Schlagwort-Archive: SWR Music

Beachtenswerte Gegendarstellungen

SWF music, SWR19060; EAN: 7 47313 90608 6

SWR music publiziert eine CD mit dem Klavierrezital des französischen Pianisten Samson François vom 3. Mai 1960. Auf dem Programm stehen zwei Lieder ohne Worte (op. 67/5 und op. 62/6) von Felix Mendelssohn, die Nocturne f-Moll op. 55/1 sowie die Klaviersonate Nr. 2 b-Moll op. 35 von Frédéric Chopin, drei Preludes von Claude Debussy (La danse de Puck, La cathédrale engloutie, Feux d’artifice) und die 7. Klaviersonate B-Dur op. 83 von Sergei Prokofieff.

Oberflächlich bekannt als enfant terrible, als glänzender Virtuose und dem Alkohol zugeneigter Nachtschwärmer, vergisst man gerne die unvorstellbare musikalische Potenz von Samson François. Der Pianist starb bereits im Alter von 46 Jahren an den Folgen eines zwei Jahre zuvor erlittenen Herzinfarkts und wir können nur erahnen, was wir von ihm noch hätten erwarten können. Vorliegende CD gibt uns ein umfangreiches Bild seines Schaffens, wir hören ein Rezital vom 3. Mai 1960, welches er also kurz vor seinem 36 Geburtstag spielte.

Samson François war ausgestattet mit einem genuinen Gespür für musikalischen Ausdruck; er wusste genau, wie viele Freiheiten er sich lassen konnte, um die Musik zur vollen Entfaltung zu bringen, so dass sie weder zum Museumsstück noch zum persönlichen Stimmungsgemälde degradiert wird. Bei aller Wildheit bleibt dabei die Struktur klar und die Linien nachvollziehbar, die innermusikalischen Kontraste deutlich. François spürte die Intention des Komponisten auf und brachte diese ans Licht, wodurch er verblüffende Gegendarstellungen zu den landläufigen Vorträgen der Stücke schuf.

Das Programm wählte Samson François geschickt und abwechslungsreich, so dass es gut am Stück durchhörbar ist, ohne, dass die Aufmerksamkeit schwindet. Er beginnt mit zwei Liedern ohne Worte von Felix Mendelssohn und einem Nocturne Chopins, in denen er je seine lyrische Seite präsentiert, schlichter und sanglicher Vortrag von reinster Schönheit. Bei Chopins Nocturne pedalisiert er ausgesprochen wenig, um die Staccato-Artikulation der linken Hand zum Vorschein zu bringen. Die einzelnen Formteile setzt er durch starke Ritardandi voneinander ab, hält ansonsten das Momentum jedoch aufrecht – was in einer herrlich unverträumten Darstellung des Nocturnes resultiert, die dennoch nicht weniger sinnlich ist. Die zweite Klaviersonate hält François formal streng zusammen und strafft sie sichtlich, nicht zuletzt durch Auslassung sämtlicher Wiederholungen. Im Grave sticht der graduelle Aufbau am Anfang hervor, im Scherzo die enormen Kontraste zwischen den einzelnen Teilen. Der Marche funèbre erklingt tatsächlich einmal als Marsch und nicht wie gewohnt als Trauergesang! Dies gelingt François durch eine markige linke Hand, so dass die Tiefen sonor heraufklingen und nicht beiläufig unter der Melodie verlorengehen, und durch präzise Rhythmik – so darf der Mittelteil auch ein wenig sanfter dagegenwirken. Das Finale rauscht beinahe konturlos und rasend schnell (1:05!) an uns vorüber; und doch nehmen wir eine unterschwellige Bogenform wahr bis zu einem kurzen Sforzato und sofort wieder zurück. Glänzende Virtuosität, aber mit musikalischem Impetus.

