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Klassiker der deutschen Romantik auf die Gitarre übertragen

Solo Musica, SM 424, EAN: 4 260123 644246

Der slowenische Gitarrist Aljaž Cvirn legt auf seinem Album Duality ein Programm vor, das ganz der deutschen Romantik gewidmet ist. Zusammen mit Jure Cerkovnik (Gitarre), Sebastian Bertoncelj (Violoncello) sowie Tanja Sonc (Violine) präsentiert er Bearbeitungen von Klavier- und Kammermusik von Johannes Brahms, Felix Mendelssohn Bartholdy und Franz Schubert.

Über Jahrhunderte hinweg war die Gitarre (ebenso wie ihre Vorgänger) ein Instrument, dessen Originalrepertoire sich in erster Linie aus den Werken komponierender Gitarristen zusammensetzte – in großem Stil hat sich dies erst im 20. Jahrhundert geändert. Und so besteht auch die Gitarrenliteratur des 19. Jahrhunderts überwiegend aus den Werken etwa von Sor, Giuliani, Aguado, Coste, Mertz und dann (nach längerer Pause) Tárrega, typischerweise also zudem aus dem südwesteuropäischen Raum, wo sich die Gitarre besonderer Popularität erfreute. Mit deutscher Romantik wird man die Gitarre kaum in Verbindung bringen, und dies ist der Punkt, an dem die neue CD des jungen slowenischen Gitarristen Aljaž Cvirn ansetzt. Bereits vor ein paar Jahren hat Cvirn Schuberts Arpeggione-Sonate in einer Bearbeitung für Violoncello und Gitarre eingespielt, seinerzeit als Teil eines Albums von Sonaten für Cello und Gitarre gemeinsam mit der Cellistin Isabel Gehweiler. Seine neue CD, „Duality“ genannt, ist zur Gänze der deutschen Romantik gewidmet von Franz Schubert über Felix Mendelssohn Bartholdy bis hin zu Johannes Brahms, naturgemäß in Bearbeitungen, die dieses Repertoire und seine Klangwelt der Gitarre „erschließen“.

Von den drei genannten Komponisten ist Brahms sicherlich derjenige, dessen Musik man am wenigsten auf einer CD mit Gitarrenmusik erwarten würde, und nicht von ungefähr stammen diese Transkriptionen aus jüngerer Zeit, namentlich von den Gitarristen Ansgar Krause (*1956) sowie Hubert Käppel (*1951). Bei den Vorlagen handelt es sich um eine Auswahl von Brahms’ späten Klavierstücken: Krause hat die Intermezzi op. 116 Nr. 2 & 6 und op. 118 Nr. 2 sowie die Romanze op. 118 Nr. 5 für zwei Gitarren übertragen (Cvirns Duopartner ist hierbei Jure Cerkovnik), und Käppel das Intermezzo op. 117 Nr. 2 für (eine) Gitarre. Natürlich ist es – zumal bei Musik dieses Bekanntheitsgrades – nicht ganz einfach, diese Werke unabhängig vom pianistischen Original zu hören. Dennoch: für sich betrachtet ergeben die fünf Stücke eine insgesamt reizvolle, ansprechende, angenehm zu hörende Folge, eher sacht timbriert und zurückgenommen als schwerblütig-melancholisch. Am besten, fast schon im Sinne einer kleinen Preziose, funktioniert vielleicht das Intermezzo op. 118 Nr. 2, dessen zarte, vergleichsweise lichte Introspektion sich in den Klängen der beiden Gitarren sehr gut wiederfinden lässt. Dem anderen Extrem begegnet man in den Trillerpassagen vor Wiederholung des ersten Teils der Romanze op. 118 Nr. 5, die sich auf den Gitarren schlicht nicht überzeugend darstellen lassen; hier stößt die Transkription an ihre Grenzen. Wenn überhaupt, wäre vermutlich ein entschiedenerer Eingriff in den Notentext vonnöten, wobei eine schlüssige Lösung freilich alles andere als auf der Hand liegt.

Ansonsten liegt vieles – und hier stellt sich am Ende doch mindestens teilweise die Frage nach dem Vergleich zum Original – in der Mitte. Sicherlich sind diese Stücke erst einmal vom Klavier her gedacht, und nicht jede klangfarbliche Schattierung (wie etwa der Registerwechsel im Mittelteil von op. 116 Nr. 2 oder die im Pedal gehaltenen Akkordbrechungen in op. 117 Nr. 2) erfahren wirkliche Entsprechungen. Mit dem Verzicht auf die Kontraoktave geht der Musik speziell in den akkordisch geprägten Passagen ein wenig ihre herbstliche Note verloren, dagegen gewinnen etwa die triolischen Figuren, die Brahms u. a. gerne in den Nebenstimmen einsetzt, in der Bearbeitung eine Bedeutung, die sie auf dem Klavier nicht haben; hier besteht zuweilen die Gefahr, dass sie die Melodielinie ein wenig überdecken. Am Ende steht also ein Balanceakt, der aber unter dem Strich Gewinn bedeutet, der Gitarrenliteratur Ausdruckssphären hinzufügt; dass man dieser Musik mit Vergnügen lauschen kann, steht ohnehin außer Frage.

Auf Brahms’ späte Klaviermusik folgen auf der CD zwei Stücke von Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein Venetianisches Gondellied, das sechste des ersten Hefts seiner Lieder ohne Worte op. 19, hat bereits Francisco Tárrega (1852–1909) für Gitarre bearbeitet, und zwar in rundum geglückter Manier. Fast erwartungsgemäß – angesichts der feinen, gedämpften Melancholie des Originals – funktioniert das Stück auf der Gitarre vorzüglich, Flageoletts sorgen für ein gewisses zusätzliches schwärmerisch-atmosphärisches Moment. Neben den bekannten Klavierstücken hat Mendelssohn Bartholdy auch ein Lied ohne Worte für Violoncello komponiert, nämlich das Lied ohne Worte D-Dur op. 109, ein ganz bezauberndes, melodisch äußerst attraktives Werk, das 1845 für die junge Cellistin Lisa Christiani entstand. Der kroatische Cellist Valter Dešpalj (1947–2023; Bruder des Dirigenten und Komponisten Pavle Dešpalj) hat es für Violoncello und Gitarre arrangiert, eine Bearbeitung, die sich grundsätzlich eng am Original orientiert, abgesehen von einigen wenigen Stellen im Mittelteil, an welchen der Dialog zwischen Cello und Klavier so nicht realisiert werden kann. Cvirn wird dabei vom Cellisten Sebastian Bertoncelj unterstützt (auch er übrigens aus einer Musikerfamilie – der bekannte slowenische Pianist Aci Bertoncelj war sein Vater).

Ein zweites Mal wird die Gitarre in Schuberts Sonate für Violine D-Dur D 384 mit einem Streichinstrument kombiniert (nun mit Tanja Sonc an der Violine); die Bearbeitung stammt aus der Feder des schwedischen Gitarristen Mats Bergström (*1961). Schubert auf die Gitarre zu übertragen ist im Grunde genommen eine recht naheliegende Idee, es ist belegt, dass dies (im Falle seiner Lieder) bereits zu seinen Lebzeiten und auch in Anwesenheit des Komponisten geschah. So verwundert es vielleicht nicht, dass sich Bergströms vor rund 25 Jahren entstandenes Arrangement der (im Original ja ohnehin ebenso hinreißend charmanten wie äußerst populären) D-Dur-Sonate ganz offenbar einer nicht unbeträchtlichen Beliebtheit erfreut, jedenfalls erscheint es hier bereits zum dritten Mal auf CD. Dabei ist die Kombination Violine und Gitarre nicht einmal ganz unproblematisch (obwohl sie bereits im frühen 19. Jahrhundert u. a. von Giuliani oder Paganini mit Repertoire bedacht wurde), und an einigen wenigen Stellen – nämlich dann, wenn forciert wird – tendiert die Balance etwas zu sehr in Richtung Violine. Insgesamt aber ist dies eine reizvolle Bearbeitung (die sich zum Original ähnlich verhält wie Dešpaljs Mendelssohn-Arrangement).

Bereits 1845 gab der Wiener Gitarrenvirtuose Johann Kaspar Mertz (1806–1856) seine Sechs Schubert’schen Lieder heraus, Arrangements von Schubert-Liedern für die Gitarre also, teilweise übrigens unter Einbeziehung von Liszts Klaviertranskriptionen (vgl. etwa die Echoeffekte in der zweiten Strophe des Ständchens). Cvirn hat drei dieser Bearbeitungen ausgewählt und ans Ende seines Programms gestellt, und zwar Nr. 1 nach dem Lob der Tränen D 711 sowie Nr. 3 und Nr. 6 jeweils nach Vorlagen aus dem Schwanengesang (Nr. 4 Ständchen bzw. Nr. 10 Das Fischermädchen). Mertzs Arrangements sind ausgezeichnet gelungen, weil sie in sehr geglückter Manier Tonfall und Geist Schubert’scher Lieder mit der Idiomatik der Gitarre kombinieren; Mertz lässt die Gitarre auf mannigfaltige und im Detail bemerkenswert einfallsreiche Art und Weise regelrecht „singen“. Trotz auch hier relativ enger Orientierung am Original sind diese Stücke also nicht nur Bearbeitungen, sondern auch ein Stück weit poetische Nachschöpfungen von Schuberts Liedern.

Cvirns Plädoyer für diese Repertoireerweiterungen gerät insgesamt überzeugend. Besonders hervorzuheben sind seine Interpretationen von Mertz’ Schubert’schen Liedern. Hier ist Cvirn hörbar ganz in seinem Element und wartet mit beseeltem, sanglichem Spiel und viel Sinn für allerhand Details und Nuancierungen wie kleineren Rubati, Smorzandi oder delikatem Dolce-Spiel auf. Insofern ist es eigentlich zu bedauern, dass er nicht den gesamten Zyklus eingespielt hat (Platz genug wäre auf der CD gewesen – vermutlich eine Entscheidung im Sinne der Balance des Programms). Gut gelungen auch die Brahms-Adaptionen, in denen Cvirn und Cerkovnik immer wieder Sensibilität für kurze Momente des Innehaltens, des Zögerns beweisen. Hier und da wäre allerdings etwas mehr musikalischer Fluss möglich, vielleicht durch eine Spur zügigere Tempi (was dem naturgemäß rascheren Verklingen der Töne auf der Gitarre ein wenig entgegenwirken würde).

Mendelssohns Lied ohne Worte erfährt im Zusammenspiel mit Bertoncelj eine solide Interpretation; hier wäre allerdings noch mehr Differenzierung möglich, um die Eleganz, den Schmelz und die weiten kantablen Linien dieser Musik zu voller Geltung kommen zu lassen. Ansprechend ist die Lesart von Schuberts Sonate durch Sonc und Cvirn. Hier und da wäre noch etwas mehr Differenzierung möglich, etwa beim Rondothema des 3. Satzes, bei dem man zugleich etwas stärker ins Piano zurückgehen und der Musik mehr Esprit verleihen könnte. Im Vergleich musizieren Sparf/Bergström selbst dezidiert historisch informiert, während Migdal/Kellermann (auf BIS) in dieser Hinsicht einen Mittelweg gehen; ihre Lesart wirkt in Bezug auf Sonc/Cvirn sicherlich eleganter, feiner nuanciert und in der Balance (Fortissimo zwischen Ziffern B und C im ersten Satz) etwas überzeugender, allerdings immer wieder in puncto Agogik und auch Artikulation (gleich zu Beginn, wenn die Halben in der Violine immer wieder arg verkürzt werden) mit gewissen Eigenheiten, sodass Sonc/Cvirn hier als eine solide, unmanierierte Alternative gelten können. In der Totalen eine schöne Veröffentlichung.

[Holger Sambale, Dezember 2023]

Die Neugier, Besonderheiten zu entdecken

CD: Dreamlover, Music for Saxophone by Albena Petrovic. Joan Martí-Fresquier, Kebyart Ensemble, Cynthia Knoch, Romain Nosbaum.

