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Das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música brilliert beim „räsonanz“ Stifterkonzert der musica viva

Für das erste räsonanz Stifterkonzert der neuen Münchner musica viva Saison – es folgt noch ein zweites im Januar – hatte die Ernst von Siemens Musikstiftung am 28. 9. 2024 das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música mit seinem Chefdirigenten Stefan Blunier ins Münchner Prinzregententheater eingeladen. Zunächst erklang das großangelegte Orchesterwerk „Ruf“ des portugiesischen Komponisten Emmanuel Nunes. Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ benötigt zusätzlich als Solisten ein Streichquartett: hier spielte kein Geringeres als das weltberühmte Arditti Quartet. Wie gewohnt ein staunenswertes Programm.

Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música; StefanBlunier – © BR-Astrid Ackermann

Die räsonanz Stifterkonzerte der Ernst von Siemens Musikstiftung bleiben ihrem Prinzip treu, einerseits höchst aufwändige Werke zu programmieren, die bereits historische Relevanz haben, ohne allzu oft aufgeführt worden zu sein, andererseits dem Münchner Publikum Klangkörper vorzustellen, die bislang selten oder gar nie hier zu Gast waren. Letzten Samstag brillierte im „Prinze“ das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música, 1947 zunächst als Konservatoriumsorchester gegründet, nun nach dem 2001 für den Auftritt Portos als eine Kulturhauptstadt Europas neu errichteten musikalischen Zentrum Casa da Música benannt und dort ab 2006 beheimatet. Der Schweizer Stefan Blunier – in Deutschland u. a. von 2008-2016 GMD in Bonn – ist seit 2021 Chef des 94-köpfigen Ensembles. Leider hatten wohl selbst Teile des geladenen Publikums wegen der bereits grassierenden Erkältungswelle absagen müssen: Etliche Plätze blieben frei.

Nach anfänglichen Studien in seiner Heimat bei Fernando Lopes-Graça war Emmanuel Nunes (1941–2012) Schüler von Boulez, Pousseur und Stockhausen, gehört somit bereits zur zweiten Komponistengeneration, die man mit den Darmstädter Ferienkursen verbindet. Seine großangelegten Vokal- und Orchesterwerke führten bald zu internationalen Erfolgen. Später unterrichtete der Portugiese selbst in Lissabon, Freiburg und Paris. Ruf – für Orchester und Tonband (1977, revidiert 1982) – verwendet nicht einmal einen Riesenapparat: 28 Streicher, nur doppelt besetzte Bläser, 2 Schlagzeuger, Klavier (+ Celesta) und Harfe. Der 45-Minüter besteht aus sechs verbundenen Abschnitten. Bei vier davon wird der zeitliche Ablauf unerbittlich durch das Zuspielband vorgegeben. Das Orchester spielt seine Parts hochdifferenziert – jeder Spieler quasi als Solist – und der Dirigent muss trotz des engen Korsetts einerseits präzises Zusammenspiel, andererseits ein gehöriges Maß an kontrolliert aleatorischen Ereignissen koordinieren. Stefan Bluniers Schlagtechnik ist von makelloser Klarheit, dabei zum Glück nie mechanisch. Er formt den Klang der einzelnen Orchestergruppen immer gestisch äußerst dynamisch mit, agiert zugleich als emotionaler Katalysator dieses sich anfangs als recht chaotisch darstellenden, jedoch mit feinst austariertem Innenleben gestalteten musikalischen Stromes. Die elektronischen Klänge erscheinen als echte – gerade auch räumliche – Erweiterung, wirken streckenweise mit ihrem Gewobbel wie aus zeitgenössischen Science-Fiction-Filmen dem doch recht natürlichen Geschehen im Orchester dialektisch entgegen. Am Schluss wird es sehr leise, mit ganz unterschwelligen Zitaten aus spätromantischer Musik – Wagner und Mahler: ein überwältigendes Erlebnis. Hier ist bereits klar, dass man das tolle Orchester aus Porto einfach liebgewinnen muss.