Debussy wollte die Titel seiner Preludes ursprünglich gar nicht abdrucken, entschied sich aber auf Wunsch des Verlegers doch dafür. Eine gute Entscheidung, denn die Stücke strahlen eine derartig hypersensitive Bildlichkeit aus, dass die Titel beinahe unentbehrlicher Bestandteil werden – zumindest zur Vollendung der Imagination. Diese Bilder setzt François präzise um und lässt die Subjekte der Preludes regelrecht im Geiste auferstehen (ich glaube, selbst ohne Wissen um die Titel, doch das kann ich nicht beurteilen). Wie lebendig und keck springt der kleine Puck umher, und wie farbenprächtig strahlt das Feuerwerk voller Spielfreude und Flexibilität. Zum Geniestreicht wird vor allem aber die cathédrale engloutie, deren Aufsteigen und wieder Hinabtauchen wir förmlich miterleben. Dabei überspielt François geschickt den notwendigen Tempowechsel vor dem volltönenden Höhepunkt durch langes Accellerando und hütet sich davor, aus dem zweiten Fortissimo noch einen Höhepunkt zu machen, was der Gesamtstruktur sehr zugute kommt. François erlaubt sich sogar kleine Änderungen des Notentexts inklusive einer neuen Bassnote im Höhepunkt, die jedoch durchaus Sinn ergibt, da man so den Bass komplett durchhört und die tiefe Ebene nicht zwischenzeitig entschwindet.

Die siebte Prokofieff-Sonate hören wir heute meist als wild hämmerndes Getöse ohne Sinn und Struktur. Bei François geht es nicht weniger wild zu – eher im Gegenteil – und doch vernehmen wir jede Linie glasklar und den Verlauf schlüssig. Auch hier zieht der Pianist den Reiz aus innermusikalischen Kontrasten, wobei er die Andante-Passagen nicht verträumt, sondern im gleichen Precipitato-Trieb hält, der sich im Finale wörtlich niederschlägt. Die teils unterschwellige Polyphonie bleibt luzide und jede Stimme erhält ihren festen Platz.

Virtuosität und Brillanz müssen nicht gleichbedeutend sein muss stumpfen oder unmusikalischem Spiel. Viel zu oft ist dies ein „entweder, oder“, nicht jedoch bei Samson François. Und genau deshalb lege ich diese Aufnahme alldenjenigen ans Herz, die trotz unbändigem Ausdruck nicht auf das verzichten wollen, was Musik eigentlich ausmacht – denn diese beiden Pole sind vereinbar, wie wir hier eindrucksvoll hören.

[Oliver Fraenzke, Juni 2019]

Endlich wieder da: Stárek in Kaiserslautern

SWR music, EAN: 747313950188 /   Kat.-Nr.: SWR19501CD

Antonín Dvořák – Slawische Tänze Opp. 46 & 72; SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern, Jiří Stárek (Leitung)

Das Label des SWR veröffentlichte vor kurzem die ersten Titel einer neuen Low Budget-Serie, bei der man schon für wenige Euro in den Genuss (?) von Aufnahmen der SWR-Orchester und der einstigen SWR-Chefdirigenten kommen kann. Neben den üblichen Verdächtigen (Norrington, Bour, Cambreling, Prêtre) kommen nun auch einige Aufnahmen eines Dirigenten wieder zum Vorschein, der zu den regelmäßigen Gastdirigenten beim SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern zählte und einige der besten Einspielungen beim SWR-Label vorlegte: Jiří Stárek.

Ob es nun daran lag, dass Stárek die Ehre zu Teil wurde, sowohl unter Václav Talich als auch unter Karel Ančerl studiert zu haben oder ob es andere Einflüsse gewesen sein mögen: Stárek war jedenfalls ein Vollblut-Könner von Format. Dies beweist kaum eine andere Aufnahme besser, als die Gesamt-Einspielung von Dvořáks wunderbaren Slawischen Tänzen Opp. 46 und 72: Hier stimmt einfach alles. Nicht nur sind die Einsätze des fantastisch spielenden SWR Rundfunkorchesters Kaiserslautern hyper-exakt und „auf den Punkt“, sondern vor allem die Dynbamikbandbreite ist ganz außergewöhnlich. In einem Repertoire, das viele Dirigenten meist eher „so abspulen“, entdeckte Stárek reichlich Dynamikabstufungen und feinste Klangfarben, die im Zusammenwirken eine ungeheure Spannung ausmachen.