Solo Musica, SM 394; EAN: 4 260123 643942.

Albena Petrovic gehört zu den produktivsten Komponistinnen unterer Zeit. Die in Bulgarien geborene, in Luxemburg lebende und wirkende Musikerin schrieb über 600 Werke in unterschiedlichsten Gattungen und für diverse Besetzungen. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen wie 2013 den Ordre de Mérite du Grand-Duché de Luxembourg (Rangstufe: Chevalier). Soeben erschien nach Crystal Dream, The Voyager und Bridges of Love ihre nunmehr vierte monographische CD beim Münchner Label Solo Musica: Es trägt den Titel Dreamlover und umfasst Werke für Saxophon, die in Bezug stehen zum ausübenden Künstler Joan Martí-Frasquier. Albena Petrovic bezeichnet Dreamlover als „Konzeptalbum“, das exemplarisch ihr Schaffen für das Saxophon in seinen verschiedenartigen Facetten umreißt. In diesem Interview spricht die Komponistin Albena Petrovic über ihren Zugang zur Musik, über das Saxophon und die Werke, die auf ihrem neuen Album Dreamlover zu hören sein werden.

Oliver Fraenzke (OF): Albena Petrovic, Ihre neueste CD widmet sich dem Saxophon. Dieses ist zumindest in der klassischen Musik ein vergleichsweise neues Instrument, das abgesehen von wenigen Ausnahmen (wie bei Bizet) erst im 20. Jahrhundert aufblühte: man denke an Debussy und Ravel, an Glasunow und an Alban Berg. Am meisten verbinden wir es aber nach wie vor mit dem Jazz, wo es zwar ebenso spät einzog, sich aber nachhaltig durchsetzte. Wie kamen Sie dazu, für dieses Instrument zu komponieren und was spricht Sie an ihm so an?

Albena Petrovic (AP): Tatsächlich war es der Zufall, der viele Dinge bewirkt, der mich dazu gebracht hat, Saxophonisten kennenzulernen. Ich hatte vorher nie die Gelegenheit, für Saxophon zu komponieren, weil ich keine Konzert-Interpreten kannte – ganz logischerweise lag dieses Instrument nicht in meinem Blickfeld. 2006 komponierte ich das Quartett Gebet zum Nichterscheinen, das von der Musikwissenschaftlerin Danielle Roster und ihrem Projekt mit CID Femmes-Luxembourg bei mir in Auftrag gegeben wurde. Ich war sehr dankbar für dieses Projekt, das die meisten Blasinstrumente umfasste. Nach der Uraufführung wurde das Quartett mehrfach aufgeführt – unter anderem in Österreich. Dann schrieb ich mehrere andere Kammermusikstücke, darunter mit Saxophon, aber nichts für dieses Instrument allein. Entscheidend war mein Treffen mit Joan Martí-Frasquier bei Classical Next im Jahr 2016. Er ist eine Art Fürsprecher für sein Instrument – das Bariton-Saxophon: Er bittet Komponisten oft um neue Stücke für sein Instrument. Er hat mehr als 30 Werke uraufgeführt und mit seiner Hingabe an das Schaffen und Entdecken hat er es geschafft, dass ich Lust bekommen habe, für ihn zu komponieren. Außerdem engagiert er sich enorm für zeitgenössische Musik, ganz „puristisch“: Kommerzielle Musik passt keine Spur in sein Repertoire. Mit kommerzieller Musik meine ich Stücke, die mit dem Publikum „flirten“ und in Richtung Populismus abgleiten. Nach dem ersten Stück – DREAMLOVER – komponierte ich 2018 das Konzert mit Streichorchester und die Ouvertüren zum Operndyptich Liebe und Eifersucht. Dies war schon genug Musik, um an eine CD zu denken!

OF: Bei den Werken dieser CD erkunden Sie explizit die Spieltechniken jenseits der „traditionellen“ Musizierweise. Welche klangtechnischen Besonderheiten entdeckten Sie beim Saxophon?

AP: Die Saxophonfamilie ist sehr reich an Klangmöglichkeiten – so virtuos wie eine Klarinette, aber mit Vorteilen in der Klangpalette – sehr unterschiedliche Klangfarben, mehrere Register von Geräuschen und Effekten und natürlich mehr Kraft und Lautstärke. Im Bereich des Ausdrucks und der Suche nach dunklen, auch unschönen Paletten ist das Bariton-Saxophon also in seiner Stärke. Gleichzeitig kann es auf Anfrage wie die menschliche Stimme singen und zart und warm sein – es fällt mir schwer zu sagen, was mit diesem Instrument nicht möglich ist, besonders wenn der Instrumentalist so virtuos ist wie Joan Martí.

OF: Wenn mir gestattet ist, die vorausgegangene Frage weiterzuverfolgen: Allgemein fällt auf, dass Sie in fast jeder Phrase erweiterte Spielweisen benutzen und die klanglichen Möglichkeiten für jedes Instrument durch neue Techniken ausreizen. Sind Sie der Ansicht, die traditionelle Tongebung habe für die neue Musik ausgedient, sei abgenutzt? Oder geht es Ihnen hierbei mehr um eine Umsetzung Ihrer Vorstellungen, die nur eben durch solche Klangsphären erreichbar gemacht werden?

AP: Ich denke, tonale Musik ist unbegrenzt, man kann mit Tonalität viel machen, aber ich habe eine sehr große Neugier, Besonderheiten zu entdecken und zu suchen. Außerdem geht es mir darum, meine Ideen gemäß meiner persönlichen Ästhetik auszudrücken, und ich brauche meine persönliche Sprache.

Des Weiteren sind die Themen, die mich beschäftigen, eher düster, und ich orientiere mich an der philosophischen oder tragischen Seite der Dinge. Ich kann nicht wirklich (nach eigener Entscheidung) Musik zur Unterhaltung komponieren – dafür gibt es sehr spezifische Genres. Gelehrte Musik, wie wir sagen, Kunstmusik, muss sich von Themen und tiefen Gefühlen nähren, und das inspiriert mich auch. Es fällt mir schwer, meine Enttäuschung oder die Einsamkeit von heute mit einer Melodie auszudrücken, die vor 200 Jahren hätte komponiert werden können. Und jeder Schöpfer ist in seiner eigenen Welt – das „Gepäck“, das er mit sich trägt und seine menschlichen Erfahrungen sind absolut untrennbar mit seiner Schöpfung verbunden. Meine persönliche Reise war sehr schwierig und voller Hindernisse – die Zeit meiner Jugend war sehr dramatisch und das ist der Grund, dass mein Aussehen und meine Ästhetik nicht die gleichen sind wie die Schöpfer, die in einem einfachen und unbeschwerten Kontext sich entwickelt haben. Auf heute projiziert: Könnten diese Menschen, die unter den Bombardements in der Ukraine aufwachsen, die gleichen Visionen haben wie die anderen, die auf Mallorca Urlaub machen?

OF: Ihr musikalisches Material setzt sich bei den Werken dieser CD hauptsächlich zusammen aus kurzen Motiven, die vor allem rhythmisch-dynamischer Natur sind oder sich durch individuelle Klanglichkeit auszeichnen. Wie kreieren Sie damit Zusammenhang in den großen Formen? Auf welche Weise gelingt es Ihnen, die einzelnen Sätze oder Werke zusammenzuhalten?

AP: Große Formbauten – hier zum Beispiel das Concerto – werden wie große Gebäude gebaut – proportional und der Form und Dramaturgie eines zuvor erstellten Plans folgend, sonst stürzt das Gebäude ein. Kleine Formen sind Detailarbeit, die oft schwieriger zu erreichen ist. Bei kleinen Formen ist jede kleine Geste sehr wichtig und sichtbarer. In Topform arbeite ich als Architekt – ich plane, bevor ich anfange, und folge dem Plan. Dann hat jede Stufe ihre Rolle in der Dramaturgie des Ganzen.

OF: Allgemein fällt auf, dass Ihre Musik ausgesprochen sanft und weich erscheint, bewusst extreme Kontraste in Sinne von Härte umgeht. Dazu verleihen Sie Ihren Werken vornehmlich poetische Titel, die ebenfalls träumerischen bis melancholischen Charakters sind. Was wollen Sie mit Ihrer Musik vermitteln? Welchen Eindruck erhoffen Sie, bei Ihren Hörerinnen und Hörern beim ersten Höreindruck zu erzielen? Und durch welche Haupt-Charakteristika wollen Sie diesen Eindruck in erster Linie erreichen?

AP: Meine persönliche Ästhetik ist stark von den Impressionisten und Expressionisten beeinflusst. Für mich muss jede Musik eine Inspiration in sich tragen, die vom Herzen kommt. Meine Musik ist rational komponiert und oft übermäßig durchdacht, aber der Hauptzweck ist, dass sie beim Zuhörer ein Gefühl und eine Reaktion hervorruft. Diese nachdenkliche Seite ist für mich essenziell. Also suche ich nach einem einzigartigen und wiedererkennbaren Sound-Look. Ich möchte nicht, dass wenn Sie sich mein Stück anhören, sich fragen, ob das Gershwin oder Bernstein oder Poulenc ist.

OF: Beim ersten Werk auf der vorliegenden CD handelt es sich um ein Solokonzert, ursprünglich für Bariton-Saxophon und Streichorchester als op. 204 komponiert, auf Wunsch von Joan Martí-Frasquier später in der hier zu hörenden Fassung mit Klavier umgeformt. Wie treten Sie der klassischen Form des Solokonzerts heute gegenüber? Welche formalen Teile projizierten Sie in die Gegenwart und wie schaffen Sie eine nach wie vor aktuelle Form?

AP: Das Konzert ist zweisätzig – vor und nach einer imaginären Katastrophe – ein Vorwarnteil voller Angst und Drohung und ein Teil zur Trauer über die Katastrophe. Es gibt auch Sonaten und Konzerte in einem Satz, was seit dem 20. Jahrhundert ein Trend ist, der auch sehr typisch für Opern ist, die bereits in 1–2 Akten üblich sind.

Ich halte es für sinnvoll, die Längen zu kürzen – ich entziehe mich nicht dem Trend, Formen zu schneiden und Mittel zu sparen. Heutzutage dauern Konzerte nicht länger als 60–75 Minuten ohne Pause und das war’s; Das Publikum hört nicht mehr zu, wenn die Musik komplex ist und Reflexion und nicht nur Unterhaltung erfordert. Die Zeit vergeht anders und das wirkt sich auf die Größe der Werke aus.

OF: Bemerkenswert gestaltet sich Ihr Zyklus Poèmes–Masques op. 236, der die bislang einzigartige Formation zwischen Gesang und Saxophon in den Mittelpunkt stellt. Wie harmonisieren die menschliche Stimme, die ja vor allem in der Mittellage bis Höhe Glanz und Volumen erreicht, und das Saxophon, welches ja in der Tiefe mächtig erscheint? Auf welche Weise wirken die zwei Melodieinstrumente zusammen und wie können sie gemeinsam harmonische Vielfalt erreichen?

AP: Es ist sehr natürlich – ich behandle das Bariton-Saxophon wie eine menschliche Stimme, aber ohne Worte – es steht logischerweise im Dialog mit dem Sopran. Und es ist auch sehr harmonisch und sogar melodiös. Ich habe mehrere andere Stücke, in denen ich die Stimme als Instrument behandle, aber hier habe ich die Entscheidung nach dem Inhalt getroffen – die Poèmes–Masques sind sehr theatralisch, wie kleine Skizzen – es gibt Vorschläge, mit denen man den Hörer nicht ablenken darf durch zu viel Virtuosität, die Intimität des Textes suggeriert auch eine intime Textur.

OF: Die Texte der vier Lieder stammen ebenfalls aus Ihrer Feder. Im Booklet beschrieben Sie, dass der schöpferische Prozess des Entstehens von Text und Musik zusammenfällt. Wie kann man sich das vorstellen? Könnten Sie das anhand eines Beispiels erklären, wie Sie bei Liedkompositionen vorgehen?

