Béla Bartók steht im
Zentrum von Baiba Skrides neuen CD-Produktion. Gemeinsam mit dem WDR
Sinfonieorchester Köln unter Eivind Aadland spielt sie das zweite Violinkonzert
Sz 112 und die beiden Rhapsodien für Violine und Orchester Sz 87 und Sz 90.
Neben dem Klavier inspirierte vor allem die Geige die musikalische
Vorstellungskraft von Béla Bartók. Durch ihre Verwandtschaft mit Fiedeln eignet
sich dieses Instrument perfekt für die Darstellung folkloristisch angehauchter
Werke; außerdem kann sie problemlos Mikrointervalle realisieren. Die beiden
Violinkonzerte und die beiden Rhapsodien (insbesondere die erste) zählen nach
wie vor zu den meistgespielten Konzertstücken der Moderne, ihre rhythmische
Kraft, prächtige Virtuosität und die formale Ausgewogenheit machen sie zu
wahren Publikumslieblingen.
Baiba
Skride folgt der Musik. Die technisch-mechanischen Höchstschwierigkeiten
meistert sie beiläufig, während sie sich mental auf den Fluss der Musik
fokussiert. Skride hält das Ganze im Auge, sie weiß um die verwinkelten
Abzweigungen und plötzlichen Charakterwechsel, deren Übergänge sie adäquat
ausgestaltet. So entsteht ein nachvollziehbarer Zusammenhang selbst in den
großen Dimensionen des Violinkonzerts. Dabei besitzt sie eine hinreißende
Tongebung, die entsprechend der Musik nicht zu lyrisch, ebenso aber nicht zu
harsch erscheint, sondern kernig und voll; ergriffen, aber nicht sentimental;
distanziert, aber nicht kalt. Die beiden volksmusiknahen Rhapsodien, die Béla
Bartók traditionell in Lassù und Friss teilte, erklingen beinahe spielerisch
leicht nach dem gewaltigen Violinkonzert. Dennoch nimmt Skride sie nicht
leitfertig, sondern sucht auch in ihnen die innermusikalischen Bezüge und
entlockt den Werken durch ihre Spielfreude reinste Eleganz.
Das Orchester integriert Skride als prima inter parens, so
dass sie trotz der deutlichen Zurschaustellung des Soloparts nicht
herausbricht, sondern nur in der Gemeinschaft wirken kann. Eivind Aadland
erweist sich als präziser und luzide hörender Dirigent, der jede Stimme hörbar
macht und ein geklärtes Bild freigibt, in dem die Effekte der Musik umso
frappierender zur Geltung kommen. In den kleiner besetzten Passagen entsteht so
eine beinahe kammermusikalische Wirkung, wonach die Tuttis deutlich
kontrastieren.
Edvard Hagerup Grieg wurde am 15. Juni 1843 in Bergen geboren und zeigte beim Klavierunterricht mit seiner Mutter Gesine Hagerup früh musikalische Begabung, wohingegen er die Schule vernachlässigte und schließlich die dritte Klasse wiederholen musste. Griegs Perspektiven änderten sich, als die Familie Ole Bull als Gast empfing, der nicht nur einer der bedeutendsten Geiger damaliger Zeit war, sondern als Komponist die Musik Norwegens maßgeblich veränderte: Er kämpfte für das Norwegische, Urtypische und Bäuerliche in der Musik, womit er später auch Grieg anstecken sollte. Auf den Rat Bulls begann Grieg 1858 ein Studium der Musik inLeipzig, wo zu seinen Lehrern neben Carl Reinecke auch Ignaz Moscheles und Louis Plaidy zählten. Griegs Berichten zufolge habe er nichts gelernt in Deutschland, auch von seinen Lehrern wurde er als aufmüpfig beurteilt; und doch sind Griegs handwerkliches Geschick und Wissen um einfache, aber effektive Formgestaltung sowie seine kontrapunktischen Fähigkeiten zweifelsohne auf ein gründliches Studium zurückzuführen.