Die vorliegende Aufnahme ist eine der allerbesten Einspielungen von Dvořáks Slawinschen Tänzen, die es auf dem Markt gibt, und nun zu einem unverschämt günstigen Preis zu haben. Wer würde da noch lange zögern? Und wer denkt, bei einem einschlägigen tschechischen Label würde er besser fündig, sollte hier zuerst einmal ein Ohr riskieren, denn in der SWR-Einspielung paart sich eine Interpretation, wie man sie auch bei den tschechischen Doyens der Vergangenheit nicht besser findet mit einer atemberaubenden Soundtechnik, die auch höchste Hifi-Ansprüche zufriedenstellt. Es ist das Gesamtpaket, das zählt. Und dieses Gesamtpaket ist in dieser SWR-Aufnahme bemerkenswert gut, ich würde fast sagen: konkurrenzlos gut.

[Grete Catus, August 2018]

   Bestellen bei jpc

Wunderlich, wie wunderlich

Fritz Wunderlich: Musik vor Bach; Operetten-Arien; Schlager aus den 50ern

Ulrich0075 Ulrich0076 Ulrich0077

SWR Music, SWR 19051 / SWR 19038 / SWR 19029; EAN: 7 47313 90518 8 / 7 47313 90388 7 / 7 47313 90298 9

Wir hören Fritz Wunderlich in drei Einspielungen, welche die Vielfalt seiner Stimme auf unterschiedlichste Weise präsentieren: Auf der CD „Musik vor Bach“ finden sich Werke von Ludwig Senfl (1486-1543), Arnt von Aich (1510), Paul Hofhaimer (1459-1537), Heinrich Isaac (1450-1517), Erasmus Lapicida (ca.1450-1547), Adam Rener (1482-1520), Adam von Fulda (ca. 1445-1505), Alessandro Grandi (ca.1575/80-1630), Heinrich Schütz (1585-1672), Johann Rosenmüller (1619-1684), Christoph Graupner (1683-1760), Dietrich Buxtehude (1637-1707) und Johann Philipp Krieger (1649-1735); eine CD mit „Operetten-Arien“ beinhaltet Arien von Franz Lehár (1870-1948), Emmerich Kálmán (1882-1953), Leo Fall ( 1873-1925), Jean Gilbert (1879-1942), Hans May (1886-1958), Ralph Erwin ( 1896-1945), Robert Stolz (1880-1975), Walter Triebel (1908-1951), Nico Dostal (1895-1981), Richard Tauber (1891-1948), Charles Emmerich Kálmán (1929-2015); eine dritte präsentiert verschiedene „Schlager aus den 50ern“.

Mein erstes Erlebnis mit Fritz Wunderlich: 1962 (?) im Münchner Prinzregententheater, „Die Entführung aus dem Serail“ mit Fritz Wunderlich als Belmonte! Glücklicherweise gibt es diese Aufführung inzwischen auch als Konserve zum Nachhören und sich daran Freuen.