AP: Ich denke über die Botschaft nach, die ich vermitteln möchte, dann fange ich an, eine Textur auszuarbeiten – Instrumente, Klangfarben und die Worte, die diese Botschaft am besten ausdrücken. Rational und intuitiv sind die beiden Arbeitsweisen, die bei meiner Textarbeit Hand in Hand gehen. Arbeiten ohne Text ist viel rationaler.

OF: Es folgen drei Stücke für das Saxophon allein: DREAMLOVER op. 189 (2017) und die Zwei Stücke für Alt-Saxophon o. O., die aus Ihrer Kammeroper Love & Jealousy stammen. Ein Melodieinstrument ohne Begleitung stellt Komponistinnen und Komponisten vor besondere Herausforderungen. Vor welchen Aufgaben standen Sie hier?

AP: Es ist wirklich sehr anspruchsvoll, ein Stück für Soloinstrument zu bauen, aber ich mache es nur, wenn ich wirklich glaube, dass dies der einzige Weg ist, die Botschaft zu vermitteln – in der Dyptich-Oper Love & Jealousy, also Liebe und Eifersucht, ist das Saxophon die Verkörperung der Einsamkeit – es spielt diese Rolle auch in der Dramaturgie der Klangfarben; im DREAMLOVER ist es ähnlich – marginal, realitätsfern in Einsamkeit und Isolation.

OF: Zu DREAMLOVER vermerkten Sie, es ließe viel Raum für die Phantasie der Interpretinnen und Interpreten. Auf welche Weise?

AP: Eines der Bücher, das mich geprägt hatte, war Opéra Aperta des Schriftstellers und Philosophen Umberto Eco – die offene Form, die Raum lässt für die anderen Teilnehmer des Dreiecks – für Darsteller und sogar für die aktive Teilnahme des Publikums im Bezug auf die ‚Ausführung‘ des musikalischen Werkes – ich gehe nicht zu weit in diese Richtung, aber ich gebe dem Interpreten kontrollierte Freiheit, damit er dem Endergebnis seinen Stempel aufdrücken kann. Er muss sich wirklich in die Haut des Komponisten hineinfühlen und die Emotion seines eigenen Wesens leben. Ansonsten sind die Noten streng geschrieben, auch die Nuancen. Die Freiheit betrifft Rhythmus, Tempo und Ausdruck.

OF: Das letzte der zu hörenden Werke trägt den Titel Gebet zum Nichterscheinen op. 102, es ist das früheste der aufgenommenen Werke und für vier Saxophone komponiert. Hier näherten Sie sich das erste Mal dem Saxophon: Wie bereiteten Sie sich auf das Schreiben für dieses Instrument vor? Und was zeichnete die Arbeit an dem Werk aus?

AP: Das ist mein erstes Werk für Saxophon, es gab einen Auftrag, dieses Werk zu komponieren, aber ich kannte die Instrumente schon lange vorher, seit dem Ende meines Studiums; 2006 ergab sich die Gelegenheit. Das ist für mich etwas ganz Besonderes – ich muss immer einen Bühnentermin im Blick haben, sonst kann ich nicht komponieren. Wenn es möglich ist, die Interpreten sogar persönlich zu kennen, ist dies der beste Weg, um die Werke zu fühlen und ihnen Energie zu verleihen. Und der erste Klick ist sehr wichtig – die Idee und der Titel. Ohne Titel und Idee, die einander entsprechen, kann ich ebenfalls nicht komponieren. Und doch ist es der Ton, der die Inspiration bringt. Ich habe Blaubart von Kurt Vonnegut gelesen und fand die Reflexion von Erscheinen und Nichterscheinen sehr inspirierend. Ich habe mich auch entschieden, mit „soggeto cavato“ und „Augenmusik“ zu experimentieren und bestimmte Texte, Namen etc. in das thematische Material zu kodieren – das ist das Unsichtbare hinter den Noten. Da es sich bei Saxophonen um transponierbare Instrumente handelt, ist diese Codierung in der C-Partitur ersichtlich. Dasselbe mache ich seit Jahren mit vielen Instrumentalstücken – es ist eine Technik, die es mir erlaubt, eine gewisse Erdung und eine artifizielle Modalität / fast Tonalität zu erzeugen.

OF: Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Antworten!

[Interview geführt von: Oliver Fraenzke, April 2022]

Eberls Quartette erblicken das Licht der Welt

Solo Musica, SM 391; EAN: 4 260123 643911

Das casalQuartett entdeckt die Musik von Anton Eberl, bei Solo Musica erscheint nun unter dem Titel „Rediscovered“ die Weltersteinspielung der drei Streichquartette op. 13.

Anton Eberl – bei eingehenderer Beschäftigung mit der Musik der Wiener Klassik kommt man kaum um diesen Namen herum; zu hören ist sein Schaffen allerdings ausgesprochen selten. Seine zu Lebzeiten hochgelobten Werke tauchen erst seit der Jahrtausendwende wieder vereinzelt auf der Bildfläche auf. Vor zwei Jahren erschienen die sieben Klaviersonaten in einer Einspielung durch Luca Quintavalle (Brilliant Classics), ebenso das Konzert für zwei Klaviere durch das Duo Tal & Groethuysen mit der Frankfurt Radio Symphony unter Reinhard Goebel (Sony), 2000 kamen die Symphonien durch das Concerto Köln heraus (Teldec). Nun darf das casalQuartett für sich beanspruchen, die Quartette Anton Eberls wiederentdeckt zu haben.

Der Name Eberl steht zumeist in unmittelbarer Verbindung zur Familie Mozart. Wolfgang Amadeus unterwies den um neun Jahre jüngeren Kollegen, woraus eine lebenslange Freundschaft zwischen den Familien erwuchs, die auch über den Tod Mozarts bestehen blieb, nämlich zu Constanze und ihrer Schwester. Der 1765 geborene Eberl trat in Kindertagen als Pianist auf, verschrieb sich nach einem aus finanziellen Gründen abgebrochenen Jurastudium vollständig der Musik. Fortan findet sich sein Name immer wieder an prominenter Stelle, so in Lobeshymnen von unter anderem Gluck, als Kapellmeister von Haydns Schöpfung in Russland, als Solist seines eigenen Klavierkonzerts neben Beethovens Eroica und als eigentlicher Autor von Mozart zugeschriebenen Werken. Die Presse überschlug sich förmlich des Lobes, zumeist übrigens mehr als über die Musik seiner heute bekannten Kollegen.

Wie so oft fällt, wenn ein unbekannter Tonsetzer aus der Vergessenheit geborgen wird, schnell das Wort „Epigonentum“, und es wird versucht, ihn in den Schatten des bewährten Meister zu stellen. Auch Anton Eberl war davor nicht gefeit, schnell reduzierte man ihn auf seinen Lehrer. Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass Mozart seine Handschrift bei seinem Schüler hinterließ, allerdings nur im Bewusstsein darüber, wie die Naturgesetze der Funktionsharmonik walten und an welchen Stellen sie kurzzeitig umgangen werden können. Eberl lernte die Wendigkeit des musikalischen Geschehens und das Gefühl für gezielte Überraschungen und Unvorhersehbarkeiten. Die Art der Themenfindung, die aufkommenden Stimmungen und die Fortführung seines Materials hingegen sind genuin auf Eberl selbst zurückzuführen.

Die Drei Quartette op. 13 gab Anton Eberl 1801 gebündelt heraus und konzipierte sie als bewussten Zyklus dreier dennoch eigenständiger Werke, die sich in Gehalt und Spannung steigern – ähnlich ging vor allem Beethoven bei seinen frühen Opera vor, so den drei Sonaten op. 2. Die Drei Quartette halten sich an die klassische Viersätzigkeit und deren Formmodelle, brechen allerdings immer weiter die Strukturen auf. Gibt sich das Erste in Es-Dur noch recht normbewusst, begehrt die Nummer Zwei in D-Dur schon mehr auf. Das Hauptthema wirkt wie aus einer Oper entsprungen, schnell jedoch kippt die Situation und die Musik präsentiert auf knappem Raum eine Vielzahl an Stimmungen. Das Allegro-Menuett steht an zweiter Stelle und das Adagio non troppo an dritter: Hier keimt eine unerhörte Dunkelheit auf, die in ihrer introvertierten Spannung höchstens mit wesentlich später entstandenen Werken Schuberts vergleichbar wäre. Meisterlich gelingt der Übergang in den Schlusssatz, der noch verunsichert anhebt und erst allmählich anrollt, in der vorliegenden Aufnahme geschlagene zwanzig Sekunden braucht, bevor sich die gelöste Stimmung etabliert. Dies beweist, dass Eberl nicht nur an die Sätze an sich dachte, sondern die gesamte Dramaturgie bedachte. Das Dritte Quartett stellt ein Adagio an die erste Stelle, das in der Tonart g-Moll Licht und Schatten auslotet, wieder in beachtenswerte Tiefen blickt. Symphonisch hebt das Menuetto an, das bei aller scheinbaren Heiterkeit einen bitteren Beigeschmack nicht verliert. Auch in den kommenden Sätzen demonstriert Eberl die enorme Wirkung des schlichten Molls, spielt mit Kontrasten und legt bei enormer Wendigkeit des Geschehens jede Harmonie auf die Goldwaage.

Das casalQuartett setzt die Musik auf eine distanziert nüchterne Weise um, bleibt dabei höchst aufmerksam auf den Strom der Musik und geht in feinen Schattierungen auf die raschen Wechsel ein, welche hörbar werden, ohne zu sehr hervorzustechen. Übermäßige Kontraste vermeiden die vier Musiker, hüten sich also vor vermeidlichen Romantismen, welche die luzide Textur der Quartette zerfasern könnten. Die Stimmen entwickeln sich aus einem einheitlichen Klang heraus, bei dem die klangtechnisch oftmals auffallend weichere Bratsche sichtlich in die härteren Randinstrumente integriert erscheint. Das ermöglicht eine besondere Plastizität und Mehrdimensionalität des Klanges, da dieser einen einzigen Ursprung zu haben scheint. Unverkennbar besticht das fundierte Wissen, das die vier Streicher über die Entstehungszeit der Quartette und deren Aufführungspraxis besitzen (man beachte das Begleich-„Buch“ ihrer fünfteiligen Aufnahme Beethovens Welt 1799-1851 [Solo Musica, SM 283] mit allein 67 Seiten auf Deutsch vom Bratschisten des Quartetts). Dabei stellt das casalQuartett die Quartette nicht als verstaubte Museumsstücke dar, sondern holt die Kenntnis über jene Zeit in unsere heutige Klangkultur und schafft ein Stück lebendige Geschichte.

[Oliver Fraenzke, März 2022]

Die Überzeugung, dass Neues kommt

Ein Interview mit Susanna Klovsky und Martina Silvester vom Ensemble Clazzic

Das Ensemble Clazzic spielt mit Genregrenzen, bahnt sich im Dickicht unterschiedlichster Stile und Einflüsse einen ganz eigenen Weg, frei und eigenständig. Nach zwölf Jahren ihres Bestehens legten die vier Musiker nun ein Debut-Album vor, das vor sprühender Lebendigkeit nur so strotzt (Solo Musica SM 371). An einem spätherbstlichen Nachmittag Ende Oktober traf ich die beiden Gründungsmitglieder Susanna Klovsky und Martina Silvester zum Interview.

Oliver Fraenzke: Bei solch einer Musik, die zwischen allen Stühlen steht, muss ich natürlich zunächst fragen: Wie würdet Ihr den Stil Eures Ensembles beschreiben, wo positioniert Ihr Euch selbst?