Neue Einflüsse erhielt Grieg in Kopenhagen, wohin er 1863 nach kurzem Aufenthalt in seiner Heimat reiste. In Niels W. Gade fand er seinen neuen Lehrer, der bis heute zu den erfolgreichsten Komponisten Dänemarks gehört. Dieser überzeugte Grieg, ein großer Komponist müsse große Symphonien schreiben, und so machte sich Grieg an seine c-Moll-Symphonie. Diese zog er allerdings vor der Uraufführung zurück, als Johan Svendsen sein symphonisches Erstlingswerk vorlegte, das Grieg für überlegen hielt. Uraufgeführt wurde die Symphonie erst 1980 in Russland, womit das von Grieg ausdrücklich verlange absolute Aufführungsverbot des Werks gebrochen wurde. Kurze Zeit nach der Symphonie folgten auch die Klaviersonate e-Moll op. 7 und die Violinsonate F-Dur op. 8, die beide bis heute regelmäßig auf Konzertprogrammen zu finden sind. Ole Bull kritisierte Gades Einfluss im Werk seines Schützlings und forderte ihn dazu auf, Musik zu komponieren, die sein Land ehre und nicht den Spuren Gades folge. In Dänemark lernte Grieg auch Rikard Nordraak kennen, mit dem zusammen er 1864 Euterpe gründete, eine Vereinigung zur Förderung nordischer Musik. Für Euterpe entstanden die Humoresken op. 6, die erstmalig den Bezug zu den norwegischen Bauerntänzen „Slåtter“ aufweisen.
Weiter ging die Reise 1866 nach Christiania, heute Oslo, wo er seine Cousine Nina Grieg heiratete, mit der er eine Tochter bekam, Alexandra, die allerdings im Alter von 13 Monaten verstarb. 1869 ging er nach Rom und traf dort Franz Liszt, der hingerissen war von der Musik des Norwegers. Besonders begeistert zeigte sich Liszt vom Kopfsatz des neu komponierten Klavierkonzerts a-Moll op. 16, welches er dem Publikum prima vista präsentierte.
Zurück in der Hauptstadt Norwegens wollte Grieg eine feste Orchestervereinigung gründen, woraus sich später die Osloer Philharmonie entwickeln sollte. Ab 1874 konnte er als freier Künstler von staatlichem Künstlerlohn leben, konzentrierte sich entsprechend mehr aufs Komponieren und war nicht so sehr auf andere Geldquellen angewiesen. Arbeiten an einer ersten nationalen Oper Norwegens mit Bjørnstjerne Bjørnson gab Grieg auf (mit ihm schuf Grieg bereits Sigurd Jorsalfar op. 22 und Bergliot op. 24) und nahm dafür ein Angebot Ibsens an, der Grieg dafür gewinnen wollte, Bühnenmusik für eine Aufführung von Peer Gynt zu komponieren. Das Werk und die beiden Orchestersuiten daraus erwiesen sich sogar noch vor dem Klavierkonzert als größte Erfolge Griegs.
Im Jahr darauf starben beide Elternteile Griegs innerhalb kürzester Zeit, was Grieg zu seinen beiden musikalisch wohl substanziellsten Werken trieb: dem Streichquartett g-Moll op. 27 und der Ballade op. 24 in gleicher Tonart.