Ganz anders nach der Pause Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ von 1979/80. Hier ist alles bis ins letzte Detail ausnotiert, mit schwäbisch-protestantischer Gründlichkeit. Dabei ist dies ein perfektes Beispiel der vom bald 89-jährigen Komponisten selbst so benannten Verweigerungsästhetik, die er über Jahrzehnte gepflegt und Teile des Publikums damit häufig ziemlich provoziert hat. So bleibt also hier das „Unerhörte“, lediglich Mitzudenkende, zentrales Element des großbesetzten Stücks, wohingegen das tatsächlich Erklingende konsequent so gut wie jede Hörerwartung enttäuscht. Nicht nur das Orchester, sondern ebenso das solistische, kaum merklich verstärkte Streichquartett, das anfangs die Führung übernimmt, spielen fast nur geräuschhafte Maskierungen. Der Prozentsatz „normal“ herausgebrachter „Töne“ ist minimal, dann jedoch meist verstörend. Das Arditti Quartet kennt das Stück genau; die vier Streicher schütteln die komplexen Spielanweisungen locker aus den Ärmeln. Die den 17 Abschnitten zugrunde liegenden Tanzrhythmen werden noch am ehesten erkennbar, wenn man optisch (!) dem wieder absolut souveränen Dirigenten folgt. Nach und nach wird klar, mit welch subversiver Energie und tiefgründigem Humor hier Altbekanntes komplett dekonstruiert wird. Selbstverständlich kommt auch das Deutschlandlied in der letzten der fünf Abteilungen – Mahler lässt grüßen – nur als „leeres Gerüst“: Nicht mal ansatzweise erscheinen Text oder Ton verbatim. Lediglich in der Partitur sind Stimmen mit den Silben der ersten (!) Strophe unterlegt, bereits zu Tode geritten (Galopp), bevor diese überhaupt anklingen könnte. Trotz des anstrengenden Appells von Lachenmanns Musique concrète instrumentale ans Publikum, hier zu versuchen, ständig zwischen den Zeilen zu hören, wird diese von Blunier und seinen fabelhaften portugiesischen Musikern sorgfältigst erarbeitete Darbietung keinen Moment langweilig. Und irgendwie passt Lachenmanns Werk auch zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution. Provozieren kann das heutzutage kaum mehr – und Musik wie Ausführende, die hier wirklich alles gegeben haben, erhalten verdient langen Applaus. Das Stifterkonzert ist einmal mehr seinen hohen Ansprüchen gerecht geworden.

[Martin Blaumeiser, 30. 9. 2024]

Cellovirtuose und Autodidakt

Hyperion CDA68063, EAN: 0 34571 28063 9

Fitzenhagen_Cover

Im Rahmen der Reihe „The Romantic Cello Concerto“, Vol. 7 präsentiert der Cellist Alban Gerhardt zusammen mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter der Leitung Stefan Bluniers gewichtige Werke des Cellisten Wilhelm Fitzenhagen (1848 – 1890), also neben seiner vielgespielten Bearbeitung von Tschaikowskys Rokokovariationen Op. 33 vor allem Eigenkompositionen: seine beiden Cellokonzerte, die Resignation Op. 8 sowie die Ballade Op. 10.

Sowie man das erste Cellokonzert hört, ist keineswegs zu leugnen, dass Fitzenhagen ein Meister seines Instruments war und diesem auch eigene Erfindungen zuzueignen wusste. Der erste Satz seines 1870 entstandenen Konzerts op. 2, Allegro moderato, lebt von einer einfallsreich durchgesponnenen Sololinie des Cellos, bei der sich technische wie dramaturgische Raffinessen gut die Waage halten. Zu Fitzenhagen als Komponist schreibt Nigel Simeone im durchweg informativen Booklet, er habe „größere (…) Ambitionen“ gehegt. In Bezug auf das Orchester hat sich der kompositorische Autodidakt dabei auf das Nötigste beschränkt, da er ihm, trotz einiger Momente orchestraler Eigenständigkeit, lediglich eine begleitende Rolle zuweist. Gleiches gilt für das Andante, einer lyrische Kantilene. Im abschließenden Allegro (quasi moderato) ist das Wechselspiel zwischen Solist und Orchester balancierter entwickelt, obgleich Fitzenhagen niemals den konzertanten Grundgedanken seines Konzertes hintenanstellt. Größere symphonische Dimensionen, wie etwa bei Dvořák, sucht man hier natürlich vergebens.