Aber das, was derzeit aus den Archiven des SWR auf CD neu erscheint, ist gelinde gesagt eine Sensation: Dass Fritz Wunderlich  Bach, Mozart usw. gesungen hat, ist allbekannt, aber dass er – vor allem in seiner Anfangszeit in Freiburg, das damals ein Zentrum für Alte Musik war, allerdings noch nicht historisch-hysterisch „verbrämt“ – auch Stücke von Ludwig Senfl, Heinrich Schütz, Johann Rosenmüller und anderen vorbachischen Zeitgenossen gesungen, und vor allem wie er das gesungen hat, ist eine Entdeckung ersten Ranges. Schon damals hatte die Stimme jenen „wunderlichen“ Glanz, jene mühelose Höhe bis hin zum Falsett, und vor allem hatte er diese unglaubliche Musikalität in sich, die alle seine Aufnahmen wieder und wieder zeigen und beweisen. Ob als Solist begleitet von einem Streichquartett – wie bei den Lieder von Senfl und Zeitgenossen – oder als Mitglied eines Gesangs-Ensembles, immer wieder besticht seine Fähigkeit, sich dem Gesamtklang einzufügen, ohne seine stimmliche Individualität zu verleugnen oder über Gebühr zu betonen. Auch die makellose Textverständlichkeit – bei ach so vielen Sängerinnen und Sängern ein unverzeihliches Manko – ist bei Fritz Wunderlich natürliches Merkmal, bei aller Stimmschönheit ist sie stets dabei, wenn sich Musik und Poesie geschwisterlich vereinen. Erst dann, und das zeigen diese drei CDs mit Musik vor Bach, Operetten-Arien und deutschen Schlagern der 1950er Jahre. ist das Gipfel-Erlebnis möglich in dem Sinne, in welchem Hans Gal in seinem Buch über „Schubert und die Melodie“ spricht.

Und dann ist es auch völlig gleichgültig, ob Fritz Wunderlich Klassisches oder  „Unklassisches“ wie Operetten oder Schlager singt. Es gibt eben nur zwei Arten von Musik, und zwar nicht E-Musik und U-Musik – eine völlig blödsinnige Unterscheidung meines Erachtens –, sondern gute und schlechte Musik. Und wenn solch ein Ur-Musiker und Ur-Musikant, wie Fritz Wunderlich einer war, der übrigens auf einigen Takes auch selbst Trompete spielt und ursprünglich Horn studierte vor seiner Gesangsausbildung, wenn so einer sich an Lieder von alten Komponisten, Kompositionen mit vorbachischer geistlicher Musik, Operetten von Lehár, Kálmán und anderen oder gar an damals so populäre Schlager macht, dann werden diese zu Diamanten und es ist ein Vergnügen, sich all diese Überspielungen alter SWR-Mitschnitte wieder und wieder zu Gemüte zu führen – zumal so besonnen und bedacht „restauriert“ von zwei Könnerinnen bzw. Könnern, nämlich Gabriele Starke und Boris Kellenbenz, denen dafür unser spezieller Dank gebührt..

[Ulrich Hermann, Februar 2018]

 

Swinging Cello

SWR Music, Vertrieb: Naxos, SWR19002CD; EAN: 7 47313 90028 2

Cellowerke des 1937 geborenen Nikolai Kapustin werden dargeboten von Christine Rauh. Ihre Mitstreiter sind der Altsaxophonist Peter Lehel, der Pianist Benyamin Nuss, die Schlagzeugerin Ni Fan am Vibraphon sowie die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Leitung von Nicholas Collon.

Kann man diese Musik in den Bereich des Jazz einordnen, oder gehört sie doch eher in die klassische Sparte, ist sie gar beides zugleich oder keines davon? Das Œuvre des ukrainischen Komponisten und Pianisten Nikolai Kapustin wirft immer wieder diese Fragen auf. Selbst sah sich Kapustin nie als einen Jazzpianisten, doch sagte er zugleich, er müsse dies sein, alleine wegen des Komponierens. Meist sind verschiedene der unzähligen Klavierkompositionen Kapustins zu hören, nicht bekannt hingegen sind die Werke für andere Instrumente. Dem entgegenwirkend spielte nun Christine Rauh Werke für das Violoncello ein.