Die frühen 1880er-Jahre waren durchzogen von einer tiefen Krise, die sich persönlich durch eine Trennung von seiner Frau Nina und künstlerisch durch eine Formkrise beginnend mit seiner Cellosonate a-Moll op. 36 abzeichnete – der Komponist war der Ansicht, er könne keine geschlossene Form mehr schreiben. Grieg reiste in Richtung Frankreich, wo er die Malerin Leis Schjelderup treffen wollte, kehrte allerdings zuvor schon zurück und versöhnte sich mit seiner Frau. Anlässlich des 200. Geburtstags von Ludvig Holberg, dem „Moliere des Nordens“, sollte Grieg eine Kantate schreiben, die ihn allerdings wenig inspirierte. Er legte ein durchschnittliches Werk vor, konzentrierte sich parallel auf ein anderes Stück zu gegebenem Anlass: Aus Holbergs Zeit, Suite im alten Stil op. 40, in welcher er Formmodelle der Barockzeit mit romantischer Musik aktualisierte. Der Formkrise war Grieg damit allerdings noch immer nicht entkommen, erst 1886 entfloh er seiner Angst, keine große Form mehr komponieren zu können, indem er die Dritte Violinsonate c-Moll op. 45 veröffentlichte.
Troldhaugen, Villa von Edvard Grieg (Foto von: Oliver Fraenzke)
Zuvor schon erwarb Grieg 1884 seine berühmte Residenz in der Nähe Bergens: Troldhaugen. Hier lebte er bis zu seinem Tod und liegt nun unterhalb des Hauses begraben; heute dient das Gebäude als Museum, daneben steht eine neu gebaute Konzerthalle. 1887 fand ein geschichtsträchtiges Treffen in Leipzig statt: Brahms, Tschaikowsky und Grieg saßen an einem Tisch: Während Brahms und Tschaikowsky sich zwar menschlich leiden konnten, verabscheuten sie die Musik des jeweils anderen, zu Grieg bauten beide menschlich wie künstlerisch ein gutes Verhältnis auf.
Nach der Jahrhundertwende verschlechterte sich Griegs Gesundheit rapide: Bereits als junger Mann verlor er durch eine Krankheit die Funktion eines Lungenflügels, nun wurden die Atembeschwerden kritisch. Am 4. September 1907, nach einer letzten Tour nach Deutschland, starb er im Zentralkrankenhaus Bergen in den Armen seiner Frau.
Musik und Stil
Grieg zählt zu den großen Nationalromantikern des 19. Jahrhunderts, die sich auf die Volksmusik beriefen. Formal bleibt er weitgehend klassisch-konservativ, harmonisch hingegen beschritt er neue Pfade und ebnete den Weg für den Impressionismus in Frankreich: Debussy und Ravel betrachteten beide Grieg als eine ihrer zentralen Inspirationsquellen.
Als Meister der kleinen Formen geltend, brachte Grieg uns doch zahlreiche grandiose Werke großen Formats: Die frühesten dieser sind die Klaviersonate e-Moll und die Erste Violinsonate F-Dur, wobei die Klaviersonate bereits Ideen enthält, welche Grieg später im Klavierkonzert a-Moll wiederaufgriff und erweiterte. Die beiden Sonaten entstanden zeitgleich, die Zweite Violinsonate G-Dur op. 13 folgte kurze Zeit später. In ihr wendet sich Grieg aktiv der Volksmusik zu und erhebt sie in die Sphären von Konzertmusik, der erste Satz ist ein ausgedehnter norwegischer Volkstanz. Von der ersten Aufführung an etablierte sich das Klavierkonzert a-Moll op. 16 zu einem Publikumsliebling: Die eingängige Thematik, die harmonischen Wechsel und das Ursprüngliche und Natürliche dieses Werks begeistern jedes Mal von Neuem. Düster und aufbrausend geben sich das Streichquartett g-Moll und die Klavierballade, in denen Grieg den Tod seiner Eltern verarbeitete: Das Quartett bildet eine Geschichte ab um einen Pakt mit einem Wassergeist, die Ballade errichtet sich auf einer Volksmusikmelodie, welche in Variationsform bearbeitet wird und in alle Abgründe der menschlichen Seele blicken lässt: Trauer, Resignation, Hoffnung, Wut, Angst, Unsicherheit, Ausgelassenheit und mehr spiegeln sich in den dreizehn Variationen der Klavierballade, die umfangreicher und technisch noch anspruchsvoller ist als Chopins g-Moll-Ballade op. 23 und Züge aufweist von Schumanns Symphonischen Etüden op. 13. Die Cellosonate führt zum Klavierkonzert zurück und behält packende Dramatik, die Dritte Violinsonate ist ebenfalls ein energiegeladenes Werk voll innerer Zerrissenheit und eruptiver Gewalt.
