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Verblüffende Jugendwerke

Orfeo, C 763 093 D; EAN: 4 011790 763323

Das Stuttgarter Kammerorchester unter Michael Hofstetter nimmt alle dreizehn Kammersymphonien von Felix Mendelssohn auf drei CDs auf. Die Box erschien bei Orfeo.

Die Streichersymphonien von Felix Mendelssohn sind weit mehr als bloße Studienwerke oder Kompositionsübungen, es ist von der allerersten an eigenständige und auf ihre Art abgeschlossene Konzertliteratur von handwerklicher Beherrschung und geistiger Inspiration, wie sie viele Kollegen seiner wie unserer Zeit selbst in ihrer Reifephase nicht erreichen. Gedacht waren sie für die Aufführung im häuslichen Bereich, heute sollten sie jedoch auch öffentlich erklingen.

Eine strenge Ausbildung prägte die Kindheit Felix Mendelssohns, der ab seinem sechsten Lebensjahr in Deutsch und Französisch, Mathematik, Kunst und Musik ausgebildet wurde, ein Jahr später (1816) Violin- und Klavierunterricht erhielt. Ab 1818 erhielten Felix und seine Schwester Fanny Privatunterricht in mehreren Fächern. Die Kinder mussten in allen Bereichen hohe Bildung vorweisen können, wurden stets zum Lernen angehalten. Die musikalische Ausbildung legten die Eltern in die Hände von Carl Friedrich Zelter (1758-1832), selbst Autodidakt und hauptberuflicher Maurermeister, der jedoch durch intensive Forschung an alter Musik technische Meisterschaft entwickelte und in hohen Kreisen, vor allem mit Johann Wolfgang von Goethe, verkehrte, was ihm gesellschaftliche Prominenz sicherte. Die Meinungen über Zelter gehen weit auseinander: Als wichtigster musikalischer Bezugspunkt für Felix Mendelssohn nimmt er auf jeden Fall eine Vorrangstellung bezüglich dessen musikalischer Entwicklung ein, auch wenn das Genie des Jungen sich wohl auch „von selbst“ (?) entwickelt haben würde. Die Streichersymphonien entstanden unter seiner Aufsicht und zumindest die frühen spiegeln die Haupteinflusspunkte Zelters (CPE Bach, Händel etc.) deutlich wider.

Der Überschaulichkeit halber ordne ich die Symphonien in drei Gruppen ein, die allerdings nur gedachten Kategorien entsprechen und der organischen Entwicklung einer jeden einzelnen im Kontext nicht im Wege stehen sollten. Die erste Gruppe umfasst die ersten sechs Streichersymphonien, die alle 1821 komponiert wurden und in konsequenter Dreisätzigkeit schnell – langsam – schnell konzipiert wurden. In der Entwicklung dieser sechs Symphonien kann manch eine Gemeinsamkeit zu derjenigen der ersten sechs Klaviersonaten von Mozart gesehen werden (Mozart zählte neunzehn Jahre, als er diese Sonaten komponierte, Mendelssohn schrieb die ersten Streichersymphonien zwölfjährig). Im Umfang sind die sechs 1821 komponierten Symphonien noch recht gering, dafür dicht in der musikalischen Textur. Von der ersten Symphonie an zeigt sich fundiertes technisches Können besonders auf kontrapunktischer Ebene: Insgesamt neigt Mendelssohn noch dazu, seinen Satz zu überfrachten. Allein von der ersten zur dritten Symphonie zeigt sich eine beachtliche klangliche Verfeinerung, die sein unaufhaltsames Streben wie sein eigenes Reflektieren versinnbildlicht. Jedes einzelne Werk experimentiert mit neuen Elementen und Charakteristika. In der vierten Symphonie probiert er eine langsame Einleitung aus (was er ab der Achten dann zum Standard macht) und lässt im Andantesatz erstmalig Elemente seiner späteren, romantischeren Tonsprache durchschimmern. Mendelssohn begann allmählich, seinen Satz aufzuklären, was in der Sechsten schließlich zu klanglichen Erfolgen führte. In dieser entdeckte er zudem das Menuett als Zwischensatz für sich, was die Tore öffnete für viersätzig konzipierte Formen.