Die Cellistin trumpft auf mit einer unbändigen Leichtigkeit und Spielfreude auf, die fröhlich springend beinahe an eine Operettensängerin erinnert, die mit keckem non legato ihren Ambitus austestet und dabei jeden Ton als singuläres Ereignis genießt. Auch gelingt Rauh eine selten klare und reine Tongebung auch in den hohen Lagen. Das Cantabile beherrscht die Solistin ebenso in überzeugend natürlicher und feingliedriger Weise, überrascht dabei mit recht wenig und dafür flexibel den Gegebenheiten angepasstem Vibrato, wodurch sie einem Großteil ihrer Kollegen um Längen voraus ist, bei welchen ein mechanisches Vibrato in unverhältnismäßig großem Ambitus der Regelfall ist. Allgemein ist Christine Rauh ein unverkennbarer Feinsinn zuzuschreiben, mit wachem und gewandtem Geist den musikalischen Charakter zu erfassen und unmittelbar mit dem Klang ihres Cellos darauf zu reagieren.

Die drei Mitstreiter Rauhs sind ebenso durchgehend auf hohem musikalischen Niveau und zeigen großes Verständnis für die Musik Kapustins. Peter Lehel lässt wahrlich den Spirit des Swing auferstehen im Duet for Cello and Alto Saxophone Op. 99, mit rein sanglichem und rundem Klang spielt er absolut auf Rauh abgestimmt, fühlt innerlich jeden Ton und kostet ihn voll aus. In der Sonata for Cello and Piano No. 2 Op. 84 sowie im Nearly Waltz Op. 98, der Elegy Op. 96 und der Burlesque Op. 97 ist Benyamin Nuss zu hören (übrigens Neffe von Hubert Nuss, dem gefragten Jazzpianisten). Er hält sich hauptsächlich in den sanft zurückhaltenden Gefilden auf, die er eher flächig auszugestalten weiß, wobei er durch rhythmische Finesse besticht. Vibraphon gibt es in zwei der acht Konzertetüden Op. 40, welche Christine Rauh aus dem Klavieroriginal für die Schlagwerkerin Ni Fan und sich arrangierte. Ein ganz eigener Klang entsteht in dieser ungewöhnlichen Kombination, der durchaus funktioniert. Ni Fan fliegt in schier unglaublicher Virtuosität über ihr Instrument, und das mit einer unbekümmerten Gelassenheit, in der sie ihre Stimme in aller Natürlichkeit und ohne jede „Einwirkung von außen“ gedeihen lassen kann. Gegen die bisher zu hörende Qualität mag die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Leitung von Nicholas Collon direkt etwas plump wirken, die aufgeweckte und sprunghafte Seele der Solistin kann im Streichorchester kein Pendant finden. Zu gepresst und mit zu viel Druck, zu sehr „gewollt und gemacht“ klingt das Tutti, die unbeschwerte Freiheit geht verloren.

Die Zugabe schrieb Christine Rauh zusammen mit Benyamin Nuss, eine Hommage à Kapustin für Cello und Klavier. An die bisher erklungene Musik erinnert die Hommage in ihrer zarten Verträumtheit und breit angelegten Linie kaum, doch ist sie eine bezaubernde Nocturne, welche auch Rauhs tiefe Lagen einmal präsentiert und einen zartempfundenen Abschluss dieser ansonsten so belebten CD bildet.

[Oliver Fraenzke, August 2016]

Bach im Guckglas des 19. Jahrhunderts

SWR Music, 93.338, EAN: 4 010276 027997

Bachiana_Cover

Infolge der im 19. Jahrhundert einsetzenden Bachpflege setzten sich viele Musiker auch produktiv mit dem barocken Meister auseinander, so Ignaz Moscheles in seinen Arrangements von Präludien aus dem Wohltemperierten Klavier (WTK) mit einem concertierenden zweiten Klavier Op. 137b, Carl Reinecke in seinen vierhändigen Bach-Variationen Op. 24 oder Robert Schumann in seinen Sechs Fugen über den Namen BACH Op. 60. Diese Schöpfungen präsentiert das Duo d´Accord (Lucia Huang und Sebastian Euler) in der vorliegenden SWR-Produktion.