Der Zweifel gehörte zu Griegs lebenslangen Weggefährten, immer wieder überarbeitete er alte Werke und verwarf seine Skizzen, unter anderem mehrere Instrumentalkonzerte kamen nie über ein Skizzenstadium hinweg, andere Werke wie sein F-Dur-Streichquartett blieben unfertig. Aus dem Finale der Klaviersonate strich Grieg eine lange Passage, den Höhepunkt des zweiten Satzes setzte er vom Fortissimo ins Pianissimo, entsagte somit der Zurschaustellung von Virtuosität.
Der Angst vor langen Formen entfloh Grieg, indem er kurze Sätze aneinanderreihte, wie bei der Holberg-Suite, deren längster Satz, die innige Air, in der ursprünglichen Klavierfassung lediglich vier Seiten umfasst. In großen Kontexten behält Grieg gerne eine klare Struktur, Reprisen sind meist ganz regelkonform durchgeführt und auch in seinen Miniaturen vertraut Grieg einer exakten Wiederkehr von bekanntem Material.
Gern gespielt werden die zahlreichen Klavierminiaturen des Norwegers, allen voran seine 66Lyrischen Stücken in zehn Bänden, vernachlässigt im Repertoire sind hingegen seine etwa 180 Lieder. In den Lyrischen Stücken tastet sich Grieg langsam an die Volksmusik heran, anfangs nennt er seine Stücke „Im Volkston“, oder „Norwegisch“, später erst betitelt er sie nach den Bauerntänzen.
Das Norwegische ist omnipräsent im Schaffen Griegs, sei es durch Stilisationen von Bauerntänzen oder durch Bearbeitungen von Volksliedern, was viele Melodien vor dem Vergessen bewahrte. Die Liedtranskriptionen und -bearbeitungen op. 66 dürften die feingeistigsten Umsetzungen sein, op. 72 rückt das Volkstümliche mehr in den Konzertkontext. Auch die Ballade beruht auf einer Melodie, die von Ludvig Mathias Lindeman aufgezeichnet wurde.
Zuletzt zu nennen ist das abbildende Element in Griegs Musik: Für eine treffende Illustration überging der Norweger alle Regeln bis hin zu freien Quintrückungen in Glockenklang aus den Lyrischen Stücken. Ob Grieg nun im An den Frühling ganze Lawinen talwärts rutschen lässt, die Vöglein quirlig durcheinandersingen oder das Bächlein ununterbrochen rauschen, die Bilder sind stets eindeutig. Und wer erkennt nicht die Morgenstimmung als DIE Darstellung einer Landschaft bei aufgehender Sonne? Was Peer Gynt betrachtete, hören wir nun in zahlreichen Filmen als Untermalung des angehenden Tages.