In eine zweite Gruppe ordne ich die Symphonien 7-9, diese bestehen nun je aus vier Sätzen, wobei zu der bisherigen Form an dritter Stelle je ein Menuett oder im Falle der 9. Symphonie ein Scherzo hinzutritt. Im Gegensatz zu dem Menuett der Sechsten, das als alleiniger Mittelsatz größeren Umfang benötigt und so zwei Trios besitzt, haben die der Symphonien aus der zweiten Gruppe je nur ein Trio. Zudem wachsen die Symphonien in ihrer Gesamtlänge deutlich an, verdoppeln bis verdreifachen ihre Spieldauer. Die gesamte Konzeption wirkt nun symphonischer, es gibt deutlichere Kontraste und nachvollziehbarere Wechselspiele zwischen den Stimmen: Mendelssohn operiert sparsamer mit seinen Mitteln, verteilt sie ökonomischer. Allgemein verfeinert sich sein Gespür für Klang; dies führt unter anderem dazu, dass er beginnt, die Stimmen aufzufächern, um den Gesamtklang weiter auszudifferenzieren. In der siebten Symphonie begnügt er sich damit, lediglich Celli und Bass eigenständiger zu führen. Ab der Achten experimentiert er mehr: Im Adagiosatz kommen nur Bratschen und tiefe Streicher zum Einsatz, die Bratschen jedoch unterteilt er in drei Sektionen. In der Neunten knüpft er hieran an und teilt die Bratschen in zwei Sektionen, im Andante gibt es zudem insgesamt vier Violinstimmen. Die Zweiteilung der Bratschen etablierte sich von nun an als Standard für ihn.

Da von der zehnten wie der dreizehnten Symphonie je nur ein Kopfsatz überliefert ist, können diese formal nicht eingeordnet werden. Eine dritte Gruppe bilden daher lediglich die elfte und zwölfte Symphonie, welche ich als experimentale Symphonien bezeichnen würde: Mendelssohn geht vollends an oder gar über die Grenzen des Genres, experimentiert mit neuen Formmodellen und Ideen; er ist bereit für das volle Orchester. Mit fünf Sätzen und einer Spieldauer von 40 Minuten erreicht die Elfte ganz neue Dimensionen – im Scherzo nimmt der Komponist zudem Schlagwerk (Pauken, Triangel und Becken) hinzu, schreit also förmlich nach dem Symphonieorchester. Er bleibt dabei, die Bratschen in zwei Teile zu separieren, was die Mittellage facettenreicher ausgestaltet. Die Faktur wird noch luzider und er behandelt seine Mittel noch sparsamer bis hin zur Einstimmigkeit, wodurch er ein größeres Spektrum an Klangfarben erhält. Die Besonderheit der g-Moll-Symphonie Nr. 12 liegt vor allem im Kopfsatz, welcher nach einer langsamen Einleitung in einer großen Fuge zwei Themen durchführt. Hier kehrt Mendelssohn wieder zur dreisätzigen Form zurück, wobei das Finale die Hälfte der Länge ausmacht.

Das Stuttgarter Kammerorchester liefert eine formidable Gesamteinspielung dieser insgesamt dreizehn Streichersymphonien ab, die besonders durch ihren luftig-leichten Klang begeistert. Dirigent Michael Hofstetter verzichtet auf große Geste, sondern hält die Musik schlicht und geradlinig. Er verfolgt die Entwicklung musikalisch mit und passt sein Orchester den Gegebenheiten der Musik an – vor allem behalten die Symphonien dadurch die ausgelassene Jugendlichkeit, die sie charakterisiert, trotz der grandiosen handwerklichen Leistung. Überschwänglich lebendig präsentiert Hofstetter die frühen Symphonien, verleiht den späteren dann mehr Kontrast, differenziert deutlicher aus und gibt ihnen allgemein gewisse Reflexion ganz im Sinne des reifenden Mendelssohn. Ich bewundere den heute selten anzutreffenden Mut, einige der Wiederholungen auszusparen, die in den Noten vermerkt sind: Wenn sich die Musik zu weit vom Ausgangspunkt entfernt hat, macht die Rückkehr ebendorthin oft keinen Sinn mehr, was auf Kosten der Formverständlichkeit geht. Gerade in den umfangreicheren, späteren Werken hätte ich sogar auf noch ein paar mehr Wiederholungen verzichtet. Die Tempi übersteigert das Orchester teils, so dass die Allegri vor allem der früheren Symphonien zu rasch davoneilen und fast durchgehend Alla Breve-Stimmung evozieren, während die Andante-Sätze schleppen: Hier wäre Mut zu subtileren Kontrasten wünschenswert, sich auf die Gratwanderung einzulassen, die Tempi zu relativieren, ohne dass dabei die Gegensätze verschwimmen oder die Musik in den Randsätzen stockt. Technisch bewundernswert gelingen die Unisonostellen, die brillant aufeinander abgestimmt erklingen, sowie die mehrfach separierten Stimmen, wo die Stimmgruppen auch ihr Miteinander im Gegeneinander beweisen.

