audite 95.741; ISBN: 4 022143 957412
Kürzlich erschienen bei Deutschlandradio Kultur Mitschnitte der 1950er- und 60er Jahre mit Weihnachtsliedern aus aller Zeit, gesungen von Größen dieser Zeit wie Dietrich Fischer-Dieskau, Rita Streich, Elisabeth Grümmer, Erna Berger und vielen mehr.
Bereits zum zweiten Mal veröffentlicht das Label audite eine CD, die Weihnachten mit historischen Aufnahmen zelebriert – nach „Stille Nacht“ mit dem RIAS Kammerchor unter Uwe Gronostay. historisch insofern, als auch hier Beiträge zum Fest der Liebe aus den Aufnahmestudios der RIAS, aufgenommen 1972 bis 1986, herausgegeben wurden.
Nun, in der vorliegenden Sammlung, geht das Label noch zwei Dekaden weiter zurück und präsentiert Weihnachtslieder und –duette aus den Archiven zwischen 1950 und 1964. Allgemein ist erstens zu loben, dass RIAS und audite trotz der großen zeitlichen Distanz hier eine hervorragende Aufnahmequalität vorlegen können. Schließlich waren die Bedingungen zur Herstellung eines Mitschnittes so kurz nach dem Krieg nicht gleich die besten, wie man dem schönen und bewusst kurz gehaltenen Booklettext von Rüdiger Albrecht entnehmen kann. Und zweitens kommt, trotz einiger zeittypischen musikalischen Manierismen, keine falsche Nostalgie oder gar Schwulst auf, was sowohl der behutsamen Bearbeitungspraxis der Lieder als auch kompetenten Künstlern zu verdanken ist. Und drittens sind auf dieser CD die bloße Ansammlung heutiger Weihnachtsdauerbrenner wie Jingle Bells und deren abgestumpfter Varianten vergeblich zu suchen! Vielmehr finden sich neben den volkstümlichen Liedern (darunter natürlich auch bekanntere wie Es wird schon gleich dunkel) einige Neuentdeckungen (wie das Duett Christlied von Johann Friedrich Reichardt) oder moderne Eigenschöpfungen wie Stille Nacht von Charlotte Kaufmann – nicht zu verwechseln mit dem populären Lied aus dem Salzburger Lungau.
Den Anfang macht das Hendel-Quartett (unter dessen Primarius Georg Friedrich Hendel) mit der Altistin Annelies Westen. Sehr stimmbetont, bisweilen etwas altlastig, aber mit Einfühlungsvermögen und dezenter Streicherbegleitung sind es vier Marienlieder (wie auch Maria durch ein’n Dornwald ging), die in die besinnlich-kammermusikalische Thematik der CD einführen. Zeitbedingt wohl mögen die leichten Silbenschleifer sein, die daraufhin Maria Reith sich in Maria auf dem Berge in ihrer Darbietung leistet, dennoch ist auch sie weit weg von glattem Perfektionismus und singt dezent emotional und nuancenreich. Ein bisschen an Elisabeth Schwarzkopf erinnert Gunthild Weber mit ihrer Stimmfarbe in den beiden darauffolgenden Wiegenliedern, und auch sie singt sehr lyrisch. In den bereits erwähnten Liedern von Christine Kaufmann weiß die junge Rita Streich die moderne harmonische Färbung mit einem hochsensiblen, elegischen Ton sehr stimmig zu erfassen. Spätestens bei den folgenden vier Duetten mit Ursula Lüders (Sopran) und Josephine Varga (Alt) sollte zu hören sein, wie kunstvoll die damaligen Arrangeure wie Albert Becker bekanntere Weihnachtslieder wie Joseph, lieber Joseph mein bearbeitet haben, ohne jemals deren schlichten Charakter zu entstellen. Wie bei dem Niveau der vorhergehenden Nummern zu erwarten, stimmt auch hier im Wesentlichen alles, vor allem die stimmliche Chemie zwischen beiden Sängerinnen.