Aufnahmen im Vergleich
Es liegt eine beachtliche Anzahl an Gesamteinspielungen Griegs vor, besonders das Symphonische Oeuvre wurde in den letzten Jahren mehrfach vollständig aufgenommen. Ein „Must have“ für alle Grieg-Fans bleibt die „Grieg Edition“ von Brilliant Classics, welche fast das gesamte Schaffen des Norwegers auf 21 CDs bannt: Hervorzuheben hierbei ist die Klaviermusik mit Håkon Austbø. Eivind Aadland legte mit dem WDR Sinfonieorchester Köln eine Gesamtaufnahme des Orchesterwerks vor (erschienen bei audite), die durch Plastizität und Ökonomie der Mittel besticht, sachlich und feingeistig fasst er diese Musik auf. Etwa zeitgleich brachte Naxos die „Complete Orchestral Works“ heraus mit Bjarte Engeset, dem Malmö Symphony Orchestra und dem Royal Scottish National Orchestra. Das Glanzstück hier ist die gesamte Bühnenmusik zu Peer Gynt, die nicht nur in den beiden Suiten zu hören ist, wie in den anderen verglichenen Einspielungen. Herbert Schuch kann im Klavierkonzert für audite mehr überzeugen als Håvard Gimse für Naxos. Wo Engeset in der Gesamtaufnahme allgemein empfehlenswert ist, enttäuschen seine Einspielungen für Streichorchester, die es auch in die Box geschafft haben. Carl Petersson legte für Grand Piano das a-Moll-Konzert vor und begeistert vom ersten bis zum letzten Ton – darüber hinaus spielt er das unvollendete h-Moll-Konzert, von welchem nur wenige Fragmente erhalten sind, in der Vervollständigung von Helge Evju, eine Weltersteinspielung. Leider vergriffen ist die Aufnahme des Komponisten und Dirigenten Nicolas Flagello, der aus einem schlechten Orchester (Da Camera di Roma) Unvorstellbares herausholt und eine der brillantesten Aufnahmen der Holberg-Suite hervorbringt.
Die Kammermusik lernte ich durch die 3-CD-Box von Brilliant Classics kennen, die ungeschlagen vom Preis-Leistungs-Verhältnis ist: Die Aufnahmen sind vielleicht nicht die Überragendsten, und doch geben sie vieles preis, was die Kammermusik ausmacht – überraschend innig gibt sich das g-Moll-Streichquartett. Die Violinsonaten glänzen in der Referenz-Aufnahme mit Ingolf Turban und Jean-Jacques Dünki, die Musiker erfüllen jeden Takt mit Ausdruck und Substanz. Ein weiterer Schatz, der komplett verborgen blieb, ist die Aufnahme dreier Sonaten mit Tateno, Rautio und Söderblom. Die neueste Aufnahme, welche mir in die Finger fiel, ist die Erste Violinsonate mit den Schwestern Birringer, welche frei und organisch entsteht, durch Musizierfreude mitreißt. Das gleiche Werk erschien nun mit Aleksey Semenenko und Inna Firsova.
Mehr noch als die Orchester- und Kammermusik wurde die Klaviermusik aufgenommen. Mitreißen können dabei vor allem die Stars von früher: Arturo Benedetti Michelangeli belebt jeden Ton des Klavierkonzerts ebenso wie der Solomusik, Emil Gilels bringt unvorstellbares Gefühl aus allen 66 Lyrischen Stücken und Walter Gieseking achtet bei diesen auf jedes noch so kleine Detail. In neueren Aufnahmen finden wir oft Auszüge aus den Lyrischen Stücken, so etwa sehr puppenhaft gekünstelt von Alice Sara Ott oder übermäßig frei von Janina Fialkowska. Die wohl bekannteste Gesamteinspielung des Klavierwerks ist die von Einar Steen-Nøkleberg, der zwar live interessante Details hervorholt, dessen Aufnahmen allerdings doch auf Masse produziert scheinen, makellos, aber uninspiriert wirken. Auch Skizzen und Verworfenes hören wir bei diesem Pianisten. Zwei der Schätze aus Griegs Zeit seien noch hervorgehoben: Percy Grainger, der sich als junger Mann noch mit Grieg anfreundete, präsentierte mit Leopold Stokowski das Klavierkonzert in einer unerhört bezaubernden Version und spielte unter anderem die Ballade ein, für die er lediglich 12(!) Minuten brauchte. Und Grieg können wir selbst erleben, wie er seine eigenen Werke darbietet: 1903 entstanden Aufnahmen auf Wachsplatte und 1906 verewigte er sich auf einer Klavierrolle von Welte Mignon – heute würde keiner seine Musik so spielen, doch als Dokument der Musikgeschichte sind diese Aufnahmen unentbehrlich.
