Schlagwort-Archive: VIER und EINZIG

Ein gelungener Zemlinsky-Dünser-Abend in Innsbruck

In Innsbruck spielte am 10. November 2024 das Orchester der Akademie St. Blasius unter der Leitung von Karlheinz Siessl Musik Alexander Zemlinskys in Bearbeitungen von Richard Dünser. Es erklangen das Streichquartett Nr. 2 als Kammersymphonie und die Sieben Lieder von Nacht und Traum. Als Sängerin war Anne Schuldt, Mezzosopran, zu hören.

Alexander Zemlinskys 1918 uraufgeführtes Streichquartett Nr. 2 gehört zu den herausragenden Gattungsbeiträgen des frühen 20. Jahrhunderts und kann als bedeutendste Leistung seines Komponisten auf dem Gebiete der Kammermusik gelten. Mit einer ganzen Reihe anderer Streichquartette dieser Epoche – z. B. Max Regers op. 74, Arnold Schönbergs op. 7, Friedrich Kloses Es-Dur-Quartett, Josef Suks op. 31 und Hans Pfitzners später zur Symphonie orchestriertem op. 36 – teilt es die Tendenz zur formalen Expansion und zur äußersten Ausreizung der klanglichen Möglichkeiten der vier Streicher. Wie die etwas älteren Werke Schönbergs und Suks besteht es aus einem einzigen Satz, dessen Unterabschnitte sich aber ungefähr mit den Satzcharakteren einer mehrsätzigen Sonate decken. Innerhalb des 40-minütigen Verlaufs kommt es zu extremen Kontrasten. In Hinblick auf harmonische Kühnheiten kann es Zemlinsky ohne weiteres mit dem späten Mahler und dem frühen Schönberg aufnehmen. Die Musik wechselt zwischen manischer Aktivität und introspektivem Verharren, bleibt mitunter unsicher in der Schwebe, steigert sich dann wieder zu leidenschaftlichen Gefühlsausbrüchen und erstirbt letztlich, nachdem sie sich zuvor noch durch dornige Chromatik winden musste, in lichtem D-Dur. Ohne Zweifel ist dieses Quartett ein Bekenntniswerk. Kein Ton ist darin, der klingt, als wäre er einem bloß artistischen Bedürfnis entsprungen. Hier spricht sich eine zutiefst erschütterte Seele aus.

Anders als Schönberg, sein Schüler und Schwager, hat Zemlinsky nicht den Weg zur Kammersymphonie eingeschlagen, sondern großorchestrale Symphonik und Kammermusik voneinander getrennt kultiviert. Das nichtsdestoweniger im Zweiten Streichquartett vorhandene orchestrale Potential reizte den Komponisten Richard Dünser, dieses Werk zu einer Kammersymphonie umzuformen. Hinsichtlich der Besetzung orientierte sich Dünser an Schönbergs Kammersymphonie op. 9 und verzichtete lediglich auf das Kontrafagott, womit seine Bearbeitung des Zemlinskyschen Quartetts auf 14 Stimmen kommt. Dünsers Instrumentation zeichnet einerseits Zemlinskys Linien mit kontrastreicheren Farben nach, anderseits fügt sie dem Werk neue Ebenen hinzu, indem sie Gegensätze schafft, die im Original höchstens angedeutet waren. So schafft Dünser bereits in den Anfangstakten, die Phrasierung interpretierend, ein Wechselspiel zwischen Streichern und Bläsern, indem er die Bläser an jenen Stellen einsetzen lässt, die Zemlinsky in der Oberstimme durch Akzente hervorgehoben hat.

In dieser Gestalt erklang das Werk am 10. November 2024 im Innsbrucker Kulturzentrum Vier und Einzig durch das Orchester der Akademie St. Blasius unter der Leitung von Karlheinz Siessl. Man hörte 19 Instrumente spielen, da die Violinen auf sechs, die Bratschen auf zwei aufgestockt wurden; angesichts der Stärke der Bläser eine durchaus sinnvolle Entscheidung. Die Darbietung des anspruchsvollen Werkes gelang außerordentlich gut. Karlheinz Siessl ist ein äußerst sorgfältiger Kapellmeister, der, die Takte genau ausschlagend, präzise das Tempo vorgibt. Eine starke, ausladende Geste ist bei ihm immer mit einer spezifischen Bedeutung verknüpft und nie zufällig. Mit sicherer Hand lenkte er die Kräfte seiner hochmotivierten Musiker und wog die einzelnen Sektionen des Orchesters gegeneinander ab, sodass ein in kräftigen, stark kontrastierenden Farben strahlendes Klangbild entstand, in welchem es aber nie grob und unbeherrscht zuging.