Nicht zu Unrecht schreibt Simeone, dass im darauffolgenden a-Moll-Konzert op. 4 ein Bezug zu Schumann besteht, und das Werk unterscheidet sich sowohl in Tonart als auch Agogik und Stimmung deutlich von seinem Vorgänger. Jedenfalls setzt Fitzenhagen das Orchester wie einzelne Instrumente (wie nun auch die Harfe im Mittelsatz) gezielter ein, um der Musik mehr Tiefe und Dramatik zu verleihen. Seine Weiterentwicklung als Komponist merkt man auch an der Führung der Cellostimme, deren Virtuosität nun weniger auf artistischen Effekten als Ausgestaltung der Ideen basiert. Auch der Mittelsatz, wieder ein Andante, beschränkt sich auf kein bloßes begleitetes Lied für Violoncello und Orchester, sondern enthält ebenfalls konzertante Momente sowie einen dramatischen Mittelteil. Originell im umfangreichen und durchaus komplexen Schlusssatz Allegro moderato ist der Dialog des Solisten mit dem ersten Cellisten des Orchesters, eine Praxis, die nun weit auf Konzerte des 20. Jahrhunderts vorausblickt. Auch die Kadenz ist strukturell mehr in die Thematik eingebunden als im früheren Geschwisterwerk, was zur Entstehungszeit dieses Konzerts allerdings keine Besonderheit mehr war.

Um hier nun auch die Ausführenden der CD zu erwähnen: Als würdiger „Partner“ des Solisten Alban Gerhardt erweist sich das Deutsche Symphonieorchester Berlin unter der kontrollierten Stabführung Stefan Bluniers. Auch wenn keine besonderen technischen Herausforderungen an den Klangkörper bestehen, verstehen die Musiker es, stets die ideale Balance zwischen Begleitung und Eigenständigkeit zu finden und insgesamt sauber spielen. Alban Gerhardt zeigt in seinem Spiel durchweg konsequenten Gestaltungswillen, unterschätzt jedoch gelegentlich die horrenden Anforderungen seines Instrumentes, wodurch gerade besonders virtuose Passagen etwas unrein klingen und ein manchmal etwas hölzerner Eindruck entsteht.

Zu Tschaikowskys Variationen über ein Rokokothema Op. 33, das Werk, mit dem Fitzenhagen über die Zeiten hinweg präsent geblieben ist, gibt es nichts Neues zu sagen. Hier lohnt sich wieder das Studium des Booklets, wo Simeone sehr präzise die Veränderungen beschreibt, die der Bearbeiter am Werk Tschaikowskys vornahm, und welche Konsequenzen in Bezug auf die Originalgestalt sich daraus ergaben. Auch hier gilt: Gerhardt gibt sich Mühe, dem Werk Charakter zu verleihen, was in den Variationen meistens gelingt, jedoch im Finale eher auf der Strecke bleibt, denn zu etüdenhaft und gehetzt klingt sein Spiel hier.

Sehr innovativ ist Fitzenhagens Ballade op. 10. Nicht nur die Fähigkeit zur Instrumentierung hat hier ein neues Niveau erreicht. Die Tatsache, dass es sich hier um ein einzelnes Konzertstück handelt, gibt dem Werk mehr Raum zur strukturellen Entfaltung. Dabei stört es nicht allzu sehr, dass Fitzenhagen oftmals auf bloße Motivwiederholung setzt. Die beschließende Resignation op. 8, ein geistliches Lied ohne Worte, zeigt einmal mehr, wie ernsthaft dem Komponisten daran gelegen war, die Kenntnisse um sein Instrument mit künstlerischer Eigenschöpfung zu verknüpfen. In der Tat handelt es sich weder um ein endlos düster gestimmtes Tongemälde noch um eine sentimentale Zugabe, sondern um ein formal geschlossenes Werk, welches Gerhardt und das Orchester mit gemessener Ernsthaftigkeit wiedergeben.

Zusammenfassend leistet die vorliegende Einspielung das unbestreitbare Verdienst, hörenswerte unbekannte Werke zu Tage zu fördern. Fitzenhagen selbst blieb dabei ein Musiker, der als Cellist ohne Zweifel glänzend war, als Komponist zwar durchaus große Ideen und Arbeitswillen hatte, aber eine unverwechselbare künstlerische Stimme nicht finden konnte.

[Peter Fröhlich, Januar 2016]