Michael Rische (Klavier); WDR Sinfonieorchester Köln, Bamberger Symphoniker, Radio-Sinfonieorchester Berlin; Dirigenten: Gunter Schuller (Schulhoff), Steven Sloane (Honegger, Copland), Israel Yinon (Ravel), Christoph Poppen (Antheil), Wayne Marshall (Antheil, Gershwin)
Diese Einspielungen des ausgezeichneten Pianisten Michael Rische sind bereits in den 2000er-Jahren zum ersten Mal erschienen, damals beim recht kurzlebigen Low Budget-Label Arte Nova der BMG. Nun sind wahrscheinlich die Rechte an den Aufnahmen wieder frei geworden, und Rische hat die Einspielungen nun bei seinem heutigen Label Hänssler Classic unterbringen können.
Die Einspielungen sind heute so vorzüglich wie ehedem und bieten überwiegend seltenes Repertoire in sehr geschmackvollen Darbietungen. Während bei Arte Nova zwei Einzel-CDs im Angebot waren, ergeben beide Alben in der Hänssler-Ausgabe sinnvollerweise nun eine auch preislich attraktive Doppel-CD. Das Motto der Erstausgabe „Piano Concertos of the 20s“ ist gleichgeblieben und bereitet heute ebenso viel Hörvergnügen wie vor etwa 15 Jahren.
Es sind aber auch tolle Stücke, die es in diese Auswahl geschafft haben! Da wäre mit Erwin Schulhoffs „Konzert für Klavier und kleines Orchester“ aus dem Jahr 1923 zum Beispiel eine Art deutsche Alternative zu Dmitri Schostakowitsch. Der geniale Komponist Erwin Schulhoff, der 1942 auf tragische Weise in einem tschechischen Lager für politische Gefangene umkam, war zunächst einer der wenigen Vertreter eines musikalischen Dadaismus, wandelte später seinen Stil aber zu einer sehr gelungenen Mischung aus Expressionismus und Anklängen an die Spätromantik des Fin de Siècle. Sein Klavierkonzert zeigt Schulhoff als einen ungeahnt melodiebetonten Komponisten, der hier ein Stück schrieb, das reichlich Brillier-Potenzial für den Solisten bereithält und des Öfteren an Ravels Klavierkonzerte erinnert, zumal dieser mit Schulhoff auch seinen „jazzigen“ Einschlag gemeinsam hatte.
Auch Aaron Coplands Klavierkonzert von 1926 hat den Jazz inhaliert und gilt als eines der bedeutenden, wenn auch nicht gerade typischen Werke dieses bekannten US-Komponisten. Coplands typischer „Cowboy- Sound“ trifft in diesem Konzert auf die vielleicht im engeren Sinne modernste Musik, die dieser Komponist bis zu jenem Zeitpunkt vom Stapel gelassen hatte. Das Konzert ist als solches vordergründig nicht das, was man als „großer Wurf“ bezeichnen würde: Den Klavier-Solopart kann man kaum als sonderlich dankbar bezeichnen. Er ist schwierig in der Ausführung, kann hingegen kaum mit Passagen glänzen, die dem Publikum im Gedächtnis bleiben würden und wird überdies sogar häufig von dem vermeintlich viel interessanteren Geschehen im Orchester überflügelt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich hier aber eine bemerkenswert visionäre Komponente: Man könnte fast der Ansicht sein, dass Copland in dem beinahe unauffälligen Klavierpart vielleicht doch manches von dem vorweggenommen hat, was wir später von Komponisten wie Morton Feldman und Philip Glass zu hören bekamen. Und ein wenig Satie-Anarcho-Feeling kommt in diesem Konzert auch auf. An sich ein herrlich schräges Stück!