Martina Silvester: Unseren Stil vergleiche ich gerne mit dem Bild eines Baums: Die Wurzeln befinden sich in der Klassik, und der Stamm auch noch. Darüber hinaus besitzen wir eine ganze Menge an Blättern und Blüten, die den Duft ganz anderer Genres verströmen. Prinzipiell sind wir für alles offen und das merkt man auch, so dass wir gerne Elemente beispielsweise des Jazz oder des Tangos aufgreifen – und mal sehen, was noch alles kommen wird! Das Wichtigste für uns ist, ein klassisches Ensemble zu sein, dass dann aber weitergeht und sich öffnet.
Susanna Klovsky: Was mir an unserem Ensemble so gut gefällt, ist, dass wir alle vier eine klassische Ausbildung durchlaufen haben, aber darüber hinaus vielseitig interessiert blieben. Unser Schlagzeuger beispielsweise hat unter anderem viel im Bereich Pop gewirkt, unser Bassist spielt in Balkan-Formationen mit deren ureigenen Rhythmuselementen, fühlt sich auch im Jazz beheimatet. Martina hat sich auch neben anderem mit dem Beatboxen auseinandergesetzt und ich habe in Latin Bands gespielt. Wir beide vertreten parallel zum Ensemble Clazzic auch ganz andere Konzepte, wo man prinzipiell über stilistische Tellerränder blicken muss. So kann jeder von sich Ideen einbringen. Wir gehen üblicherweise von einem Grund-Werk aus, das bereits so vorliegt und im Idealfall für uns komponiert wurde, und sehen dann, was sich daraus ergibt, was wir alles daraus machen können.

Oliver Fraenzke: Wie lief dies denn im Falle Eures Paradestücks ab, der Clazzic Suite?

Martina Silvester: The Clazzic Suite, die man auf unserer Debut-CD Intersec#ion hören kann, wurde extra für uns komponiert. Wir fragten den israelischen Komponisten Uri Brener, ob er solch eine Suite für uns schreiben würde und waren auch selbst am Kompositionsprozess beteiligt. Uri fragte dezidiert nach unseren Wünschen an das Werk und welche Musik wir gerne hören, hat uns damit das Werk förmlich auf den Leib geschrieben. Wir legten auch Wert darauf, dass jeder von uns einen eigenen Satz bekommt, was ja dann auch so geschah: Saltarello ist mehr der Schlagzeug-Satz, Funky Bird gehört dem Bass und hat ein großes, von Strawinskys Feuervogel abgeleitetes Solo, Susanna am Klavier darf in Amadevans an Mozarts A-Dur-Klaviersonate treten und Syrinxation kommt natürlich von Syrinx, einem Flötenwerk von Debussy. Der Bachsatz, Walking Bachwards, stammt von einer Gambensonate (ursprünglich für zwei Flöten) – diese habe ich mir gewünscht, weil ich diese Sonate so sehr liebe.

Oliver Fraenzke: Jede Epoche und Musikströmung bringt ja auch ganz eigene Techniken mit sich, was sich am Klavier beispielsweise durch die Anschlagsart abzeichnet, beim Gesang sogar durch ganz unterschiedliche Mundhaltung und Stimmfärbung. Wie geht Ihr auf Euren Instrumenten mit diesem Mix an Grundtechniken um; entlehnt Ihr Euch diese nach Bedarf aus den jeweiligen Stilen oder bleibt Ihr im Ursprung den klassischen Artikulationsweisen treu?

Susanna Klovsky: Es schadet nicht, die Stilistik der jeweiligen Strömungen zu kennen. In meinem Falle ist es so, dass mein Vater Jazzmusiker ist und ich so ganz natürlich auch mit deren besonderer Phrasierung und Artikulation in Berührung gekommen bin. Und immer, wenn ich dorthin kam, etwas in diesem Stilbereich zu spielen, sagte mein Vater mir, wie ich es zu phrasieren und artikulieren habe. Aber das wirkt für das Ensemble Clazzic eher im Unterbewusstsein, denn wir wollen uns nicht den Anstrich verpassen, Jazzmusiker zu sein: Das sind wir nicht! Man möchte zwar schon einer gewissen Phrasierung gerecht werden, die dem geforderten stilistischen Idiom entspricht, aber wir bleiben uns treu.
Martina Silvester: Das ist ein Credo: Wir bleiben uns treu. Was bei Susanna der Jazz ist, ist bei mir Bach: Ich studierte auch Traverso und weiß, wie man Bach „pur“ spielt. Das versuche ich auch in unseren Arrangements zu integrieren, aber nicht wortwörtlich, sondern angepasst, dass es wieder „unseres“ wird. Beim Spielen denken wir, so habe ich das Gefühl, gar nicht zu viel nach, was alles in uns verwurzelt ist und wie genau wir etwas umsetzen, das Gedankliche geschieht oftmals erst im Nachhinein. Im Zusammenspiel mit dem Ensemble bemerken wir dann auch eigene Grenzen und wollen uns dementsprechend fortbilden. Was Susanna nun im Jazzidiom bereits kannte, musste ich erst lernen, und nahm dann Unterricht in diesem Bereich bei einem Saxophonisten. Ebenso für Milonga: Hier lernte ich noch bei einer Tango-Flötistin, der Frau des Komponisten Exequiel Mantega. Und am Ende fließen unsere Vorzüge und alles Gelernte zusammen, münden dann in einem großen Ganzen, das uns ausmacht.

Oliver Fraenzke: Also kann der Prozess beim spielerischen Erkunden bis zur finalen Wiedergebe als natürliche Genese beschrieben werden, so dass am Ende die Intuition das Gelernte überlagert?

Susanna Klovsky: Es entsteht aus unserer Zusammenarbeit, besonders aus dem gegenseitigen Zuhören. Bei der Einstudierung hören wir beispielsweise, dass der Bass von Alex [Bayer] – der sich im Bereich Jazz ja zuhause fühlt – groovt und swingt. Das setzt eine Kommunikation in Gang, auf die wir reagieren. Man tüftelt, man probiert aus, man hinterfragt: Ist das der Weg, den wir gehen wollen? Obwohl es so klingt, möchten wir es vielleicht doch ganz anders machen? Das ist das Spannende daran, dass wir vier uns austauschen. Wir schauen, wie wir am besten zusammenkommen, dass es auch danach klingt.
Martina Silvester: Unsere Formation hat sich im Laufe der Zeit auch mal verändert; unser Schlagzeuger Thomas [Sporrer] kam als letztes hinzu. Er hat dann neue Facetten hineingebracht, sogar die Suite bereichert – dem Schlagzeugsatz viel größere Dimensionen verliehen, als vorgesehen war. Das hat uns dann erst zu dem Klang verholfen, den wir heute haben.
Susanna Klovsky: Darum heißt unser Album auch Intersec#ion, Schnittpunkte. Weil wir vier uns gerade hier in dieser Formation treffen und unsere jeweiligen Wurzeln und Kenntnisse zusammenführen. Wir kommen aus verschiedenen Richtungen, treffen uns im Hier und Jetzt, schauen dann, wo wir gemeinsam hingehen.

Oliver Fraenzke: Die Idee, verschiedene Stile zu vermengen, gibt es wohl schon seit Jahrhunderten, wobei natürlich die Entwicklung und vor allem Popularisierung von Musikwiedergabemedien Anfang des 20. Jahrhunderts einen gewaltigen Sprung mit sich führte: Denn plötzlich schwappte der Jazz auch nach Europa und viele Komponisten griffen ihn auf. Die Liste derer, die das in ihren Stil integrierten, was man als Jazz bezeichnete, ist lang, von Milhaud über Antheil zu Krenek, Schnabel etc. – und umgekehrt wollten Komponisten wie Gershwin und Ellington die klassische Welt erkunden. Dieser Austausch herrscht bis heute an, man denke allein an die Klazz Brothers oder Cuba Percussion, Joachim Horsley oder Ernán López-Nussa. Habt Ihr in diesem gewaltigen Kosmos konkrete Vorbilder oder eine Idiomatik, die Ihr weiterführen wollt?

Martina Silvester: Am Anfang, bevor es unser Ensemble Clazzic gab, habe ich mit Freude Ensembles wie die Klazz Brothers gehört und fand diese Stilvermengung immer cool. Ich sage nicht, dass ich so etwas einmal machen wollte, aber ich fand es äußerst erfrischend, weil es anders war als das, was man sonst kennt. Die Idee, mal raus zu kommen aus den Konventionen, das beflügelte uns natürlich. Kopieren wollten wir aber nie – immer unser Eigenes sein.
Susanna Klovsky: Wir begannen mit Suiten von Claude Bolling, die bereits damals auf Tonträger zu hören waren – so tasteten wir uns allmählich an die Stilvermengung heran. Aber schon da dachten wir uns, dass wir das noch aufbrechen und extremer machen müssten. Meine großen Vorbilder hier sind Michel Camilo und Chick Corea. Es gibt ja auch auskomponierte Teile bei ihnen und trotzdem klingt alles frisch und lebendig, alles brodelt.
Martina Silvester: Damit begann unsere Suche. Bei der Bolling-Suite kam Susanna plötzlich auf die Idee, dass man doch einen HipHop-Rhythmus daruntersetzen könnte. Daraus wurde „Bolling Reloaded“ – ich habe dann probiert, dazu ein wenig zu beatboxen.

Oliver Fraenzke: Das sind ja alles Sachen, die man zunächst beherrschen, also lernen muss. Mit den Grundelementen des Jazz sind die meisten klassischen Musiker durch die Musik des 20. Jahrhunderts zumindest rudimentär vertraut, aber HipHop liegt in einer ganz anderen Sphäre.

Susanna Klovsky: Für den HipHop-Part haben wir mit unserem Schlagzeuger wahnsinnig viel getüftelt, bis wir vom Ergebnis überzeugt waren. Andere sonst wenig vertretene Elemente lagen uns da deutlich näher, so beispielsweise der Salsa, denn früher habe ich viel in Salsa-Bands gespielt, so war mir das zumindest in Grundzügen vertraut. Daher wohl auch die Verbindung zum Latin Jazz mit Michel Camilo.

Oliver Fraenzke: Also begegneten Euch die meisten diese Elemente schon während Eurer Laufbahn?

Martina Silvester: Zu guten Teilen ja. Anderes wie das Beatboxen habe ich erst jetzt angefangen. Auch nehme ich nun Jazzunterricht, da ich einfach keine Jazz-Flötistin bin und da Nachholbedarf verspüre. Ich will und werde nie eine Jazz-Flötistin sein, habe auch beim Improvisieren einen ganz eigenen, eher aus der Klassik kommenden Stil, aber ich will es kennenlernen, die Theorie dahinter und einige Handgriffe verstehen.
Susanna Klovsky: Wir wollen den Fachleuten auch nichts vormachen: Wir sind wer wir sind. So werden Jazz-Puristen bei uns keine Freude haben, aber das ist okay, denn in dem Bereich gibt es genug großartige Musiker und Bands, da wollen wir uns nicht einmischen. Wir finden einen Haken für verschiedene Menschen, so erreichen wir viele, die wenig vertraut sind mit einigen der Genres, die wir verarbeiten. Es gibt genug reine Klassik-Hörer, die keinen Kontakt mit Jazz hatten, und unsere Konzerte großartig fanden; auch manche, die nie Bezug zur Klassik hatten, konnten wir ansprechen.
Aber natürlich, vieles kennen wir von früh auf, so hat mein Vater immer sehr produktive Tipps gegeben, wenn ich geübt habe, und hat auch unser Ensemble am Anfang gecoacht. Er hat uns sogar ein Stück geschrieben.

Oliver Fraenzke: Das kommt dann auf Eure zweite CD?

Martina Silvester: Ja, wir sind schon am Sammeln!

Oliver Fraenzke: Da hat Euch nun wohl das CD-Fieber gepackt! Intersec#ion ist ja Euer erstes Album, dabei existiert das Ensemble Clazzic seit zwölf Jahren. Wie kamt Ihr dazu, erst jetzt und genau jetzt ins Studio zu gehen?