Sind die Lieder der ersten CD-Hälfte bislang auf kammermusikalische oder Tasten-Begleitung beschränkt gewesen, so erklingt in Das himmlische Menuett erstmals ein Orchester, hier das Radio-Orchester Berlin unter dem legendären Fried Walter. Rüdiger Albrecht bezeichnet dieses Orchesterlied als „ein Kuriosum. Es zeigt uns tanzende Engel im Himmelssaal, die das Jesuskind zu freudigsten Sprüngen animieren.“ Auch wenn es sich bei diesem Tanz um eine Ausnahme handelt, was die Liedgattung anbelangt, so kommt doch selbst hier ein eher liedhafter Charakter zum Vorschein. Obgleich der Text sehr süßlich und naiv erscheint, weiß zum einem der Komponist Mark Lothar dank erlesener, leichter Instrumentierung Kitsch zu umgehen, zum anderen schafft Erna Berger mit ihrem gleichermaßen kräftigen wie kindlichen Sopran eine feinsinnige Balance zwischen Leichtigkeit und verhaltenem Ernst. Danach folgen wieder etliche Lieder, die sich der Betrachtung des Jesukindes widmen. Dementsprechend erklingt wiederum spärliche Begleitung, wie zum Beispiel zurückhaltende Lautentupfer, mit denen Gerhard Tucholski Margot Guilleaume in zwei Wiegenliedern begleitet. Die Stärke dieser beiden Beiträge liegt neben der Schmucklosigkeit in der Textverständlichkeit.
Deutlich farbiger sind die weiteren Nummern, die Walther Ludwig und dem jungen Dietrich Fischer-Dieskau, der dieses Jahr 90 geworden wäre, vorbehalten sind. Für eine pastorale Atmosphäre sorgen in Kommt all herein, ihr Engelein ausgesuchte Instrumente wie Fagott und Englischhorn nebst drei Streichern, während Ludwig dieses Idyll mit seinem etwas zu ausgeprägten Heldentenor dominiert. Ausgeglichener und schlichter, dafür zäher im Fluss klingt er in O Jesulein mild, o Jesulein zart. Der unverkennbare Ton Fischer-Dieskaus bestimmt drei weitere Beiträge, stets begleitet vom Streichquartett Berlin (Primarius: Rudolf Schulz). Obgleich der berühmte Bariton schon hier künstlerische Reife erlangt hatte und den Liedern eine wehmütige Schönheit verleiht, entsteht durch sein Timbre und seinen betonungsstarken Textvortrag ein etwas pathetischer Eindruck, der der weihnachtlich-schlichten Atmosphäre einen einigermaßen hölzernen Beigeschmack verpasst.
Dafür überzeugen wieder die kammermusikalischen Arrangements von Von Himmel hoch, ihr Engel kommt und Es ist ein Ros entsprungen, die ihre Lieblichkeit den beiden Blockflöten und dem lyrischen Sopran Elisabeth Grümmers verdanken. Die letzten drei Nummern dürfen zwei Klangkörper des RIAS der frühen 1960-Jahre bestreiten. Zunächst begeistert das Studioorchester mit einer luziden Version Herbert Baumanns von Ave Maria zart, du edler Rosengart. Bei so vielen Sopranen könnte es zwar schwerfallen, individuelle Künstler zu erkennen, doch selbst Lisa Otto, die letzte neue Sängerin auf dieser CD, überzeugt in nur zwei Minuten völlig dank ihrer unaufgeregten Stimme und Tongebung. Das Unterhaltungsorchester des Studios, wiederum mit Rita Streich, schließt direkt an. Die Überraschung ist hier, dass ein einziges Mal ein deutlich größeres Orchesteraufgebot erklingt, vor allem in der Einleitung zu Süßer die Glocken nie klingen. Jedoch bleibt auch hier die Singstimme im Vordergrund und Streich beweist ihre stimmliche Bandbreite im Unterschied zu ihrer Darbietung der Kaufmann-Lieder. Einen würdigen Abschluss mit den gleichen Künstlern bereitet eine feine Version des sonst eher monumentalen Lutherliedes Vom Himmel hoch.
Eine wunderschöne Weihnachtslieder-Sammlung, die durch ihren Facettenreichtum und ihren durchweg weihnachtlichen und zarten Charakter begeistern dürfte. Erfreulich ist zumal die Tatsache, dass all die genannten großen Sänger von damals trotz ihres vollen Terminkalenders Zeit fanden, ihre Musikalität in den Dienst des Christfestes zu stellen. Eine musikalische Bereicherung nicht nur für den Heiligen Abend !
[Peter Fröhlich, Dezember 2015]