Arthur Honeggers lediglich etwa elf Minuten kurzes „Concertino“ von 1924 ist ebenfalls ein ganz ungewöhnliches Stück. Mit dem für die damalige Phase Honeggers typischen Neoklassizismus entfaltet sich ein für die Group des Six ganz typisches Stück voller an Sarkasmus grenzender Heiterkeit. Es gehört sicherlich nicht zu den Meilensteinen des Honegger’schen Schaffens, das gewichtigere Meisterwerke kennt. Aber es ist doch ein auffälliges, reizendes Stück, in das der schweizerische Maestro sogar eine klassische Dreiteilung „schnell – langsam – schnell“ einzubauen vermochte. Originell!
Mit dem berühmten Klavierkonzert in G von Maurice Ravel wird das Doppelalbum seinem Titel ausnahmsweise untreu, denn das Stück stammt bereits aus dem Jahr 1930. Es existieren zahllose Referenzeinspielungen dieses Werks und im Spiegel derselben schlägt sich die vorliegende Einspielung sehr gut, wobei insbesondere im langsamen zweiten Satz deutlich wird, was für ein geschmackvoller, stilsicherer Pianist Michael Rische ist, der hier überzeugend dafür eintritt, dass wir es eben nicht mit einem Schmachtfetzen zu tun haben, wie es viele (gerade besonders namhafte) Pianisten gelegentlich missverstehen. Damit endet CD1 des Doppelpacks.
CD 2 widmet sich etwa je zur Hälfte George Antheil und George Gershwin. Die beiden Georges könnten abgesehen vom Vornamen unterschiedlicher kaum sein: Während Antheil Spaß an der Provokation und an der radikalen Moderne hatte, das Publikum immer wieder vor den Kopf stieß und (nach meiner Empfindung ganz unerklärlich) als „amerikanischer Schostakowitsch“ in viele Musiklexika einzog, ist Gershwin zwar vielleicht mehr als alle anderen Komponisten dieser Sammlung ein von Jazz geleiteter Komponist gewesen, doch lag ihm die Provokation fern. Er war vielmehr auf größtmögliche Breitenwirksamkeit seiner Musik bedacht und hat viele Stücke geschrieben, die wir heute sehr zu Recht als „Standards“ empfinden. Dazu zählt natürlich auch das „Concerto in F“ von 1925.
Bevor es dazu aber kommt, tauchen wir mit dem Ersten Klavierkonzert und der zu Antheils Lebzeiten sehr umstrittenen „Jazz Symphony“ in den bis heute außergewöhnlich anmutenden Klangkosmos George Antheils ein. Die Bamberger Symphoniker hatten hierbei allerdings nicht ihren besten Tag und standen zum damaligen Zeitpunkt ihren Kollegen vom WDR Sinfonieorchester Köln, das CD1 dieses Sets eingespielt hatte, doch in Präzision aber auch in schierer Klangästhetik um einiges nach.
Mit der schrägen „Jazz Symphony“ übernimmt dann das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Wayne Marshall und kann gleich mit mehr Dynamik und Verve punkten, wenngleich in einer unvorteilhaft halligen Aufnahme, die Antheils frecher Musik einiges an Schärfe und Chaos-Potenzial nimmt.
Bei dem Gershwin-Konzertboliden passt diese Klanglichkeit aber wiederum sehr gut und erinnert an manche RCA Living Stereo-Aufnahmen aus der Frühzeit der Stereo-Technik. Auch da mochte man zu diesem Repertoire so eine große „larger than life“-Bühne.
Fazit: Die eingespielten Stücke sind ohne Ausnahme interessant, der Solist der Aufnahme ist ausgezeichnet, die beteiligten Orchester, Dirigenten und Tonmeister zeigen eine gewisse Schwankungsbreite innerhalb grundsätzlich überzeugender Grenzen. CD1 macht allerdings wesentlich mehr Spaß als CD2.
Gut, dass diese lange vergriffenen Aufnahmen wieder erhältlich sind, wenn auch mit einem denkbar missratenen Cover-Artwork.