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Raus aus der Komfortzone: Karina Cannelakis verfolgte in Hamburgs Elbphilharmonie eine klar definierte Mission

Beethoven wollte aufbegehren und Grenzen sprengen. Der polnische Komponist Witold Lutoslawski hörte seismografisch die Verwerfungen eines unruhigen Zeitalters, um sich in seinem viel zu selten gespielten Orchesterkonzert kraftvoll darüber zu erheben. Die amerikanische Dirigentin Karina Cannelakis stand zum Ersten Mal in der Elbphilharmonie auf dem Dirigentenpult und zeigte sich selber überwältigt von dieser Komposition. Emotionen, die sie ungefiltert ans hochmotivierte NDR-Sinfonieorchester und das Publikum in der Elbphilharmonie weitergab!

NDR Sinfonieorchester – Foto: Nikolaj Lund | NDR

Symbolträchtig laufen solch verschiedene Fäden in der Hamburger Elbphilarmonie zusammen. Bemerkenswert beim Gastspiel mit der vielgefragten US-Dirigentin und einem bestens motivierten NDR-Sinfonieorchester: Das wohlfeile „Sandwich-Prinzip“, bei dem die klassischen Werke die modernen Programmpunkte sicher „umrahmen“, ist an diesem Morgen umgedreht. Webern – zweimal Beethoven- schließlich Lutoslawski  – soll die Dramaturgie sein. 

Ganz unproblematisch ist diese Reihenfolge nicht: Zu einem sensiblen Drahtseilakt bei diesem Matineekonzert – dem zweiten Termin mit diesem Programm – geraten Anton Weberns „Sechs Stücke“ zu Beginn. Der wohl puristischste Vertreter der Zweiten Wiener Schule hat in radikaler Zuspitzung sämtliche orchestralen Ausdrucksmittel aus jeder Weitschweifigkeit herausgelöst und komprimiert so etwas in hochverdichteten Miniaturen, die sich auch gerne mal in berstende Tutti-Ausbrüche hinein steigern. Karina Cannelakis Mission in der Elbphilharmonie ist klar definiert: Geht es doch darum, mit lebhafter Gestik das Orchester vom ersten Ton an aus jeder Komfortzone heraus zu holen. Das gibt allerdings den Webernschen Klangskizzen eine gewisse Überspanntheit, wo mehr atmende Kontemplation und mehr Versenkung einen Zustand des Tastens und Suchens markiert hätte.

Wenn sich Kammermusiker in Beethovens Tripel-Konzert Opus 56 zur gemeinsamen „Solistenrolle“ vor einem Orchester vereinen, kann, ja muss eine intensive Interaktion die Folge sein. Christian Tetzlaff, Violine, seine Schwester Tanja Tetzlaff, Violoncello, und der Pianist Lars Vogt erweisen sich in der Elbphilharmonie als charaktervolle Protagonisten, bei denen die persönliche Chemie noch mehr wiegt als die – sowieso vorhandene – spielerische Weltklasse. Karina Cannelakis schwört erstmal jeder Kraftstrotzerei am Dirigentenpult ab, lässt geschmeidige Bögen modellieren, was einer feingliedrigen Differenzierung umso mehr Raum gibt. Das braucht es auch für die aspektreiche Konversation des Solisten-Dreigestirns mit allen Zwischentönen und Doppelbödigkeiten. Christian Tetzlaff lässt seine Violine in hohen Lagen leuchten und strahlen. Seine Partnerin am Cello bedient die Mittellage mit nobler Eleganz – und zwar ohne das Geschehen zu sehr an sich zu reißen, was bei der Cellostimme in dieser Komposition naheliegend schiene. Lars Vogt am Flügel fokussiert sich darauf, die Musik dieses von nun an wohl pausenlos gefeierten Komponisten für die Gegenwart zu reflektieren. Erfrischend freigeistig und impulsiv, ja manchmal fast aufrührerisch sucht das Spiel von Lars Vogt nach Überraschungsmomenten.

Gut, dass nicht immer dann aufgehört wird, wenn es am schönsten ist: Mit noch mehr beseelter Wärme geht es ohne Orchester weiter, um dem jubelnden Publikum mit dem Dritten Satz aus Dvoraks gefühlvollem Dumky-Trio eine Zugabe zu schenken. 

Karina Cannelakis – Foto: Mathias Bothor

Dann wieder Beethoven: Messerscharf fokussiert sich eine nun verschlankte  Orchesterbesetzung auf die vergleichsweise selten zu hörende „Ouvertüre zu Coriolan“ Opus 61. Fast physisch spürbar sind die Crescendi, die aus dieser atmenden Präzision hervorgehen – so geht eine gelungene Symbiose aus Dirigent, Klangkörper und Aufführungsraum. Und ja: Eigentlich wäre diese Beethoven-Ouvertüre als beflügelndes Eröffnungsstück die perfekte Wahl gewesen. Das Programm komplett in einen klassischen Teil vor der Pause und einen modernen danach zu splitten, scheint jedoch nach wie vor ein Wagnis in Bezug auf das Publikumsverhalten.