Den zweiten Teil des Konzerts bildeten die Sieben Lieder von Nacht und Traum, ein Zyklus, den Richard Dünser aus verschiedenen, getrennt voneinander veröffentlichten Klavierliedern Zemlinskys zusammengestellt hat. Nachdem er seine Auswahl unter den Gesichtspunkten persönlicher Vorliebe und Eignung zur Orchestrierung getroffen hatte, stellte Dünser fest, dass sich alle in einer nächtlichen Szenerie abspielen oder von Träumen handeln – darum der Titel. Das Orchester entspricht demjenigen der aus dem Zweiten Streichquartett gewonnenen Kammersymphonie, erweitert um eine Harfe. Der Verschiedenheit der Gedichte, die von sieben Dichtern unterschiedlicher stilistischer Ausrichtung stammen, entspricht die Vielseitigkeit der Vertonungen Zemlinskys. Herrscht im ersten Lied (Der Traum) ein volksliedartiger Ton vor, und erinnert das zweite (Das verlassene Mädchen) an ein altdeutsches Lied der Renaissance-Zeit, so geben sich Stücke wie Um Mitternacht und Und hat der Tag all seine Qual als kleine symphonische Szenen, bei denen durchaus Richard Wagner, auf dessen Spuren Zemlinskys raffinierte Harmonik ohnehin wandelt, Pate gestanden hat. In Schlaf nur ein mischt sich mit den titelgebenden Worten immer wieder, wie von außen kommend, volksliedhafte Schlichtheit ins spätromantische Zwielicht, und Vöglein Schwermut, das letzte Lied, hebt wie ein Volkslied an, um als symphonischer Gesang zu schließen. Immer wieder beeindruckt, wie Zemlinsky durch die Begleitung Atmosphäre schafft, sei es tonmalerisch, wie in den Vogelrufen im Traum, und den nächtlichen Unwettern in Um Mitternacht und Ich geh nachts, sei es als Darstellung der sich steigernden Erregung und schließlichen Resignation im Verlassenen Mädchen. Dünsers Instrumentation trägt sehr wohl zur Vertiefung der Eindrücke bei. Er hat sich übrigens eng an Zemlinskys Klaviersatz gehalten, sodass in seiner Bearbeitung einige Stellen ungeachtet der neuen Klangfarben auffallend klavieristisch anmuten.

Die Mezzosopranistin Anne Schuldt darf man durchaus als ideale Besetzung für diese Lieder betrachten. Allgemein passt ihre kräftige, dunkel getönte und lyrisch-samtene Stimme sehr gut zur Grundstimmung der Musik Zemlinskys, doch versteht sie sich gleichfalls darauf, sich in den individuellen Charakter jedes einzelnen Liedes hineinzuversetzen und ihm zu adäquaten Ausdruck zu verhelfen. Hervorheben muss man außerdem ihre gute Textverständlichkeit. Karlheinz Siessls umsichtige Leitung bewährte sich auch hier. Das Orchester bot der Sängerin eine sehr belebte Bühne, auf der sie sich entfalten konnte, ohne fürchten zu müssen, von den Instrumenten übertönt zu werden.

Die Akademie St. Blasius kann sich diesen Abend als großen Erfolg verbuchen.

[Norbert Florian Schuck, November 2024]

Die Tradition auf neue Wege weiterführen

Die Uraufführung des bereits fünften Solokonzerts (ein Concertino mit einberechnet) von Michael F. P. Huber spielt das Orchester der Akademie St. Blasius Tirol unter Karlheinz Siessl im VIER und EINZIG in der Haller Str. 41 in Innsbruck. In der Matinée am 17. April 2016 wird außerdem das Concertino für Klavier und Orchester von Jean Françaix dargeboten sowie die Symphonie Nr. 38 KV 504, die „Prager“, von Wolfgang Amadeus Mozart.

Ein Klavierkonzert zu schreiben ist eine der schwierigsten Aufgabe für einen Komponisten. Nicht nur, dass neben dem eigentlichen Orchester auch das Klavier eine Art zweites Orchester mit umfangreichen Möglichkeiten darstellt, auch lasten unzählige große Meisterwerke auf den Schultern des Komponisten, mit denen viele Hörer das neue Werk unweigerlich mehr oder weniger unterschwellig vergleichen. Eine aufsehenerregend neue und kreative Art, mit diesen bestehenden Werken umzugehen, gelingt dem Innsbrucker Michael F. P. Huber. Der erst im vergangenen November mit dem Landespreis für zeitgenössische Musik Tirol ausgezeichnete Komponist beginnt sein Konzert mit vier Tönen, die einem überraschend bekannt vorkommen und einen geradezu verdutzen dreinschauen lassen: Doch, tatsächlich, direkt zu Beginn erklingt das eröffnende Viertonmotiv aus Tschaikowskys b-Moll-Konzert. Damit nicht genug der Anspielungen – Beethovens c-Moll-Konzert wird wie auch das zweite von Rachmaninoff in derselben Tonart zitiert, und ein Hornmotiv aus Schumanns a-Moll-Konzert. Und dies sind alleine die Werke, die ich beim ersten Hören ausmachen konnte, wie viele weitere für mich noch im Verborgenen geblieben sind, darf sich bei weiterem Hören offenbaren. „Hommage“ nennt Huber treffend diesen ersten Satz und zeigt damit, dass er einer Tradition entspringt, derer er sich gerne bewusst ist und die er eben fortführt anstatt mit ihr brechen zu wollen.