Dass Johann Sebastian Bach ab etwa 1828 vor allem seit Felix Mendelssohn-Bartholdys Leipziger Wiederaufführung der Matthäus-Passion eine bis heute andauernde Renaissance erfuhr, ist bekannt. Was jedoch die künstlerischen Ergebnisse der Beschäftigung mit Bach angeht, hat in vielen Fällen die heutige Hörerschaft noch nicht erreicht. Umso ehrenwerter ist das Experiment, welches die ARD-Preisträger Huang und Euler, als Duo seit 1999 bestehend, sich in der vorliegenden CD vorgenommen haben.

Gezielt wählten die beiden Künstler Moscheles, Reinecke und Schumann aus, die man in dem breiten Pool der Bachbearbeiter und –nachahmer als durchaus selbstkritische, gleichwohl entschlossene Verehrer des barocken Übervorbildes sehen kann. Der Booklettext, den Huang und Euler selbst beisteuern, zeichnet sich durch Facettentiefe und einen klaren strukturellen Faden aus: Von allgemeinen Anmerkungen zur einsetzenden Bachpflege und deren Eigenheiten führen sie über Ignaz Moscheles zu Carl Reinecke, stellen hier den Zusammenhang zu Schumann her, um schließlich ihre Bearbeitung von dessen Fugen Op. 60 für vierhändiges Klavier und ihre eigenen Absichten zu erklären. Kurzum, ein Text von Niveau, Eloquenz und Informationswert.

Besonders interessant ist im Booklet der Hinweis auf die Marotte jener Zeit, Transformationen Bach’scher Kompositionen bzw. Werke auf Bach’scher Basis mit theatralischen Effekten, überschäumender Dynamik und jeder Menge Rubato anzureichern. Bereits in den ersten beiden Tracks dieser CD ist erfahrbar, wie Moscheles diese Methoden in seinen Huldigungen an Bach anwandte. Prachtvoll klingt zu Beginn die Bearbeitung des 5. Präludiums D-Dur aus WTK II (BWV 874), welchem der Salieri-Schüler in seinem Op.137b (auch betitelt als Melodisch-kontrapunktische Studien) ein konzertantes Klavier mit gehobenen technischen Ansprüchen hinzufügt. Die Künstler betonen den Schwung dieses nachgeschaffenen Präludiums, hetzen jedoch nie, was ja auch die Tempobezeichnung Allegro non troppo nahelegt. Ihr Spiel zeichnet sich durch eher sachlichen Ton, einen manchmal sehr scharfen Anschlag, gerade bei vollen Akkorden, sowie eine durchkalkulierte Strategie der Dynamik aus. Es folgt eine weitere Bearbeitung Moscheles’, nämlich des 24. Präludiums in h-Moll aus WTK I (BWV 869), mit dem Untertitel Erste Bearbeitung im strengen Styl. Der Notentext zeichnet sich mehr durch Verhaltenheit als Strenge aus, gleichzeitig sorgt Moscheles für subtil gesteigerte Komplexität, die sich aus filigran miteinander verzahnten Rhythmen beider Klaviere ergibt. Hier erzeugt das Duo einen durchgehenden Fluss (Tempo Andante), lässt es sich aber nicht nehmen, deutliche Ritardandi gegen Ende auszukosten sowie die Schlussakkorde lange verklingen zu lassen.

