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Gegen alle Vorurteile

Zeitgenössische Musik kann auch anders. In einem extravaganten Programm stellen die Violinistin Anna Kakutia, der Cellist Graham Waterhouse und der Pianist Dmitrij Romanov am 16. Dezember 2019 im Sitzungssaal der Versicherungskammer Bayern (veranstaltet von Tonkünstler München e.V.) Werke moderner bayerischer (bzw. in Bayern lebender) Komponisten vor. Das Programm beginnt mit Stigmen für Klaviertrio von Dieter Acker, es folgt die Episode von Laurence Traiger für die selbe Besetzung. Romanov spielt allein Prayers and Lullabies of the Guardian Archangel Gabriel von Dafydd Llywelyn, dessen Tod 2013 von Graham Waterhouse in seinem Stück Bells of Beyond für Klaviertrio verarbeitet wurde. Nach der Pause erklingt zunächst das Vierte Klaviertrio von Romanov, danach Duettino und Gioco per Due von Herbert Baumann für die beiden Streicher ohne Klavier. Das Programm endet mit Richard Hellers Novellette.

Schon mit dem ersten Stück, Stigmen von Dieter Acker, setzen Anna Kakutia, Graham Waterhouse und Dmitrij Romanov ein Statement: Moderne Musik muss nicht geräuschlastig, nicht formal willkürlich und auch nicht gegen das Ohr sein, sie kann auch trotz Novität gefallen! Stigmen besteht aus fünf ineinander übergehenden und thematisch zusammenhängenden Sätzen, die teils durch präzise ausgewogene Zäsuren verknüpft sind. Es herrscht ein rauer, aber zutiefst menschlicher und einladender Ton vor, der den Hörer in das Geschehen integriert. Das intensive Spiel der drei Musiker besticht: sie sehen sich nicht bloß als Reproduzenten, sondern treten in Kontakt mit der Partitur und erforschen die darin enthaltene emotionale Substanz, kosten die Pausen delikat aus und akzentuieren treffsicher die subtilen harmonischen und formalen Überraschungen.

Noch mehr bringt uns die Episode von Laurence Traiger aus dem Konzept: das ist ja tonal! Traiger beweist, dass die Tonalität noch lange nicht ausgeschöpft ist, sondern Möglichkeiten besitzt, die noch lange nicht ergründet wurden. Durch die tonale Verwurzelung, und noch mehr durch den harmonischen Beziehungsreichtum, gelingt es dem Komponisten, die Form eisern zusammenzuhalten. Auch fürchtet sich Traiger nicht davor, an etwas zu erinnern: denn kurz darauf fließt die Musik schon weiter und hinterlässt kurze Reminiszenzen an eine lange Traditionslinie, die er weiterführt. Keine Sekunde verliert er an Eigenständigkeit, er schreibt eine klare Handschrift.

Mystisch wird es in Prayers and Lullabies of the Guardian Archangel Gabriel für Klavier solo von Dafydd Llywelyn, der Glocken zu einem zentralen Paradigma seiner Musik machte. Konturlos und ohne erkennbares Material schwebt die beinahe impressionistisch anmutende Musik dahin, bringt uns in Trance und die Gedanken zum (Mit-)Wandern. Romanov überzeugt durch konzentriertes und meditativ-ruhiges Spiel, in dem jeder Akkord seinen festen Platz erhält und in sich ausgewogen wird. So überkommt die tiefsphärische Wirkung dieser Musik den Hörer. Das Stück hätte nur ein paar Minuten früher enden können, da sich der Effekt im umrisslosen Raum doch auf Dauer erschöpft.

Der Cellist des Abends, Graham Waterhouse, erhielt von Llywelyn zentrale Impulse für seine kompositorische Arbeit. In Gedenken an dessen Tod im Jahr 2013 komponierte Waterhouse sein Bells of Beyond, was auf die Glockenthematik anspielt, die wir schon in Prayers and Lullabies of the Guardian Archangel Gabriel vernahmen. Anstelle eines Requiemstücks hören wir allerdings ein lebendiges und aufgewecktes Werk, humorvoll bis sarkastisch. Die Musik wirkt teils wie ein Pool aus (scheinbaren?) Zitaten: von Smetana bis Gubaidulina mit besonderer Vorliebe für Debussys Préludes. Gerade diese (scheinbar?) bekannten oder zumindest an Bekanntes gemahnenden Motive sorgen dafür, dass die Musik eine Geschlossenheit und einen nachvollziehbaren Fluss bekommen.

Nach der Pause beginnen die Musiker mit dem Vierten Klaviertrio des Pianisten Kmitrij Romanov, das sich spröde und archaisch vor uns auftut, durch seine Sperrigkeit eine bestimmte Größe erreicht. Kontrapunktisch durchwebt und mit beachtlicher Eloquenz modulierend, spricht die Musik mehr die intellektuelle als die emotionale Seite des Hörers an.

Die jugendlichsten Stücke des Abends entstammen der Feder des 1925 geborenen Herbert Baumann: sowohl das Duettino als auch das Gioco per Due komponierte er nach seinem 90. Geburtstag! Schwungvoll sprudeln die Streicher über vor Witz, Charme und tänzerischen Elementen, überbieten sich gegenseitig an Frische und wetteifern um die strahlendste Stimme. Das ist feinste Zugabenmusik, wie man sie sich vorstellt, quirlig und vital, dabei nicht vorhersehbar oder abgedroschen, sondern in ihrer Wirkung unerhört.

Zuletzt erklingt die Novellette von Richard Heller. Dieses Stück müsste ich noch einmal hören. Nach den verspielten Duetti von Baumann war mein Gehör noch nicht auf diese tiefschürfende Musik eingestellt, um sie von Anfang bis Ende voll aufzunehmen. Hellers Trio erscheint innerlich aufgewühlt und gespickt mit schwarzem Humor. So bildet sie einen Dipol zwischen abgrundtief ernst und doch irgendwo verspielt, wenngleich auf eine beinahe makabre Art. Novellette verfolgt mich von allen Stücken des Abends bislang am längsten und ich verspüre den dringenden Wunsch, dieses Stück und andere Werke des Komponisten zu entdecken.

Bis zuletzt bewahren Kakutia, Waterhouse und Romanov die Konzentration und beglücken die Hörer mit erspürendem und detailverliebtem Spiel. Von den Schwierigkeiten der Gattung des Klaviertrios, dass das Klavier gerne die Streicher verschluckt, bemerken wir nichts: souverän findet jeder Musiker seinen Platz im Geflecht der Stimmen. Die Musiker wissen, auf was es den jeweiligen Komponisten und auf was es in der Musik selbst ankommt und sprechen den Hörer direkt an. So entsteht ein wahres Erlebnis aus Klängen, das Lust auf mehr macht.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]