Naxos 8.574152; EAN: 7 47313 41527 4
Nach der aufsehenerregenden Gesamteinspielung sämtlicher Beethoven-Sonaten 2020 setzt Boris Giltburg mit den Konzerten Nr. 3 & 4 des Bonner Meisters nun auch den Schlussstein zu seinem Konzertzyklus. Es begleitet das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko.
Wollte man das Spiel des russischstämmigen, in Israel aufgewachsenen Starpianisten Boris Giltburg charakterisieren, erscheinen sehr schnell Begriffe wie grundsolide oder seriös als zutreffend: geradezu das Gegenteil von spektakulär. Dann wären jedoch detailliert Qualitäten zu nennen, die in dieser Konzentration heutzutage ganz selten zusammentreffen: erstaunliche Tempokonstanz bei gleichzeitig atmender Agogik – sogar zwingender als beim legendären Swjatoslaw Richter. Dazu durchsichtigster, feiner Anschlag mit einem Schuss jeu perle wie bei Gieseking, vor allem jedoch die besondere Fähigkeit, Emotionalität gänzlich aus einem tiefen Verständnis des Komponierten heraus logisch zu entwickeln, ohne dabei auch nur einen Funken persönlicher Eitelkeit durchscheinen zu lassen. Das ist so in der Tat meilenweit entfernt von Künstlern wie Ivo Pogorelich, Lang Lang, Yuja Wang oder selbst Igor Levit, um nur einige schon wegen ihres eben bereits spektakulären Auftretens populäre Pianisten zu nennen.
Im Falle der Beethoven-Klavierkonzerte – kaum ein Werkzyklus dürfte durch unzählige Aufnahmen für die Hörerschaft mittlerweile derart bis ins kleinste Detail erschlossen sein – lässt Giltburgs Herangehensweise diese Meisterwerke trotzdem spannend, beinahe unverbraucht erklingen. Dass Giltburg nicht nur auf dem Podium ein wahrhaftig gestaltender Musiker ist, dazu ein exzellenter Pädagoge – man sehe sich nur die genialen Internet-Meisterklassen etwa zu Rachmaninoff an –, sondern ebenso ein befähigter Essayist, beweisen seine Booklettexte zu dieser Beethoven-Serie auf Naxos. Die sind mehr als lesenswert – gerade für Laien, denen hier nie musikalische Fachbegriffe um die Ohren gehauen werden. Mit größter Sorgfalt, Empathie und tiefen Einblicken in den viele Jahre währenden Entwicklungsprozess des eigenen künstlerischen Standpunkts gegenüber dieser Musik, beschreibt der Pianist die Stücke schon sprachlich auf höchstem Niveau.
Wer bei den vorliegenden Konzerten das Essay vor dem Anhören gelesen hat, darf zum Glück attestieren, dass Giltburg dann alles genauso gelingt, wie verbal erörtert. Katapultierte sich der Künstler 2019 mit den Konzerten Nr. 1 & 2 (Naxos 8.574151) nach Meinung des Rezensenten sofort in den Olymp der allerbesten Einspielungen und überzeugte ebenfalls mit dem Es-Dur-Konzert (Nr. 5, Naxos 8.574153), durfte man gespannt auf die beiden verbliebenen Werke sein, innerhalb des Zyklus offenkundig die Lieblingsstücke des Pianisten.
Das c-Moll Konzert wirkt bereits in der Orchestereinleitung niemals dick, die Phrasierung – bei sich wiederholenden Motiven wird die Dynamik eben beim dritten Mal meist zurückgenommen – ist stets Beethoven-gerecht. Das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko agiert wie auf den bisherigen CDs der Reihe als exzellenter Begleiter, freilich mit typisch britischer Routiniertheit, die kaum Überraschungen bietet. Allerdings entdeckt Petrenko gerade im 3. Konzert jeden noch so kleinen motivischen Anklang auch in den Mittelstimmen. Giltburg gestaltet den Solopart im ersten Satz zwar nachdrücklich bedrohlich, lässt der Musik aber immer wieder den nötigen Raum zur Entspannung, so dass man staunt, wie sehr sich selbst ein derart düsterer Topos doch ganz aus dem Geist der Improvisation vielschichtig zu entwickeln vermag. Im zweiten Satz – wiederum im exakt richtigen Tempo – werden die unzähligen kleinen Notenwerte zelebriert, ohne den intimen Charakter je zu stören: eine wunderschöne Insel der Ruhe. Im Rondo wählt man ein nicht zu schnelles Tempo, bleibt dennoch virtuos und spritzig. Die Presto-Coda wirkt keck, ohne den Rahmen zu sprengen.
Das vierte Konzert – pianistisch ja bekanntlich das anspruchsvollste der fünf – wurde erst im April 2022, also nach der Corona-Krise, aufgenommen. Selten hat man die klanglichen Delikatessen im Klavier derart bewusst, zugleich völlig locker gehört: Von für Beethoven ungewöhnlicher Introvertiertheit im Kopfsatz und einem sagenhaft angstvollen Klagegesang im Andante – von fast überpointiert scharfen, eiskalten Orchestereinwürfen unnachgiebig kleingehalten – wird so der zunächst zögerliche Beginn des Finales umso glaubhafter, steigert sich erst allmählich zu „reiner Lebensfreude“ (Giltburg) – Beethovens Teleologie in grandioser Umsetzung. Die Kadenzen beider Kopfsätze erfasst Giltburg mit faszinierender Überlegenheit und formaler Übersicht: Trotz ihrer Längen geraten sie unter seinen Händen deshalb auch nicht zu Fremdkörpern, vielmehr zu herrlich epischen Klaviererzählungen, die den emotionalen Gehalt des Materials nochmals überhöhen.
Der Fazioli-Flügel glänzt inmitten der wohl eher kleinen Orchesterbesetzung mit feinen Klangfarben – und Naxos kann hier einmal mehr aufnahmetechnisch mit den alteingesessenen Labels tadellos mithalten. Keine Referenzeinspielung – falls bei diesem Repertoire überhaupt noch so etwas auszumachen wäre –, jedoch unbestreitbar Weltklasseniveau mit tief empfundenem, erfülltem Musizieren, das den Geist Beethovens durchgängig verständlich macht. Daher auch eine eindeutige Empfehlung an alle, die schon ein paar gute Aufnahmen der Konzerte ihr Eigen nennen: Diese hier macht echt Laune.
[Martin Blaumeiser, August 2023]