[Oliver Fraenzke, November 2020]

Bedrohliches und Humoreskes

Fagottkonzerte von Jolivet, Tomasi, Françaix und Villa-Lobos
Matthias Rácz (Fagott)
Stuttgarter Kammerorchester, Johannes Klumpp

Jean Françaix: Concerto pour basson et 13 archets (1979)
Henri Tomasi: Concerto pour basson et archets avec harpe (1961)
André Jolivet: Concerto pour basson, archets, harpe et piano (1954)
Heitor Villa-Lobos: Ciranda de sete notas für Fagott und Streicher (1933)
Jean Françaix: Divertissement pour basson et archets (1942)

Ars Produktion ARS 38174 (EAN: 4260052381748)

0031

Vier Französische Konzerte für Fagott und kleine Besetzung – teils nur Streicher, teils ergänzt durch Harfe (Tomasi) oder Harfe und Klavier (Jolivet) – hat Matthias Rácz mit dem Stuttgarter Kammerorchester unter Johannes Klumpp eingespielt, zuzüglich Villa-Lobos’ ‚Miranda de sete notas’ von 1933. Rácz beherrscht sein Instrument in seltener Vollendung, er ist ein wirklicher Erzähler auf dem Fagott, und auch das Virtuose ist bei ihm in besten Händen. Das Fagottkonzert ist – nach prominenten Vorläufern wie Mozart oder Weber – eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts (in der romantischen Epoche hatten die Bläser als Solisten mit Orchesterbegleitung allgemein einen schwachen Stand, wenn man von Webers Klarinettenkonzerten einmal absieht; da ist man schon froh über ein Oboenkonzert von Klughardt, ein Flötenkonzert von Reinecke, das erste Hornkonzert von Richard Strauss). Die Anordnung vorliegenden Programms ist etwas seltsam, indem das mit Abstand unbedeutendste, trivialste Werk am Anfang steht: das Konzert von Jean Françaix von 1979, also auch das am spätesten entstandene. Es ist deshalb etwas peinlich, weil zwar erlesenste technische Fertigkeit von allen Beteiligten gefordert wird, jedoch der Gehalt und die expressive Spannweite nicht über das Niveau von Charlie Chaplin oder Zirkusmusik hinausgeht. Die Ecksätze sind ungefähr so anspruchsvoll wie ‚Mein Hut, der hat drei Ecken’, und so etwas hat schon Darius Milhaud (etwa in ‚Le Bœuf sur le toît’) schon viel besser und origineller gemacht. Einzig der langsame Satz hat eine andere Substanz, doch wird er hier schlicht zu zügig genommen (mit zusätzlichen  Beschleunigungen zwischendurch, die der Komponist nicht vorsah), und irgendwie wissen hier alle Beteiligten nicht so recht, was sie außer Andacht in diese Musik ‚hineininterpretieren’ sollen… Natürlich wusste Françaix genau, was er tat, und hat seine Aufgabe technisch in jeder Hinsicht makellos gelöst, solange wir nicht darauf achten, ob die größere Form irgendwie bezwingend sei. Um wieviel besser ist sein frühes Divertissement von 1942, ursprünglich mit Bläserquintettbegleitung komponiert und damals verloren gegangen, später von Graham Waterhouse rekonstruiert – mit dieser launigen, kurzweiligen Musik klingt die CD so amüsant wie feinsinnig ironisch aus. Man hört: Françaix war ein Mann der kleinen Formen, die beherrschte er vollendet, ob man seine meist absichtlich belanglose Musik mag oder nicht, und für ein Konzert von gut 23 Minuten Länge (in vier Sätzen) reichte die Spannung einfach nicht aus, jedoch sehr wohl für ein gleichfalls viersätziges Divertimento von neun Minuten Dauer. Den Musikern hat jedenfalls beides eine Menge Spaß gemacht, was man auch auf Schritt und Tritt hört, und der untadelige Solist hat seinen durchweg großen Auftritt.
