood pflegte dieses Idiom sein ganzes Leben lang gewissermaßen als seinen „Grundstil“. Die von Blues und Jazz inspirierten Werke bauen ebenso darauf auf wie die folkloristischen. Lediglich wenn er streng auf den Spuren der Wiener Klassiker oder Johann Sebastian Bachs wandelt, beschränkt sich der Komponist auf die Kunstmittel der traditionellen Funktionsharmonik, handhabt diese allerdings auf so charakteristische Weise, dass bei aller Anlehnung an die Vorbilder ein „echter Sherwood“ entsteht.

Sherwood war sich sicher, dass sich seine persönliche Ausdrucksweise in jeder seiner Kompositionen zeige, gleich welchen Aufgaben er sich in dem jeweiligen Stück gestellt hatte. Es störte ihn folglich auch nicht, dass sein Werk für manchen Beobachter eklektisch, ja auf den ersten Blick betont uneinheitlich wirken musste. Dabei lag ihm kaum etwas ferner als ein ungefüges Nebeneinander disparater Elemente. Überblickt man sein Gesamtschaffen, so fällt im Gegenteil auf, dass er ganz genau abwog, welche Stile er in seinen Kompositionen wie zusammenbrachte. Das scheinbar ungefilterte Einströmen verschiedenster akustischer Reize gibt es bei ihm sehr wohl. In der autobiographischen Beggar Cantata op. 99, in der er seine Zeit auf den Straßen von Paris thematisiert, dient es ihm als Mittel zur Darstellung des großstädtischen Chaos, mit dem sich der Held des Werkes herumzuschlagen hat. Auf ähnliche Weise lässt er im Gedächtnis des Wassers, ganz unterschiedliche Musikidiome aufeinander treffen, um das kulturelle und historische Erbe der Donauregion zu verdeutlichen. Doch sind dies programmatisch motivierte Einzelfälle. Im Übrigen liegt den Sherwoodschen Kompositionen die Grundidee der Synthese zugrunde: Der Komponist spürt im musikalischen Material Verbindungen auf, um Einheit zwischen verschiedenen Musiksphären zu stiften. Sein Gespür für tonale Zusammenhänge – in klassischem Dur-Moll wie im Blues, im modern-dissonanten Tonsatz wie in nichtabendländischen Volksmusikmodi – ist ihm dabei ein zuverlässiger Kompass. Stets formbewusst, sorgt Sherwood in allen seinen Werken für eine wohlproportionierte Entfaltung der jeweiligen musikalischen Gedanken und tendiert eher zur Kürze als zur Länge. Die meisten seiner sonatenförmigen Instrumentalwerke dauern deutlich weniger als eine halbe Stunde.

Sherwood hinterließ ein Gesamtwerk von 143 Opuszahlen, darunter drei Symphonien, ein Klavierkonzert, mehrere Dutzend Kammermusikwerke vom Solo bis zum Oktett, vier Klaviersonaten und zahlreiche kleinere Klavierstücke, Chormusik von der A-cappella-Motette bis zur symphonischen Kantate und über 80 Lieder. Zehn Jahre nach seinem Tode liegt nur ein kleiner Teil dieses Schaffens gedruckt vor. Fünf Werke (der Klavierzyklus Boogie Canonicus op. 50, die Sonata in Blue für Klavier zu vier Händen op. 66, 4 Duos für Flöte und Viola op. 102, die Blues Symphony op. 118 und 10 Stücke für Altsaxophon solo op. 125) sind bei Ries & Erler erschienen. Die Beggar Cantata und die 3 Stücke für Chor a cappella op. 35 können vom Verlag Sonus Eterna erworben werden. Letzterer hat auch den Großteil der bislang erschienenen Sherwood-CDs veröffentlicht. Unter Federführung Masha Dimitrievas, der Verwalterin des künstlerischen Nachlasses Sherwoods, entstanden bislang jeweils zwei CDs mit Klavierwerken und Liedern (gesungen von Felicitas Breest). In absehbarer Zeit wird sich ihnen eine Aufnahme der Orgelkompositionen, eingespielt von Kevin Bowyer, anschließen. Von Sherwoods Orchestermusik kann man sich durch das bereits erwähnte cpo-Album mit der Symphonie Nr. 1, dem Klavierkonzert und der Sinfonietta ein Bild machen. Für Telos Music haben Matthias Veit und Henning Lucius die Sonata in Blue aufgenommen. Die 4 Stücke für Harfe op. 135 gibt es auf einer Eigenproduktion der Harfenistin Xenia Narati zu hören, das Posaunenquartett op. 87 auf dem Album „Trombonismos“ von Trombones de Costa Rica. Die Dissidenten haben den Uraufführungsmitschnitt von Memory of the Waters herausgebracht. Bei Archipel erschien 2022 die Aufführung des Finales der Ersten Symphonie durch das New York Philharmonic unter Dimitri Mitropoulos aus dem Jahr 1957.

Für weiterführende Informationen stehen Masha Dimitrieva und der Verlag Sonus Eterna zur Verfügung.

[Norbert Florian Schuck, Mai 2023]