Das Klavierkonzert von Michael F. P. Huber (Autor von derzeit drei Symphonien, nunmehr fünf Solokonzerten, Vokal- und Kammermusik) bleibt seinem bisherigen Stil treu und ist trotzdem eine Weiterentwicklung dessen. Die Musik ist zweifelsohne modern, jedoch fern aller Beliebigkeiten und avantgardistischen Moden, stets erfrischt sie mit einem ansprechenden Ton ohne maßlos aufgehäuft schmerzende Dissonanzen. Formale Struktur und Entwicklung sind zentral für Hubers Werkschaffen – und so wird auch besagtes Viertonmotiv wiederkehrendes Kernelement des Kopfsatzes. Die Musik changiert zwischen polyphonem Beinahe-Chaos und klar gegliederter Ordnung, in beiden Extremata ist die bei Huber ohnehin faszinierend beherrschte Instrumentation spürbar weiter ausgereift. Das Klavier, bisher noch wenig bedacht von Michael F. P. Huber, ist virtuos und vielseitig eingesetzt mit vollgriffigen Akkorden, rasenden Läufen, Glissandi und komplexer Polyphonie. Im Mittelsatz, einem „Nocturne“, ist ihm ein selten zu hörender Partner, das Lupophon, beigeordnet – eine Bassoboe, eine Neuerfindung, welche 2011 erstmals öffentlich präsentiert wurde, und es ist eine sehr gelungene Ergänzung der Oboenfamilie, die nun mit Oboe, Englischhorn, Heckelphon und besagtem Lupophon zum vierstimmigen Satz ergänzt ist wie ein gemischter Chor. Nach dem zweiten Satz folgt ein „Capriccio“ als Finale mit schwunghaften Rhythmen, in eine sonderbare „quasi Cadenza“ einmündend, von wo aus der Satz ein offenes Ende findet.

Mit klarem und durchsichtigem Ton glänzt der Pianist und Organist Michael Schöch am Soloinstrument. In flexibler Wendigkeit stellt er sich schlagartig auf neue Situationen ein, wobei sein Spiel stets locker bleibt. Auffallend ist sein orchestrales Denken: Übernimmt er thematisches Material aus dem Orchester, so bietet er es auch mit den klanglichen Charakteristika des jeweiligen Instruments an. Fein ist entsprechend auch sein Gespür für Phrasierung und dynamische Schattierungen.

Dem Concertino von Jean Françaix belässt er einen frischen und knackig-markanten Ton, der einen Hauch von ins Chansonmilieu abgedrifteter Wiener Klassik mitschwingen lässt: Eine klangliche Wohltat für das meist viel zu romantisch und pedallastig gespielte Werk des Franzosen. Im Übrigen ist das Concertino ein hinreißend charmantes Stück, aus vier miniaturhaften Sätzen mit ansprechend-lockerer Muse zusammengefügt, wie flüchtig hingeworfen und doch merklich ausgearbeitet und fein ziseliert. Als Zugabe gibt es Ligeti, und der Hörer staunt über die rasche linke Hand, über der sich eine sangliche Oberstimme erhebt.

Eine beeindruckende Leistung ist auch wieder einmal vom Orchester der Akademie St. Blasius unter Karlheinz Siessl zu würdigen, das sich mit keinem der Stücke leichtes Repertoire ausgesucht hat. Bis hin in die undurchdringlichste Polyphonie bei Hubers Konzert bewahrt man kultivierten Klang und technische Reinheit, bleibt bei Jean Françaix klar und strukturiert und brilliert bei Mozart vor allem im gefürchteten Bläsersatz. Siessl gelingt es gar, beide Wiederholungen des Finales von Mozarts Prager Symphonie derart entstehen zu lassen, dass sie als Potenzierung der jeweils ersten Wiedergabe zu funktionieren scheinen. Insbesondere in Hubers Konzert blühen die Musiker voll auf und stellen ihr hohes Können und ihre musikalische Gestaltungskraft als Resultat ihrer langjährigen gemeinsamen Schaffenszeit mit Karlheinz Siessl eindrücklich unter Beweis.

Michael F. P. Huber wird noch eine blühende Zukunft vor sich haben. Schon bei meiner Besprechung über die Dritte Symphonie und zwei seiner bisherigen Konzerte nannte ich ihn einen der größten Symphoniker des beginnenden Jahrtausends, und auch nun in diesem Konzert bestätigt sich diese vielleicht gewagt erscheinende Aussage. An alle Orchester lässt sich nur appellieren: Spielt Huber und verbreitet seine Musik auch jenseits der Landesgrenzen Österreichs, denn sie hat es verdient, ihr habt es verdient, und wir haben es verdient!

[Oliver Fraenzke, April 2016]