Martina Silvester: Wir hatten einen langen Weg und zwischenzeitlich mit unterschiedlichen Bassisten und Schlagzeugern gespielt – nur Susanna und ich blieben uns von Anfang an treu. Wie gesagt begannen wir mit Bolling, ließen uns dann aber recht bald die Clazzic Suite schreiben. Die haben wir auch aufgeführt, dachten aber lange nicht daran, sie auf Tonträger festzuhalten.
Susanna Klovsky: Wir hatten verschiedene Mitmusiker, und manche stellten einfach fest, dass dies nicht die Richtung war, in die sie gehen wollten – was vollkommen in Ordnung ist, und sie sind dem Ensemble noch sehr lieb verbunden. Diese Suite zunächst so zu lernen, wie sie dort steht, das lag manchen nicht im Naturell. Bis man dann die für unseren Weg richtigen Leute findet, und sich dann ein Stil kristallisiert, mit dem wir so zufrieden waren, dass wir ihn festhalten wollten, das hat lange Zeit gedauert. Auch Corona war natürlich noch einmal ein großer Schlag.
Martina Silvester: Wir haben bei allem immer an unser Projekt geglaubt. Unsere Konzerte kamen von Anfang an gut an und wir alle hatten großen Spaß dabei. Doch natürlich musste man zunächst Worte finden, sich zu beschreiben, überhaupt an Veranstalter und zu Publikum zu kommen – auch den richtigen Moment zu finden. Wenn man nur liest, was wir machen, sagt das vermutlich den meisten nichts, deshalb haben wir nun die CD als klingende Visitenkarte, die zeigt, wie wir tönen.

Oliver Fraenzke: Im Kern der CD steht die Clazzic Suite. Nun habe ich ja bereits einiges von Eurer Musizierpraxis gehört: Klingt die Suite noch so, wie sie in der Partitur steht?

Susanna Klovsky: Nein, die Suite hat sich mit uns gewandelt. Wir haben einige der Rhythmen geändert und auch die Klangfarben; dann gibt es improvisierte Teile.

Oliver Fraenzke: Vorgegebene oder selbst eingefügte?

Martina Silvester: Beides. Manche schrieb Uri Brener vor, andere stammen von uns. In Syrinxation gab es eine Solostelle, wo ich zunächst alles wörtlich so spielte, wie es in den Noten stand – dann fragte ich aber Uri, ob ich nicht auch etwas Eigenes hinzufügen könnte, und er antwortete: „Super, noch viel besser!“ Ich glaube sogar, es entspricht seinen Vorstellungen, dass nun jeder von uns eigene Improvisationen einfließen lässt.
Susanna Klovsky: Die Suite wurde ja schon recht früh komponiert, und da wussten wir selbst noch nicht, in welche Richtung es uns treiben würde. Und das hat Uri gemerkt, der schließlich selbst ein Ensemble hat, wo er ähnliches tut – so war ihm klar, dass man so etwas nicht einfach schwarz auf weiß in Noten fassen kann, sondern Freiräume lassen muss, die wir im Laufe der Jahre füllen; oder uns eigene Freiräume schaffen.
Martina Silvester: Ich schickte ihm eine ganz frühe Aufnahme der Suite. Seiner Antwort zu Folge fand er es schön, aber – mit anderen Worten – noch recht brav gespielt. Als ich ihn dann in die CD reinhören ließ, war er begeistert: „Ja, das ist es!“

Oliver Fraenzke: Neben der Suite gibt es noch zwei Milongas auf der Platte. Nun ist das wieder ein anderer Fall, denn solch eine Tangomusik lässt sich schwieriger in Noten fassen als eine klassische Komposition.

Susanna Klovsky: Beim Tango ist die erste Frage stets: Wie instrumentiere ich ihn? Der Rhythmus ist ja festgelegt. Wir haben nun kein Tangoorchester, sondern sind mit vier Musikern eh recht reduziert. Beim Schlagzeuger würde man fragen, welche Instrumente er einsetzt. Die Cajon, die Thomas verwendet, hat eigentlich in der Milonga traditionell nichts zu suchen, fügt aber eine sehr schöne Klangfarbe hinzu. Und je nachdem, wie ich dann phrasiere, oder der Bassist Alex, ändert sich die Klangtextur, wird möglicherweise etwas schärfer als im Original. Für eine Tanzaufführung braucht es eine gewisse Kontinuität, damit die Tänzer darauf überhaupt tanzen können; wir können uns für eine Konzertaufführung mehr Freiheiten nehmen. So können wir an einer Stelle etwas akzentuierter spielen, fetziger, an anderer Stelle eher sentimentaler werden, als man es sonst machen würde.

Oliver Fraenzke: Sind die beiden Stücke auf Eurer CD dann noch Milonga geblieben?

Martina Silvester: Ja, auf jeden Fall. Wir sind jetzt nicht ein Schrecken von Komponisten geworden, dass wir alles möglichst anders machen. Wir wollen ja den Kern der Musik erkunden, und nicht zwanghaft Anders sein. Bei vielen aufgeschriebenen Milongas steht sogar das Wort „frei“ dezidiert in der Partitur.

Oliver Fraenzke: Wo wollt Ihr Eure Musik dann im Konzert positionieren: Konzertsaal oder Jazzclub?

Beide: Im Konzertsaal.
Susanna Klovsky: Wir sehen die Musik ganz eindeutig für den Saal. Glücklicherweise konnten wir uns mittlerweile auch einen Ruf aufbauen, sodass die Zeiten vorbei sind, wo niemand wusste, was wir machen, und wir nur Stand- oder gar elektronische Klaviere zur Verfügung hatten.
Martina Silvester: Wobei wir sogar schon in Jazzclubs gespielt haben. Am Bodensee traten wir einmal in einem Club auf, wo es wahnsinnig eng war, Susanna und ich dann Rücken an Rücken spielten, nur über einen Spiegel kommuniziert haben. Dennoch war es ein wahnsinnig schönes Konzert mit ganz eigener Stimmung. Auch wenn solch ein Ambiente nicht unserem Hauptidiom entspricht, bleiben wir da natürlich möglichst offen.

Oliver Fraenzke: Also Hauptsache akustisches Klavier.

Susanna Klovsky: Ja, diese Musik kann man einfach nicht auf einem E-Piano spielen, noch weniger auf einem Synthesizer. Da müsste man die gesamte Musik neu darauf auslegen, aber das wollen wir nicht.

Oliver Fraenzke: Und wie sieht es mit dem Bass aus?

Martina Silvester: Uri Brener hat tatsächlich überlegt, ob er Funky Bird für E-Bass konzipiert, und Alex könnte das ja auch spielen, aber wir kamen dann doch weg von dieser Idee.

Oliver Fraenzke: Beim Bass macht es aber mehr Sinn, denn auch der E-Bass hat noch echte Schwingungen, ist nur durch die Bünde und den elektronischen Klang gekennzeichnet.
Aber ist es nicht schwierig, einen Veranstalter zu finden, wenn man so wie Ihr zwischen den Stühlen steht?

Susanna Klovsky: Ja, gerade am Anfang. Veranstalter brauchen immer eine Kategorie, müssen einen in eine gewisse Schublade stecken – das war schwierig für uns. Dies wurde schließlich auch zu einem der Hauptgründe für unsere CD, denn wenn man uns hört, versteht man unsere Intention und kann uns einordnen. Aber glücklicherweise sprechen sich Auftritte schnell herum, und wenn man einen großen Auftritt hatte, bekommt man auch andere Aufträge.

Oliver Fraenzke: Und wie wird es weitergehen; folgt noch eine zweite Clazzic Suite?

Susanna Klovsky: Ich glaube, wir werden in andere Richtungen weitergehen. Diese eine Suite ist so stimmig, da brauchen wir gar keinen Nachfolger. Nun haben wir neue Ideen, es wartet schon einiges neues auf uns.

Oliver Fraenzke: Also gerade nun, wo Ihr eine Schiene gefunden habt, drängt es Euch schon weiter?

Susanna Klovsky: Genau. Es wäre schön, wenn wir uns stets selbst neu erfinden könnten! Zwar sehen wir es nicht als konkrete Aufgabe, Neues zu suchen, sind aber überzeugt, dass Neues kommt. Zumindest war es bisher immer so. Wir haben so verschiedene Einflüsse und machen so viele neue Erfahrungen, dass diese unweigerlich ins Ensemble (zurück-)fließen müssen.

[Oliver Fraenzke, Februar 2022]

Nicht für Puristen – doch für alle Anderen

Solo Musica SM 371; EAN: 4 260123 643713

Mit ihrem Debut-Album Intersection definiert sich das 2009 gegründete Ensemble Clazzic. Die vier Musiker mit Wurzeln in der Klassik und Fühlern in sämtlichen anderen Musikströmungen stellen sich ihren Stil zusammen zu einer Kreation jenseits dessen, was man mit Genrebezeichnungen fassen könnte. Es spielen Martina Silvester an der Quer- und der Piccoloflöte, Susanna Klovsky am Klavier, Alex Bayer am Bass und Thomas Sporrer an den Drums. Zentrum ihrer Aufnahme bildet die fünfsätzige Clazzic Suite, die ihnen der israelische Komponist Uri Brener auf den Leib geschrieben hat. Um diese herum hören wir die Milonga Camarga von Exequiel Mantega und die Milonga de mis amores von Pedro Laurenz und José María Contursi, jeweils in freien Abwandlungen des Ensembles.

Zwölf Jahre hat es gedauert, bis das Ensemble Clazzic sich sicher war, eine stilistische Ausrichtung gefunden zu haben, die sie auf CD brennen können. Doch nun ist das Ensemble angekommen – und liefert ein von vorne bis hinten durchdachtes, quicklebendiges und persönliches Album ab, sichert sich auf Anhieb einen festen Platz in der Musikwelt irgendwo zwischen Klassik, Jazz und allem nicht Benennbaren. Dass diese Titel nur ein Durchgang sind, ein festgehaltener Augenblick, der schon wieder in neue Richtungen weist, erklärt sich dabei von selbst.

Tiefgehender auf die Frage nach einer Stilistik einzugehen, wäre an dieser Stelle unnötig: Nicht alles braucht einen Namen. Es reicht zu wissen, dass alle vier der hier zu hörenden Musiker eine klassische Ausbildung absolvierten, ihre Interessen allerdings von Anfang an auch in ganz anderen Bereichen hatten und sich nie verschiedenen Einflüssen gegenüber verschlossen haben. Versehen mit uneingeschränktem Drang, alles auszuprobieren und noch mehr zu wagen, war der Plan zu einem genreübergreifenden Projekt schon halb geschmiedet. Dabei blieb klar, dass die notierte Musik auch Grundlage bleiben sollte, wozu die Gründungsmitglieder Susanna Klovsky und Martina Silvester den israelischen Komponisten Uri Brener beauftragten, eine Suite zu schreiben, welche mit den Grenzen spielt und sie idealerweise nivelliert. Die so entstandene Clazzic Suite bildet einen Ausgangspunkt der stilistischen Ausrichtung, andererseits wurde auch sie im Laufe des Einstudierens und Experimentierens immer weiter verändert, so dass die Noten eine Basis, nicht aber das Ganze bilden.

Die fünf Sätze der Clazzic Suite entspringen fünf klassischen Werken aus verschiedenen Epochen. Prädestiniert für ein Unterfangen, es in Richtung anderer Musen zu öffnen, steht Debussys Syrinx am Beginn, Syrinxation: Die Harmonik ist bereits so reich an Erweiterungen, dass der Schritt in Richtung Jazz alleinig durch rhythmische Aufheizung getan ist, teils gar nur durch Voicing. Auch Bach, dessen Triosonate BWV 1039 den zweiten Satz – Walking Bachwards – definiert, begrüßt freudig neue Stilistiken, denn diese Musik erfüllt ihre Intention gleich auf welchem Instrument und bei entsprechend handwerklichem Geschick auch gleich welcher Verarbeitung. Funky Bird, diese Satzbezeichnung deutet zu Strawinskys Feuervogel, dessen ruppige Ader dem Rock’n’Roll Pate steht. Davor noch, in der Mitte der Suite, holt uns Saltarello ins Mittelalter, und bleibt doch in der Jetztzeit. Das gewagteste Thema stellt das von Mozarts A-Dur-Sonate KV 331 dar, welches in der luziden Leichtigkeit auch extrem fragil erscheint und durch die kleinste Verzerrung zu zerbröckeln droht. Brener löst dies, indem er das Thema unverändert an den Beginn stellt – wo es nach den vorausgegangenen vier Sätzen (durchaus bewusst) wie ein Fremdkörper wirkt. Und als Mozart beginnt, das Thema zu variieren, so setzen nach und nach die anderen Musiker ein und bewegen sich Stück für Stück vom Original fort, wobei einige der Variationen wiederkehrendes thematisches Material einwerfen.