Alles andere hat weit mehr Substanz. Villa-Lobos ist noch zu akademisch europäisch verstanden, da ist vor allem mehr schwereloser Groove drin. Doch muss man in allen Stücken bemerken, wie sehr das Orchester unter Klumpp rhythmisch „auf Zack“ ist. In diesem Werk dominiert das Fagott unangetastet und darf unentwegt singen. Insgesamt eine Freude, das zu hören.
Eine für mich großartige Entdeckung ist das 1961 entstandene Konzert des korsisch-stämmigen Henri Tomasi (1901-71), der vor dem Krieg einige Jahre das französische Radio-Kolonialorchester in Vietnam leitete und später das Orchestre National de France. Heute ist er vor allem durch sein Trompetenkonzert und die Flötenkonzerte bekannt. Er schrieb aber unzählige weitere Konzerte, eigentlich nur das Cello hat er nicht bedacht. Sein Fagottkonzert besticht mit einer unergründlichen Mischung aus Bedrohlichem und Humoreskem, das niemals in jene Gefilde der Belanglosigkeit abgleitet, vor welchen französische Musik gelegentlich nicht sicher ist. Auch die Orchestration ist von erlesenster Finesse, und durch alles führt ein energetischer roter Faden, der die Spannung nicht abreißen lässt. Solist und Orchester meistern die virtuose Faktur mit bemerkenswert präziser Leichtigkeit. In dieser Musik kommen unterschiedlichste Einflüsse zusammen, bis hin zu niemals plakativ zur Schau gestellten Exotismen, und dabei klingt sie stets distinguiert südfranzösisch. Und: sie kreiert einen imaginären ‚Film noir’. Man könnte an Truffauts ‚Geheimnis der falschen Braut’ oder ‚Die Braut trug schwarz’ denken – an jeder Ecke lauert eine unheimlich verführerische und gefährliche Deneuve oder Moreau… Danach dürfte es kaum jemanden geben, der nicht gerne mehr von Tomasi hören möchte.
Die Krone gebührt freilich immer noch André Jolivet für sein grandioses Konzert von 1954. Nur ein Klavier tritt zu Streichern und Harfe hinzu, und was für eine wilde Farbigkeit, was für eine magische Alchimie! Das zweisätzige Werk ist zurecht ein Klassiker geworden, und Matthias Rácz darf nun zu den feinsten Musikern seines Fachs gezählt werden. Es ist aber auch (wie Tomasi übrigens in nicht geringerem Maße) herrlich dankbar für sein Instrument geschrieben. Jolivet schafft es sogar, eine ‚Fuge’ frenetisch obsessiv klingen zu lassen, sozusagen eine Transzendenz des Akademischen mit einer fast schon rohen Schroffheit, einer archaisierenden Auslegung moderner Klangmittel herzustellen. Und er lotet das ganze Spektrum von mystischer Introspektion bis zu frenetischer Überdrehtheit aus. Jazz und Orient begegnen sich hier in einem Geist, der die Abgründe liebt und doch stets eine französische Rationalität auf der Hinterhand hat, die bei aller systematisch betriebenen Enthemmung nicht den Klischees von Pathos, Sentimentalität oder prätensiös neutönerischem Bruitismus aufsitzt. Großartig – wie vieles von Jolivet, das heute fast kein Mensch kennt (man denke nur an seine drei Symphonien, das Klavierkonzert, die Cellokonzerte). Und wieder glänzen alle Beteiligten mit Geistesgegenwart und Präzision. Natürlich gibt es auch Fehlleistungen wie das pompös vierschrötige Ritardando am Ende des ersten Satzes, das überhaupt nicht passt, sondern im letzten Moment den resoluten Charakter sabotiert. Gemessen an dem, was wir kennen, ist es insgesamt jedoch auf sehr hohem Niveau. Das gilt auch für die durchsichtige und ausgewogene Aufnahmetechnik und den Bookletessay, den sich Daniel Knaack und der Dirigent in simuliertem Zwiegespräch teilen.
[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, März 2016]