Die Vierte Symphonie von Michael F. P. Huber erlebt am 26. März 2017 ihre Uraufführung im Rahmen eines Abonnementkonzerts des Akademieorchesters St. Blasius unter Karlheinz Siessl im „Vier und Einzig“, Hallerstraße 41 in Innsbruck. Maria Ladurner singt dabei die Solo-Vocalise im Finale. In der zweiten Hälfte gibt es das recht selten zu hörende Klavierkonzert op. 33 von Antonin Dvořák mit Michael Schöch am Klavier, der erst letztes Jahr das Klavierkonzert Hubers aus der Taufe hob.
Mehrfach verschlug es mich bereits nach Innsbruck für Aufführungen der Werke von Michael F. P. Huber – so erlebte ich letztes Jahr die Premiere des Klavierkonzerts und diejenige der Kammersymphonie. Entsprechend konnte ich es mir natürlich nicht nehmen lassen, nun auch zur Uraufführung der großen Vierten Symphonie nach Österreich zu reisen – und einmal mehr wurde ich nicht enttäuscht!
Die Symphonie Nr. 4 op. 64 ist ein gewaltiges Werk von etwa fünfzig Minuten Länge und ihre Entstehung wurde durch das Hilde-Zach-Kompositionsstipendium 2016 ermöglicht. Der Orchesterbesetzung wird sinnstiftendes Schlagwerk inklusive Röhrenglocken und Peitsche hinzugefügt, im Finale ist zudem eine Sopran-Vocalise zu hören. Mit einem gewaltigen Aufschrei beginnt das Lento lugubre des Kopfsatzes, des dichtesten und komplexesten Satzes der Symphonie. Düstere Bläserchoräle und donnerndes Aufbegehren erzielen eine pechschwarze Wirkung, entfachen sogleich ihren Bann. Immer wieder geschieht etwas Unvorhergesehenes, und doch behält dieser Mammutsatz seine Kontur und alles fügt sich zu einer zusammengehörigen Einheit. Giocombra ist der Mittelsatz betitelt: Ein Spiel, aber was für eines! Von den ersten Takten beginnend hebt eine Tarantella an, in rasendem Tempo und wildem Gestus. Immer verrückter wird dieser Höllenritt, bis sogar der Rhythmus zu einem 3/8+3/8+2/8 bricht und somit „verstolpert“. Einige aus der Avantgarde bekannte Geräuscheffekte sind gerade in den Bläserstimmen zu hören, allerdings eben nicht um des bloßen Geräusches Willen, sondern indem es sich verschärfend einfügt und Sinn ergibt. Das Finale ist eine „Lunaria“ mit Variationen, eine hinreißende Nocturne. Es ist tatsächlich eine Nocturne, und das in einem unverkennbaren Gestus. Wem sonst gelingt es, auf eine moderne, eigenständige und erneuernde Weise Formen wie eine Tarantella oder gar eine Nocturne, die ja hauptsächlich mit dem 19. und frühen 20. Jahrhundert assoziiert sind, zu schreiben, die tatsächlich heute noch funktionieren? Zwei Mal strebt die Nocturne in die Wildheit, fällt jedoch ebenso schnell wieder in die „komplexe Beschaulichkeit“ zurück und wird jedes Mal noch betörender in ihrer Wirkung. Gegen Ende kommt noch der Sopran hinzu, glasklar und unschuldig zärtlich aus der Kehle der jungen Sängerin Maria Ladurner, einem wahren Talent mit flexibler und farbenreicher Stimmgebung. Sogleich wird das Sopran-Motiv von den anderen Instrumenten aufgegriffen und im Schlagwerk gar ad absurdum geführt. Plötzlich fällt auf, dass das zarte Motiv schon bekannt ist, im ersten Satz erklang es und auch in der Giocombra war es zu hören – und die ganze Symphonie wird von hinten her zusammengeschweißt. Wie viele Zusammenhänge noch existieren, lässt ein erstes Hören nicht ergründen; doch alleine der Detailreichtum und die Stringenz, die unmittelbar ins Bewusstsein fallen, reichen aus, um von einer ganz großen Symphonie des 21. Jahrhunderts zu sprechen, die zum Substanziellsten der aktuellen deutschsprachigen Musikszene gehört.
Nach der Pause spielt Michael Schöch das Klavierkonzert Antinon Dvořáks, ein ausschweifendes und hochvirtuoses Werk in g-Moll mit entzückendem Mittelsatz in D-Dur, das den anderen beiden Solokonzerten des Komponisten nicht nachsteht. Das Spiel Schöchs lässt sich am ehesten durch das Wort „filigran“ beschreiben, der 1985 geborene Innsbrucker musiziert in größter Feingliedrigkeit mit einem Hauch fragiler Zartheit. In den schnellen Passagen perlen seine Finger geschmeidig, im ruhigeren Tempo hebt das Klavier zu singen an, voll Innerlichkeit und feinfühliger Aussagekraft. Wenn Schöch diese Ruhe und Tragfähigkeit des Klangs auch noch in die halsbrecherischen Stellen integrieren könnte, bliebe absolut nichts mehr an seinem ganz im Dienste der musikalischen Präsenz stehenden Spiel zu wünschen übrig. Als Zugabe gibt er Schumanns „Warum?“ aus den Fantasiestücken op. 12, das durch meditative Kraft bezaubert.
Nicht zuletzt das Orchester leistet Großes unter den führenden Händen seines Chefdirigenten Karlheinz Siessl. Technische wie expressive Potenz charakterisiert die Musiker, die trotz schwieriger Akustik alles nur mögliche aus den Partituren herausholen. Hubers Symphonie erstrahlt in mehrdimensionaler Vielschichtigkeit und Deutlichkeit, das Klavier in Dvořáks Konzert erhält einen gleichberechtigten Widerpart, der es aber auch nicht unterjocht.
Heute erlebten die Zuhörer im voll besetzten VierundEinzig Innsbruck die Gegenwart der Symphonie, einer oft vorschnell verloren geglaubten Gattung, der offenkundig noch eine große Zukunft gehört.
[Oliver Fraenzke, März 2017]