Was entsteht, ist ein vielseitiges, vielschichtiges und vielgestaltes Album, das zu Hören wahrhaft Spaß macht. Es kann locker im Hintergrund laufen und für gute Laune sorgen; lädt aber noch mehr zum Entdecken ein, es mit vollem Fokus auf die Musik zu hören. Immer wieder entdeckt man kleine Seitenhiebe, Themen sämtlicher Epochen und Genres, die doch in eine große, funktionierende Form eingebettet sind. Puristen gleich welcher Gattung würden sich wohl beleidigt fühlen, denn es ist keine Klassik mehr und doch deutlich kein Jazz: Würde man die Musik auf die Goldwaage legen, so wäre sie eher im Konzertsaal als im Club beheimatet.

Es gibt freilich mittlerweile eine ganze Reihe an Formationen, welche sich fernab der Genres bewegen und Klassik mit Jazz oder lateinamerikanischen Rhythmen und Harmonien mixen. Die meisten eint, dass sie sich selbst nicht zu ernst nehmen wollen, sondern locker und keck mit dem Material jonglieren. Dies unterscheidet das Ensemble Clazzic von ihnen: Denn die Musikerinnen und Musiker nehmen sich sehr wohl ernst und wissen um ihre Wurzeln. Dass darüber hinaus im Geäst auch mal eine humoristische Blume blüht, gehört dazu, doch der Stamm bleibt in einer jahrhundertelangen Tradition, die geschmückt wird mit allem, was die Musikgeschichte noch zu bieten hat.

[Oliver Fraenzke, Januar 2022]

Für Herz und Geist

Solo Musica, SM 362; EAN: 4 260123 643621

Ausgehend vom Concerto d-Moll BWV 1052 von Johann Sebastian Bach spannten der Cellist Julius Berger und die vielseitig aktiven Schlagwerkspieler Andrei Pushkarev und Pavel Beliaev ein Programm, das sich intuitiv dem menschlichen Herzschlag zwischen 60 und 90 Schlägen pro Minute annähert. Sie (re?)konstruierten eine verlorengegangene Urfassung von Bachs Concerto für ein Streichinstrument, hier das Violoncello piccolo, und führten auch Alessandro Marcellos d-Moll-Oboenkonzert, welches von Bach für Klavier solo umgearbeitet wurde, weiter in eine Fassung für Cello piccolo. Die Orchesterstimmen arbeiteten die Musiker um für Marimba und Vibraphon. Um diese Eckpfeiler herum hören wir Schostakowitschs Prelude C-Dur aus op. 87, Bachs Choräle Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ BWV 639, Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit BWV 106 und Jesus bleibet meine Freude BWV 147, die Aria BWV 590 und Piazzollas Umarbeitung von Bach-Goundos Ave Maria.

Was begann als zufällig gelesene Randinformation, mündete in einer zutiefst persönlichen Aufnahme, die als eine Art der Corona-Bewältigung angesehen werden darf. Der Cellist Julius Berger hörte, dass Bachs d-Moll-Konzert BWV 1052 wohl ursprünglich für ein Streichinstrument geschrieben sei, in dieser Version allerdings als verschollen gelte – einige Techniken, besonders die E-Barriolagen, sprächen dafür, dass es sich beim Soloinstrument um eine Violine handle, oder um ein Violoncello piccolo, welches Bach gerade in Kantaten gerne besetzte. Die Idee war geboren, diese verloren gegangene Fassung in der heutigen Zeit zu rekonstruieren, und zwar für das Violoncello piccolo. Doch da dieses heute kaum bis überhaupt nicht als Soloinstrument zu hören ist, stellten sich bereits instrumentale Schwierigkeiten: Denn wo erhält man eine E-Saite, die alle Anforderungen nicht nur für eine solistische Bachaufführung, sondern auch für Darbietungen neuerer Musik erfüllt? Berger ließ sie als Sonderanfertigung von Pirastro kreieren. Auch war angesichts des Lockdowns 2020 an eine Aufnahme mit Orchester nicht zu denken; so fragte Berger Andrei Pushkarev an, wie man denn die Orchesterstimmen sinnvoll kammermusikalisch umsetzen könnte. Hierfür involvierten sie Pavel Beliaev und transkribierten die Stimmen für Vibraphon und Marimba, konnten durch diese klangtechnisch weichen, dabei vielstimmig einsetzbaren Instrumente das gesamte Orchester abbilden und voluminös ausfüllen.

Um das Konzert entwickelte sich ein Programm aus verschiedenen Chorälen Bachs, hinzu kamen Werke anderer Komponisten, die eng mit der Leitfigur Bach in Verbindung stehen. Schostakowitsch bezog seine für Klavier geschriebenen Präludien und Fugen op. 87 ganz klar auf das Wohltemperierte Klavier und integrierte mehrfach deutliche Parallelen. Piazzolla griff das C-Dur-Präludium aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers auf, das bereits von Gounod mit der sich darüber erhebenden Melodielinie Ave Maria versehen wurde. Diese Melodie nahm Piazzolla als Grundlage, spann allerdings eine eigene Fantasie daraus, die meines Erachtens stimmiger auf die Vorlage passt als die von Gounod, und so zu einer besonderen Entdeckung avanciert. Einer weiteren mehrfachen Bearbeitung unterliegt das Marcello-Konzert, welches dieser für Oboe konzipierte, was Bach dann mit reicher und wohlüberlegter Ornamentik als Klavierstück umarbeitete: Nun von Berger und Pushkarev in die Klangwelt des Violoncello piccolo eingeführt, übernahmen sie die melodiösen Auszierungen Bachs, gingen in den Orchesterstimmen von Marcellos Original aus.

Der gemächliche Grundpuls von etwa 60-90 Schlägen die Minute rückte dabei rein zufällig ins Zentrum, wohl einer inneren Intuition entspringend, in all den Wirren der aktuellen Zeit zu sich selbst zurückzufinden. Das zur-Ruhe-Kommen, was wir mehr denn je nötig haben, wird so zu einem Kernelement der Aufnahme und überträgt sich auf den Hörer. Die Musiker suchten ihren Halt in der Musik selbst und in einer möglichst persönlichen, innigen, dabei nicht schwärmerisch-romantischen, sondern geistig durchdringenden, sprich menschlichen Darbietung. In der so entstehenden Echtheit berührt die Musik und legt sich so als wohltuender Balsam über uns. Aus der Wahl von Marimba und Vibraphon resultiert eine beinahe meditative Flächigkeit, die dennoch Konturen schafft und gerade die Steigerungen elastisch ausgestalten kann. Julius Berger wählt für die Aufnahme ein niederländisches Instrument von Jan Pieter Rombouts mit Darmsaiten, was den anderen, moderneren Instrumenten zwar scheinbar entgegensteht, sich aber eben durch diesen Kontrast auf eine ganz eigene Weise mischt und einen ganz persönlichen Klang aufkeimen lässt. Der Aufnahmeort in der Christkönigkirche Dillingen wirkt sich positiv auf die Abmischung der Instrumente aus und schafft sanften, nicht übermäßigen Hall: Es musste in der Nachbearbeitung nichts mehr am Klang geändert werden, es handelt sich tatsächlich um das, was mit dem englischen Terminus Natural Sound bezeichnet wird. Nennenswert ist noch, dass Julius Berger mit allen Beteiligten, Saitenhersteller, den Schwestern der Regens-Wagner-Einrichtung, zu welcher die Kirche gehört, den Aufnahmeleitern und den Mitmusikern in jahrelangem freundschaftlichem Kontakt steht, wie man dem Booklet entnehmen kann: Solch ein kollegiales Verhältnis zwischen allen Beteiligten bringt eine Harmonie hervor, die das Persönliche nur unterstreicht.

Im Begleittext bringt Julius Berger seinen Enthusiasmus zu diesem Projekt auf den Punkt: „Corona war plötzlich kein Schatten mehr über unseren künstlerischen Zielen, sogar im Gegenteil, endlich hatten wir Zeit für ein Projekt, das schon lange in mir schlummerte.“

[Oliver Fraenzke, November 2021]

Die Musik schleicht sich durch die Hintertür ein…

Das Kammerorchester Basel bringt den Struwwelpetter ins Klassenzimmer. Ein Gespräch mit Marcel Falk, dem Geschäftsführer und Initiator dieses Projekts

Ein Quartett des Kammerorchester Basel singt und spielt den Struwwelpeter – und zwar bevorzugt in Klassenzimmern. Aus diesen Erfahrungen entstand eine CD-Produktion, die jetzt auf dem Solo-Musica-Label vorliegt (Rezension siehe: hier). Sie steht für ein engagiertes Konzept, aus dem Elfenbeinturm des ritualisierten Konzertbetriebes hinaus zu treten. Die schräge Truppe kann gebucht werden, um in Schulen jedes Klassenzimmer aufzumischen. Lautstarke Einmischung seitens der Kids ist dabei ausdrücklich erwünscht! Die Nachfrage nach solch origineller wie musikalisch hochkarätiger Auflockerung des Schulunterrichts ist immens – fast 100x schon haben die kreativen Schweizer ihr Projekt aufgeführt. Stefan Pieper sprach mit Marcel Falk, der als Geschäftsführer hinter den „Schulklassenkonzerten“ des Kammerorchester Basel steht – und die dahinter liegende Philosophie erläuterte.

Welche Intention steht hinter der Produktion des Struwwelpeter?

Wir wollen die Kids und Jugendlichen zu Betroffenen machen, wollen sie aktiv beteiligen und suchen umso mehr den partizipativen Ansatz. Das klassische Kinderkonzert ist nicht unsere Sache, es geht um mehr, als 60 oder 80 Minuten Frontalkonzert zu machen.

Auf der CD mischen sich ja auch Kinderstimmen ein. Sie stellen Fragen und kommentieren. Also gibt es auch hier eine Überwindung der Frontalsituation?

Ja, wir sind der Meinung, die eigene Peergroup ist viel authentischer als unsere Musiker dies sein könnten.

Was kann ein solches Stück, was eine normale Aufführung nicht kann?

Ein Klassenzimmerkonzert ist keine Einbahnstraße, sondern ein lebendiges Geben und Nehmen. Wir können dadurch Vorbehalte gegenüber klassischer Musik abbauen, gar anregen, sich damit auseinander zu setzen. Eine solche Aufführung ist auch ein Erfahrungsgewinn für die Musiker. Allein, weil es um die Musik herum zu spannenden Diskussionen kommt. Durch diese neue Situation können alle Beteiligten mittendrin in der Musik sein, ohne auf die bekannten Konzertrituale Rücksicht nehmen zu müssen. Daraus erwächst eine ganz neue Botschaft: Ihr müsst nicht in den exklusiven Kulturtempel kommen, sondern wir kommen in euren Alltag – eben dahin, wo ihr euch wohlfühlt. Uns liegt die Musik am Herzen und es geht darum, die nachwachsende Generation für Musik zu begeistern. Das ist unser übergeordnetes Ziel. Das schaffen wir am ehesten über eine emotionale Erfahrung am eigenen Körper. Ich muss irgendwie partizipativ beteiligt sein an einem solchen Prozess. Gerade im Klassenzimmer sitzt etwa der Cellist nur einen Meter vor der Schülern und spielt, zumindest, wenn sich das nicht gerade wegen der Corona-Pandemie verbietet. Solch eine unmittelbare physische Erfahrung ist wichtig für das Erleben von Musik.