Witold Lutoslawkis „Konzert für Orchester“ heißt so, weil eben das Orchester zum kompromisslos expressiven Akteur wird. Von maximaler, schonungsloser Direktheit soll keine sinfonische Konvention ablenken, etwa in Gestalt von ruhigen Mittelsätzen. Genau dies ist Sache von Karina Cannelakis: Gleich zu Beginn fordert sie den NDR-Sinfonikern ein straffes Tempo ab. Das gibt der treibenden Rhythmik einen unerbittlichen Puls, lässt Klangereignisse aus allen Richtungen aufbliltzen, sorgt für perkussive Wucht und  schneidende, manchmal collagenhafte Übergänge. Plastisch verzahnt sind die Instrumentengruppen in den weitgespannten polyphonen Parts und die stampfenden tiefen Streicher im berühmten Hauptthema des ersten Satzes entfalten ihre hypnotisch-dunkle Dramatik. Berühmt ist das Thema, weil es als Titelmelodie für das altehrwürdige ZDF-Magazin vereinnahmt wurde und damit zweifellos das beste an dieser Sendung war. Aber hier passiert mehr, viel mehr. Auch blitzen Strawinsky-Zitate auf in dieser aufregenden Gratwanderung zwischen osteuropäischer Tonalität und früher Moderne, zwischen sarkastischer Doppelbödigkeit und Pathos. Ebenso wie Schostakowitsch schuf auch Lutoslawski dieses Meisterwerk unter dem Verfolgungsdruck einer totalitären Zensurbürokratie im Polen der 1950er Jahre.

Karina Cannelakis und das Orchester halten den Spannungsbogen mit bezwingender Urgewalt durch – bevor dieser nach über 30 Minuten ebenso atemlos und abrupt endet, wie er begonnen hat. Die Zeitumstünde dieser Komposition waren düster. Geblieben ist große Musik, die in der Elbphilharmonie einmal dazu beitrug, sich lebendig zu fühlen.

Vermächtnis

Ondine, ODE 1310-2; EAN: 0 761195 131022

Tanja Tetzlaff und Gunilla Süssmann spielen die Werke für Cello und Klavier des finnischen Komponisten Einojuhani Rautavaara, der dieses Jahr 90 Jahre alt geworden wäre. Neben den beiden Sonaten für Cello und Klavier und der Sonate für Cello Solo sind die Zwei Präludien und Fugen, das Lied ‚Meines Herzens’ und die Polska für zwei Celli (beide Cellopartien im Overdubverfahren von Tanja Tetzlaff eingespielt) und Klavier zu hören.

Wir erfreuen uns am künstlerischen Vermächtnis des 2016 verstorbenen Finnen Einojuhani Rautavaara für Violoncello und Klavier, und nehmen zugleich vielleicht – was nicht zu hoffen ist – auch hiermit Anteil am künstlerischen Vermächtnis von Gunilla Süssmann, die aufgrund einer fokalen Dystonie um die Beweglichkeit ihrer rechten Hand bangen muss.

Einojuhani Rautavaara fand in den 1960er Jahren zu eigener Sprache und damit verbunden zunehmender Popularität, als er mit der Avantgarde abschloss und Pionier einer neuen Bewegung wurde, die heute oft als Post-Moderne bezeichnet wird. Unter diesem kaum definier- oder abgrenzbaren Begriff versteht man meist eine Symbiose neuer und alter Stilmittel. Konkret in Rautavaaras Fall könnte man von einer Zusammensetzung sämtlicher „Neo“-Stile sprechen, die allesamt Anwendung finden und doch nie den eigentlichen Kern ausmachen, gepaart mit Effekten der Moderne und düster-finnischem Gestus. Rautavaara nutzte beispielsweise Cluster als melodische Elemente, bemerkenswert unter anderem im ersten Klavierkonzert (heute als Pionierwerk geltend) oder auch in der ersten Cellosonate. Er spricht in einem unverwechselbaren Tonfall, melancholisch, bedrückend, voll im Klang und mit gewissem Pathos. Die dadurch entstehende Stimmung ist die eines ständigen „De Profundis“. Direktheit und geradezu ‚Nacktheit’ kennzeichnen die Musik, die Spieler wie Hörer körperlich und geistig herausfordert.

Fest verbunden, ja verschmelzend wirken die beiden Musikerinnen zusammen, Atem wie Herzschlag genauestens aufeinander abgestimmt. Frontal gehen sie auf den Hörer zu und verbergen nichts von den beinahe barbarischen Zügen der ehrfurchtgebietenden Tonlandschaften. Die Ursprünglichkeit der Musik Rautavaaras kommt eindrucksvoll zum Ausdruck. Leidenschaft und Einfühlungsvermögen der beiden sind offenkundig und stellen die Musik unverfälscht dar, ohne sich durch die virtuosen Höchstleistungen nur eine Sekunde lang veräußerlichend aufzudrängen.

Sachlich informativ ist der Booklettext von Kimmo Korhonen und emotional berührend das Geleitwort der beiden Musikerinnen zu ihrem Zugang zu Rautavaaras Musik.

[Oliver Fraenzke, Februar 2018]