Erstmals folgt eine Schumannsche Fuge aus Op. 60, nämlich die erste in B-Dur. Es handelt sich bei diesen Fugen, im Gegensatz zu Moscheles und Reinecke, um keine Bearbeitung, sondern um ein originales Werk, welches sich freilich stilistisch und motivisch hörbar am Leipziger Meister orientiert. Erklärtermaßen bemühten sich Euler und Huang darum, mit dem Original Schumanns für Orgel sehr behutsam umzugehen und es nur da zu verändern, wo es aus instrumentalen Gründen unumgänglich ist. Das Ergebnis ist ein einziges Accelerando und Crescendo in dieser ersten Fuge, von Behutsam-Dunkel bis hin zu Wuchtig-Scheppernd, im abschließenden B-Dur Akkord gar etwas detonierend, was wohl am Subkontra-B liegt.

Nach diesem Tripelmuster 2x Moscheles – 1x Schumann ist die ganze CD (bis auf eine Ausnahme!) aufgebaut, was vielschichtige dramaturgische Gründe hat, die der Hörer zwar nicht unbedingt kennen muss, deren Sinn sich jedoch innerhalb der Gruppierung intuitiv erschließt. Die Präludien sind in ihren Stimmungen und strukturellen Eigenschaften jeweils sehr ähnlich zueinander, um stets von einer Fuge Schumanns ergänzt zu werden. Die Ergebnisse sind zumeist unterhaltend und erfrischend (so etwa in der Bearbeitung des populären Präludiums Nr. 1 in C-Dur, WTK I, BWV 846), können aber auch zugleich sehr herausfordernd werden. Dies trifft zuweilen auf die komplexen Gebilde Schumanns zu, die der ausgefeilten Kontrapunktik eines Anton Bruckner in nichts nachstehen. Doch auch hier gibt es Beispiele, die für angenehme Kontraste sorgen, wie die dritte Fuge in g-Moll, die keinerlei äußerlichen Effekt präsentiert – und deren ruhigen Fluss das Duo d´Accord überzeugend rüberbringt (Bezeichnung: mit sanften Stimmen). Monotonie kommt keine auf, da Huang und Euler jede dieser Tripel-Gruppen auf eigene Weise gestalten. Allgemein spielen die beiden Künstler mit Sinn für Gleichmäßigkeit, Logik in der Formentwicklung, bisweilen einer Tendenz zum knalligen Anschlag sowie klanglicher Hintergründigkeit. Selbst in der letzten Fuge Schumanns in B-Dur, deren Massivität schon ins Extreme geht, merkt man das qualitative Zusammenspiel sowie das musikalische wie missionarische Engagement, mit dem die beiden vorgehen.

Nun ist Reinecke ganz am Ende nur mit einem Werk vertreten, nämlich mit den Variationen über eine Sarabande von Bach Op. 24 (aus der 1. Französischen Suite in d-Moll, BWV 812). Doch fällt sein Werk umso mehr ins Gewicht, da es sich von den teils besonders das Sinnliche beschwörenden Klangwelten seiner beiden Vorläufer distanziert und damit einen weiteren, umso differenzierteren Blickwinkel auf Bach offen legt. Gleichwohl finden sich in den acht Variationen Merkmale des 19. Jahrhunderts, wie eine teils auffällig ausgeklügelte Harmonik, kompakte Akkorde, eine anspruchsvolle Technik sowie entwickelnde Variationen. Obwohl es zu einer großangelegten Stretta kommt, bleibt Reinecke in seiner Orientierung konsequent und lässt seinen Zyklus so ruhig enden, wie er begonnen hat. Das Duo d´Accord betont auch hier in jeder Variation deren Eigenständigkeit und zeigt abermals seine Fähigkeit, Klangfarben und Stimmung intensiv zu exponieren. Damit entspricht auch dieses Werk dem Grundsatz, dem sich das Duo Euler/Huang verschrieben hat: Klangfreude am Alten durch das Neue zu erzeugen. So bietet diese CD einen lohnenswerten Blick auf eine womöglich immer noch belächelte und umstrittene, aber seinerzeit sehr innovative Praxis, die sich zu erkunden lohnt: Bach in eigener Weise zu huldigen, sei es durch Neubearbeitung oder Neukomposition.

[Peter Fröhlich, Januar 2016]