Die Geschichten von Struwwelpeter, Suppenkaspar, Zappelphilipp und Co. sind heute ein reichlich schräges Buch. Es werden Schauergeschichten ausgebreitet – eben was passiert, wenn Kinder sich nicht konform verhalten. So völlig unreflektiert kann man diese Botschaften heute nicht mehr wahrnehmen. Die Kinder hinterfragen ja auch aktiv auf der Aufnahme. Ist die humorvolle Brechung, die hier durch die Musik verstärkt wird, Teil dieses Konzepts?

Unbedingt! Die Musik geht ja einen Schritt weiter als der historische Text und bringt diesen auf eine ganz neue Flughöhe. Da schwingt viel Ironisierung auf tragikomischer Ebene mit. Dadurch verstärken sich noch die Fragezeichen, die schon in der ursprünglichen Botschaft vorhanden sind. Also knickt der erhobene Zeigefinger immer weiter ein.

Nicht alltäglich für eine Schulaufführung ist die musikalische Qualität. Die CD-Aufnahme dokumentiert – natürlich! – den hohen Standard von hervorragenden Profis, die in neuen Arrangements, Meisterwerke musizieren. Ist den Kindern dieser musikalische Qualitätsstandard bewusst?

Ich denke, er wird zu einem großen Teil unbewusst wahrgenommen. Die wenigsten Schüler haben sich bislang allgemein mit klassischer Musik oder gar mit einem Streichquartett auseinandergesetzt. Was unsere Quartettbesetzung im Klassenzimmer spielt, ist musikalisch von sehr hoher Qualität, das fühlen die Kinder und sind oft überwältigt, ohne es in Worte fassen zu können. Das ist dann oft der Punkt, an dem weiteres Interesse an unsere Arbeit entsteht und junge Menschen noch näher an unseren Produktionsbetrieb heranbringt.

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Beim Struwwelpeter sind die Kinder als aktive Teilnehmende in die Inszenierung eingeschlossen und schlüpfen in eine Rolle, in der sich viele Fragen ergeben. Dadurch treten sie in einen Dialog mit unseren Musikern, manchmal entsteht eine persönliche Beziehung, aus der Gegenbesuche im Konzert oder in unseren Proben resultieren können. Wir greifen hier mittlerweile auf viele Erfahrungen zurück. Sehr intensiv sind unsere Generationenprojekte, in denen wir mit Schulklassen über 5–6 Monate an gesellschaftlichen Themen arbeiten. Die Idee ist immer die Gleiche: dass sich so quasi durch die Hintertür die Musik neu erschließt. Wenn man Schülern Verantwortung gibt, kann unglaublich viel entstehen.

Sehen Sie diese Konzerte auch als eine Form von „audience developement“?

Wir sehen bei diesen Projekten einen starken gesellschaftlichen Input. Wenn man viel in Klassenzimmern spielt, wird dies unmittelbar von der Schule hinaus an den Mittagstisch getragen. Das ist für uns als Orchester sehr wichtig.

Herr Falk, ich bedanke mich für dieses interessante Gespräch!

[Das Interview führte Stefan Pieper]

Alte Schauergeschichten werden zum großen musikalischen Spaß

Solo Musica, SM 355; EAN: 4 260123 643 553

Ein Quartett des Kammerorchesters Basel musiziert den Struwwelpeter.

Wer kennt noch die Geschichten vom Struwwelpeter – diese kleinen Schauermärchen mit ihrem erhobenen Zeigefinger, der eben darauf verweist, was am eben Ende für all Jene droht, die nicht aufessen, was auf den Tisch kommt, die mit Feuer spielen oder nicht stillsitzen können? Heute werden diese Geschichten eher humorvoll rezipiert. Den moralischen Zeigefinger erheben heute andere. Dass Aufklärung und Diskussion schon im Umgang mit Kindern selbstverständlich sein sollte, dachte sich der Autor dieses Bilderbuches aus dem Jahr 1844. Dass es der Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann nicht ganz so bierernst mit diesen Lehrgeschichten gemeint haben kann, verrät eine Notiz des Autors im Vorwort: Die meisten anderen Bücher moralisieren doch viel zu viel herum. Dem wolle er mit dem Struwwelpeter etwas entgegen setzen. Wenn ein Ensemble des Kammerorchesters Basel diese Geschichten nun musikalisch kommentiert, wird der augenzwinkernde Blickwinkel umso deutlicher. Die neue CD, die aus der Erfahrung mit zahllosen Schulkonzerten hervorgeht, ist auf jeden Fall ein großer musikalischer Spaß – nicht nur für die anvisierte Zielgruppe zwischen 6 und 11 Jahren!

Eva Miribung (Violine und Banjo), Jan Wollmann (Trompete), Konstantin Timokhine (Horn) und Georg Dettweiler (Violoncello) gingen unter Regie von Salomé Im Hof auf Tour, um die Geschichten aus diesem Bilderbuch zu einem Narrativ für die ausgewählte Musik zu machen. Der Komponist und Arrangeur Konstantin Timokhine hat damit guten konzeptionellen Weitblick bewiesen. Viele Meisterwerke aus der Musikgeschichte, aber auch Jazzanleihen vereinen sich in müheloser Weise, schaffen einen roten Faden, verleihen den Episoden von Struwwelpeter, Zappelphilipp, Suppenkaspar, dem fliegenden Robert und Hanns Guck-in-die-Luft viel schrägen Drive und dies auf höchstem Niveau. Ganz am Rande ist dies auch eine leichtfüßige, zugleich gehaltvolle Antwort auf jedes weichgespülte Easy Listening, welches ja oft schon in Kinder-Produktionen strapaziert wird, um junge Ohren von vornherein auf Mainstream zu konditionieren. Dabei stimuliert große, gute, gehaltvolle und hier auch noch meisterhaft gespielte Musik doch viel nachhaltiger die Fantasie, was diese CD einmal wieder klarstellt.

Der Prolog aus Monteverdis Oper Orfeo untermalt das Schicksal der Titelfigur, die sich nicht die Haare schneiden lässt und immer mehr verlottert. Auszüge aus Schostakowitschs Cellokonzert – ohnehin eine Tonsprache von großer Doppeldeutigkeit – interpretieren lakonisch die Leiden des bösen Friederich, der schließlich seine Untaten bereuen muss. Paulinchen, die mit Feuerzeugen herumspielt und schließlich aus Unachtsamkeit sich selber abfackelt, wird sarkastisch mit einer heiteren Swingjazz-Nummer unterlegt – das ist echter schwarzer Humor in diesem Moment! Ein großes Kompliment geht an die Flexibilität dieser Musikerinnen und Musiker vom Basler Kammerorchester. Die Geschichte vom Schwarzen Buben greift – heute wieder sehr aktuell – den Umgang mit Menschen anderer Hautfarbe auf, wenn schließlich die Mehrheit der Kinder einen Jungen wegen seiner dunklen Hautfarbe hänseln – und dafür schließlich selbst in ein schwarzes Tintenfass getaucht werden. Bei der Figur des Hanns Guck-in-die Luft kommen den anwesenden jungen Zuschauerinnen und Zuschauern sofort heutige Gewohnheiten in den Blick. Mit dem Unterschied, dass der Blick heute meist nicht nach oben, sondern nach unten, aufs eigene Handy geht – aber eben auch nicht nach vorn in die Wirklichkeit. In jedem Fall entfalten die ausgewählten Kompositionen in diesen Kontexten ganz neue Facetten von Darstellungslust. Eine Händel-Arie überhöht die Geschichte vom Suppenkaspar auf Allerfeinste. Ironie und höchste musikalische Finesse verstehen sich einfach gut miteinander. Richard Wagners Fliegender Holländer erhebt die Anekdote vom fliegenden Robert in neue Sphären. Die Moral von der Geschicht‘: Spanne keinen Regenschirm auf, wenn es stark windet. Immer wieder mischen sich die Kinder ein, fragen und kommentieren. Mit dem Feuer spielen hat ja – metaphorisch betrachtet – auch etwas damit zu tun, mutig zu sein und etwas zu riskieren. Dem Struwwelpeter in neuer musikalischer „Inszenierung“ durch das Kammerorchester Basel haftet bei allem heiteren Spaßfaktor auch etwas Aufklärerisches an. Und ein solches „Audience Development“ für klassische Musik hat allemal etwas mit Aufklärung zu tun.

Stefan Pieper [Mai 2021]

Siehe dazu auch: Stefan Piepers Interview mit Marcel Falk, Geschäftsführer des Kammerorchesters Basel und Initiator dieses Projekts

Gefühlvolle Titel – belangloser Inhalt

Solo Musica SM337; LC: 15316; EAN: 4260123643379

Die in Luxemburg gerade auch in der Förderung jugendlicher Musiktalente äußerst umtriebige, aus Bulgarien stammende Komponistin Albena Petrovic hat bei Solo Musica eine CD mit neuer Klaviermusik vorgelegt, die von der ebenfalls bulgarischen Pianistin Plamena Mangova dargeboten wird. Halten die blumigen Titel: Surviving Bridges of Love, Island of Temptations, Crystal Dream, Mystery Dream, Twinkling Dream, River of Dreams und Hidden Letters, was sie versprechen?

Es fällt nicht leicht, die allesamt aktuellen, zwischen 2013 und 2019 entstandenen Klavierwerke von Albena Petrovic Vratchanska (*1965) stilistisch genauer einzuordnen. Die Musik ist sicher nicht tonal; aus relativ konzentriertem Material entstehen wenige – oft nur zwei bis drei – meist kontrastierende musikalische Elemente mit eindeutigem Wiedererkennungswert, die sich dann in ständigem Wechselspiel fast manisch wiederholen und nur teilweise neue farbliche Beleuchtung erfahren. Eine formale Entwicklung findet ebenso wenig statt wie eine wirkliche, emotionale Zielgerichtetheit. Man darf wohl unterstellen, dass das kompositorische Material – bei den hier präsentierten Werken häufig aus Tonfolgen gebildet, die sich aus Buchstabenfolgen ableiten, welche in Zusammenhang mit den Namen einer Widmungsträgerin – etwa P, L, A, M, E, N, A (Island of Temptation) – oder einer zyklischen Idee (ROMEO in Verborgene Briefe) stehen – konsistent Verwendung findet: Petrovic hat auch mal Musikinformatik studiert. Der Tonumfang des Klaviers wird voll genutzt. Die verschiedenen Register agieren dabei als Vermittler gegensätzlicher musikalischer Schichten; so kommt etwa dem Bass in der Regel eine eher perkussive Rolle zu. Dazu gibt es einige Gimmicks: Teilweise wird im Flügel gezupft, abgedämpft, und die Pianistin muss außerdem, rechts und links neben dem Instrument platziert, eine tibetische Klangschale bzw. ein Tamburin bedienen (u.a. in Surviving Bridges of Love).

Insgesamt sind die hier erforschten Klangwelten zwar interessant, wenn auch wenig abwechslungsreich; in Island of Temptation finden sich immerhin zwischen geheimnisvoll meditativen Abschnitten solche mit rhythmischer Zugkraft. Das ständige Wiederholen innerhalb der einzelnen Segmente auf statischen Tonhöhen wirkt allerdings sehr schnell ermüdend, besonders bei den Traum-Stücken. So erinnert die Musik Petrovics äußerlich ein wenig an die enigmatischen Klaviersonaten von Galina Ustwolskaja – von deren beinahe schamanischer Wirkung, der fast unerträglichen Penetranz und schockierender Konsequenz ist die Bulgarin freilich Welten entfernt. Die Tatsache, dass gerade die beiden längsten Werke mit jeweils ca. 9 Minuten einerseits über Strecken langweilen, die Zeit dabei jedoch im Fluge vergeht, so dass man versucht ist, sich auf dem Display des CD-Players zu vergewissern: Es waren wirklich 9, nicht etwa 3 Minuten, spricht nicht gerade für tiefer gehende Substanz! So verwundert es nicht, dass der fünfteilige Zyklus Hidden Letters aus recht kurzen Stücken vielleicht noch am überzeugendsten ist. Hier versteht man auch Petrovics Ästhetik im Titel des letzten Stücks: O like Obsession.

