Schlagwort-Archive: Stephan Schmidt

Erneuter Aufguss von Lachenmanns „My Melodies“

Im Herkulessaal widmete sich das letzte Konzert der laufenden musica viva Saison am 23. Juni 2023 einmal mehr der Musik Helmut Lachenmanns. Unter der Leitung von Matthias Hermann spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit seiner fantastischen Horngruppe allerdings lediglich die Neufassung der großformatigen My Melodies, die hier vor 5 Jahren uraufgeführt worden waren. Vor der Pause erklangen zwei imposante Duos: Salut für Caudwell mit den Gitarristen Mats Scheidegger und Stephan Schmidt sowie GOT LOST, dargeboten von der Sopranistin Yuko Kakuta und Pierre-Laurent Aimard am Flügel.

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Matthias Hermann [© BR / Astrid Ackermann]

Wenn man die Ankündigung für das letzte musica viva Konzert vor der Sommerpause las, war man versucht, an den Film Und täglich grüßt das Murmeltier zu denken, so sehr ähnelte das Programm demjenigen vor gut 5 Jahren, wo ebenfalls Pierre-Laurent Aimard als Pianist auftrat und Helmut Lachenmanns beeindruckende „Musik für acht Hörner und Orchester“ My Melodies ihre Uraufführung erlebte (wir berichteten). Im Vorfeld gab es mehrere Absagen: Zunächst sprang Lachenmanns Schüler und langjähriger Freund Matthias Hermann für den erkrankten Peter Eötvös ein, der sonst auch die Neufassung von My Melodies dirigiert hätte. Und ganz kurzfristig musste noch Ersatz für das Trio Recherche gefunden werden, welches für das neue, zweite Streichtrio Mes Adieux von 2021/22 eingeplant war. Statt des angekündigten „Adieus“ gab es nun zu Beginn des Konzerts ein „Salut“: Salut für Caudwell (1977), das von den beiden Gitarristen Mats Scheidegger und Stephan Schmidt dargeboten wurde, die man bei My Melodies eh‘ für die E-Gitarren im Orchester engagiert hatte und die das Duo-Stück erst kürzlich eingespielt haben.

Lachenmanns „Musik für zwei Gitarristen“ erweist sich nicht nur von seiner Länge her als passender Ersatz für das Streichtrio. Obwohl über 45 Jahre alt, zeigt sich bereits hier, dass eine Reduktion des Komponisten auf reine Verweigerungsästhetik seinem Werk keinesfalls gerecht wird. Natürlich verwendet er die beiden Gitarren über das gesamte, gut 25-minütige Stück vorwiegend unkonventionell: Über weite Strecken spielen sich intensive Plektrumklänge in höchster Lage ab – jenseits der Bünde, die bestimmte Tonhöhen fixieren. Entsprechend dominieren so dauernde Glissando-Effekte; die Textvorlage des im spanischen Bürgerkrieg gefallenen britischen Marxisten Christopher Caudwell – eine Kritik des bürgerlichen Kunstbegriffs – wird von den Musikern teilweise sehr prononciert auf Deutsch rezitiert usw. Scheidegger und Schmidt bleiben selbst dort, wo die anfänglich stabilen Rhythmen variabler werden, immer spannungsvoll und verständlich. Die halsbrecherisch virtuosen Figurationen erinnern den Hörer einerseits an Freiheiten wie etwa den Beginn von Pendereckis 1. Streichquartett, andererseits an die kalte Strenge von Nancarrows Etüden für Player Piano – eine insgesamt ungemein eindringliche Darbietung.

Noch stärker dann GOT LOST (2007/08), quasi eine 28-minütige Auseinandersetzung mit dem Kunstlied, dabei fast schon Musiktheater. Drei scheinbar völlig divergierende Texte –Nietzsches Vierzeiler Der Wandrer, Fernando Pessoas Todas as cartas de amor são ridículas und eine kurze, profane Annonce – werden bis in kleinste, kaum mehr als Worte identifizierbare Fragmente zerlegt: musikalisch vielfältigste Gesten, die aber in der enorm intensiven und bewussten Wiedergabe der japanischen Sopranistin Yuko Kakuta absolut faszinierend geraten. Besonders eindrucksvoll, wenn sie direkt in den Flügel singt, und der Resonanzraum den Klang ihrer Stimme fast wie ein langanhaltendes, natürliches „Echo“ weiterträgt. Pierre-Laurent Aimard ist hierbei mit seinem höchst anspruchsvollen Klavierpart – auch er muss mit dem Mund arbeiten, dazu mit einer Vielzahl von Präparationen im Flügel zurechtkommen – völlig gleichberechtigt, engagiert sich gespannt wie ein Flitzebogen und begeistert mit Raffinement und völliger Durchsichtigkeit. Diese musikalische Glanzleistung wird selbstverständlich mit entsprechendem Beifall bedacht.

Trotz des Triumphs 2018 – sowie weiterer Aufführungen mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle – war Lachenmann mit My Melodies wohl längst nicht zufrieden und erstellte nun eine Neufassung, die anscheinend – zum genauen Vergleich müsste man beide Partituren gründlichst studieren – die Gesamtform weitgehend unangetastet lässt, an wenigen Stellen erweitert und im Detail, insbesondere im Satz der acht solistischen Hörner, viele Dinge weiter verfeinert. Zudem hat ein Neue Musik souverän meisternder Klangkörper wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wohl selten Gelegenheit, nach relativ kurzer Zeit ein solch komplex ausgearbeitetes Werk nochmals einzustudieren. Andreas Hermanns Dirigat wirkt leider ziemlich steif: Er schlägt sehr mechanisch, dazu mit der Linken, die nur Einsätze gibt, meist parallel. Nur oberhalb von Forte scheint er auch körperlich mitzugehen. Kein Vergleich mit Peter Eötvös, jedoch darf der äußere Eindruck nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hermann anscheinend mit dem Orchester ganz ausgezeichnete Probenarbeit geleistet hat. So funktioniert nicht nur das überragende Solistenensemble der acht Hörner – Carsten Duffin, Ursula Kepser, Thomas Ruh, Ralf Springmann, Norbert Dausacker, François Bastian, Marlene Pschorr (Gast) und Marcin Sikorski – wie vom Komponisten intendiert erneut als ein einziger, atmender Organismus. Auch zahlreiche (teils neue?) leise Bogeneffekte in den Streichern erscheinen nun wie ein zartes Gebläse – die Musik erzeugt sich dadurch sozusagen ständig ihren eigenen „Raum“. Ebenso gebührt der Schlagzeuggruppe ganz besonderes Lob. Jedenfalls gelingt es, die Hörer im Saal zu zwingen, über 40 Minuten jedem noch so winzigem Klangereignis nachzuspüren. Der Applaus beginnt danach erst zögerlich, steigert sich aber, als der 87-jährige Komponist die Bühne betritt, in echte Begeisterung. Die Hörner dürfen sogar die ausgefeilte, absolut verrückte Kadenz kurz vor Schluss von My Melodies noch einmal wiederholen – großartig!

[Martin Blaumeiser, Juni 2023]