Den übrigen, blumigen Titeln – schade, dass das Booklet die zugehörigen Opuszahlen unterschlägt – kann ich nur wenig abgewinnen. Zu willkürlich, um nicht zu sagen: beliebig, erscheinen diese gewählt, mögen aber durchaus Anregung für die Interpretin Plamena Mangova gewesen sein. Diese war unter anderem 2. Preisträgerin beim Concours Reine Elisabeth 2007 und erweist sich hier als einfühlsame Künstlerin, die über die gesamte CD klanglich differenziert, allen Details gegenüber aufmerksam, agiert. Alles klingt sonor, nie grob, obwohl sie bei den obsessiven Stellen auch immer die nötige Energie entfaltet. Ihr gelingt es trotzdem nicht, der Musik Petrovics nachvollziehbar Emotion zu entlocken. Crystal Dream geriet der damals erst 14-jährigen Zala Krava auf ihrem sensationellen Debütalbum [zur Rezension] deutlich spannungsreicher.

Die Aufnahmetechnik ist übrigens wirklich großartig – der Flügel ist räumlich wie dynamisch perfekt eingefangen, und man hört unverzerrt jedes Detail gerade beim Spiel im Instrument. Leider bleibt so der Gesamteindruck bei Petrovics Klavierwerken dennoch der von fast easy listening dahinplätschernden Belanglosigkeiten, die den Hörer eher kalt lassen – trotz einiger hübscher Ansätze ist hier Eintönigkeit vorherrschend.

[Martin Blaumeiser, Juni 2020]

„Jede Variation führt uns eine neue Facette von uns selbst vor!“

Aus Russland stammend, wurde die Pianistin Anna Kavalerova in Tel Aviv heimisch – heute schöpft sie aus dem Leben in der vibrierenden Kulturmetropole viele künstlerische Anregungen. Ihr jüngstes Projekt wiederspiegelt eine künstlerische Haltung, in der die Ausforschung einer tiefen Wahrheit in der Musik mit persönlicher Selbsterkenntnis einher geht. Um verschiedene Aspekte von Variationen geht es auf der aktuellen CD: Robert Schumann unternimmt in seinen Sinfonischen Etüden opus 13 ausgedehnte Streifzüge durch die Gattungen der Musikhistorie. Sergej Rachmaninov mischt in seinen Variationen eines Corelli-Themas die harmonischen Farben, bis schließlich ein jazz-affiner Tonfall heraus kommt. Ein Thema, dass sich in zahllosen Variationen immer wieder neu erfindet, steht für Anna Kavalerova symbolisch für die Kunst des Sich-selbst-neu-erfindens. Im letzten Programmpunkt erweist sie sich als ungemein stilsicher aufspielende Jazzpianistin – auch, wenn Nikolai Kapustin in seinen Variationen opus 41 alles bis zur letzten Note durchkomponiert hat.

Das Interview führte Stefan Pieper

Warum haben Sie gerade diese Werke auf Ihrer neuen CD vereint?

Ich habe Robert Schumanns Sinfonische Etuden und Rachmaninows Variationen über ein Thema von Corelli miteinander kombiniert, weil ich diese Stücke endlich einmal aufnehmen wollte, nachdem ich sie schon oft im Konzert gespielt hatte. Es war aber eine Riesen-Herausforderung, diese vielen Stücke auf eine CD zu bringen. Es sind ja komplexe Werkzyklen voller Gegensätze. Vor allem zwischen Schumanns Sinfonischen Étuden und Rachmaninoffs Variationen gibt es einen großen Unterschied vom Konzept her. Daraus einen einheitlichen Spannungsbogen für eine Aufnahme zu kreieren, war schon ein kolossales Unterfangen.

Sollen Nikolai Kapustins Variationen opus 41 einen bewussten Kontrast setzen?

Kapustins jazziges Stück dient tatsächlich dazu, den Hörer in beschwingter Leichtigkeit zu entlassen. Aber trotzdem sehe ich auch eine starke Gemeinsamkeit bei diesen Programmpunkten: In allen drei Fällen begeisterte es mich, wie wundervoll diese Tonschöpfer mit dem Material arbeiten.

Können Sie Ihr Anliegen im allgemeinen auf den Punkt bringen?

Es ist wichtig, als Musiker etwas für sich zu gewinnen – ebenso, dem Publikum etwas zu vermitteln. Ich möchte auf jeden Fall immer diese Komponenten miteinander verbinden.

Was reizt Sie am Prinzip der Variation?

Variationen waren und sind ein beliebtes und vielseitiges Feld für Komponisten. Sie offenbaren so eine große Vielfalt. Jeder Zyklus hat seine spezifischen Herausforderungen. Mich reizt vor allem dieser Freiraum, der weit über den rigiden Rahmen der Sonatenform hinaus geht. Eine Sonate hat eine klar definierte Gestalt. In Variationen haben Komponisten gerne solche Grenzen überschritten. Daraus einen Spannungsbogen zu schaffen, ist für jeden Interpreten eine große Herausforderung. Da jede Variation naturgemäß sehr kurz ausfällt, ist das komponierte Material in der Regel extrem komprimiert. Aus der Kürze und Pluralität ein großes Ganzes zu erzeugen, ist ein spannendes Unterfangen, das mich sehr fasziniert hat. Vor allem der Aspekt von Entwicklung spielt eine große Rolle. Umso mehr, weil die Musik immer wieder zum Ausgangsmaterial zurück kehrt, das immer präsent bleibt. Das berührt bei mir tief persönliche Gedanken. Denn es zeigt etwas von unserem Wesenskern, der immer da ist, aber der sich trotzdem aufs neue entfaltet. Jede Variation eröffnet eine neue Facette von uns selbst und führt symbolisch vor, dass wir am Leben sind.

Das ist eine interessante Ausweitung ins Philosophische. Was für Aspekte sprechen Sie bei Schumann und Rachmaninoff besonders an?

Schumanns „Sinfonische Etüden“ sind tief persönlich geprägt, wenn sie vor allem die erwachte Liebe zu seine künftigen Frau Clara abbilden. Alles führt vom Dunkel ins Licht hinein. Das erste Thema ganz zu Beginn ist ein Trauermarsch. Die ersten sechs Variationen machen dann in  Molltonarten weiter, danach wechselt es ins Dur und alles geht bergauf. Verschiedene Instrumente werden imaginiert, Holz- und Blasinstrumente imitiert und es folgen Zitate aus dem Mendelssohn-Konzert, später dann aus dem Capriccio von Paganini. Auch kommen viele verschiedene Stile ins Spiel: Ein Menuett, ein Walzer, ein Intermezzo im spanischen Stil sowie osteuropäische Elemente. Das Finale am Ende der Variationen wirkt schließlich wie ein Triumphzug. Schumann hat diese Musik in der Jugend geschrieben, das merkt man. Es ist manchmal wie Karneval. Da ist pure Lebensfreude.

Welche andere Perspektive nehmen Rachmaninoffs Variationen ein?

Rachmannoffs Variationen bilden die unruhige Entwicklung der menschlichen Zivilsation im frühen 20. Jahrhundert mit seinen Weltkatastrophen ab. Musikalisch kommt alles aus der Vergangenheit: Es überwiegen klassische Harmonien und alles ist – völlig losgelöst von der erwachenden Avantgarde –  sehr konservativ. Emotional und atmosphärisch ist diese Musik auf der Höhe der Zeit und  wiederspiegelt eine gewisse Düsternis, die aus der russischen Revolution und später vom zweiten Weltkrieg her rührt. Man hört in dieser Musik, dass durch die Tragödien der Gegenwart gerade eine Welt zusammen bricht. Wir spüren in dieser Musik, dass eine Entwicklungslinie, die von der Klassik her kam, endgültig zerbrochen ist. Man kann es vielleicht mit „La Valse“ von Maurice Ravel vergleichen, wie hier Rückschau gehalten wird aus einem Blickwinkel, der immer ironischer wird.

Gleich mehrere Variationenzyklen in einem Programm – eine größere pianistische Vielfalt lässt sich vermutlich kaum auf einer CD vereinen. Wollten sie mit diesem Programm ganz bewusst möglichst viel von sich selber zeigen?

Bei der Arbeit an jedem Stück reflektiere ich spezifische Aspekte von mir selbst. Das macht ja auch den Reiz an meinem Beruf aus. Musik machen ist ein immerwährendes Suchen. Eine konstante Wahrheit gibt es ja sowieso nicht. Pianistin zu sein, hilft ja auch, sich immer wieder neu zu erfinden. Was den einen Tag das wahre, richtige war, kann ja eine Woche danach schon etwas ganz anderes sein. Und es geht ja auch nicht immer in eine Richtung. Das Leben hat Höhen und Tiefen, auch das gehört dazu. Als Musikerin versuche ich, immer wieder nach etwas Neuem, vielleicht Besseren in meinem Leben zu suchen.

Das schließt bei Ihnen dann sogar ein, auch mal in die Rolle einer brillanten Jazzpianistin zu schlüpfen. Wie Sie hier die Variationen von Nikolai Kapustin spielen, hält dies jedem Vergleich mit improvisierenden Jazzern stand. Ihr Spiel hat Swing. Viele Klassik-Musiker scheitern daran, wenn sie sich auf solch ein Terrain begegeben.

Vielen Dank für das Kompliment! Es ist schön, wenn Sie das überrascht hat. Das war gewissermaßen die Idee. Denn niemand, der den Titel „Variationen plus“ liest, erwartet diesen Effekt beim Hören der CD. Aber hinter dem, was hier so leicht und improvisiert wirkt, steckt extrem viel harte Arbeit.

Haben Sie vorher schon mal Jazz gespielt?

Nein! Und das Kapustin-Stück ist ja im Kern überhaupt kein Jazz. Der Komponist hat hier alles bis auf den letzten Ton und aufs letzte Detail schriftlich fixiert, auch wenn er die Tonsprache und die Harmonien des Jazz nutzte. Es kommt hier darauf an, den Vibe und die Emotion zu erfassen.

Nochmal kurz zu Ihrer heutigen Situation. Was hat Sie eigentlich nach Israel verschlagen?

Ich folgte meinem Lehrer Emanuel Krasowsky nach Israel und habe hier drei Jahre lang auf meinen Master-Abschluss hin gearbeitet. Mittlerweile lebe ich seit sieben Jahren in Israel und es ist der ideale Lebensmittelpunkt – vor allem in künstlerischer Hinsicht! Mir gefallen hier vor allem die vielen Musikfestivals und der rege Austausch. Es gibt hier so viele Musiker, Konzerte und Festivals. Ich spiele sehr viel Kammermusik. Diese immense Dichte hält mich auf Trab.

Was ist anders als in Russland?

Vor allem die Mentalität. Es herrscht eine große Offenheit. Alle sind sehr freundlich und hilfsbereit. Vielleicht liegt es daran, dass dieses Land von Einwanderern aufgebaut worden ist. Jeder, der hier heute lebt, hat Vorfahren, die Einwanderer waren. Und es ist ein kleines Land. Entsprechend überschaubar und transparent ist der Berufsmarkt für Musiker. Jeder kennt jeden, das macht die Vernetzung einfach.

Ist die sprichwörtlich strenge „Russische Klavierschule“, die Sie sicherlich in Ihrer Jugend durchlaufen haben, heute noch ein Kapital?

Ich bin sehr für diese Grundausbildung dankbar, denn sie ist ein Fundament für alles. Mein gesamter Werdegang ist aber erst durch eine große Vielfalt in meinem Leben zu dem geworden, was er heute ist. Es ist wichtig, verschiedene Orte, Erfahrungen, Kulturen, Traditionen zu einem großen Ganzen zu vereinen und daran zu wachsen. Erst dann wird man flexibel und kann sich immer weiter entwickeln. Das Leben ist ein lebenslanger Prozess, eine endlose Suche.

Zu viert auf Reisen

Solo Musica, SM 335; EAN: 4 260123 643355

Das Voyager Quartet (Nico Christians, Maria Krebs, Andreas Höricht, Klaus Kämper) präsentiert uns eine Aufnahme von Schuberts Winterreise, transkribiert für Streichquartett von ihrem Bratschisten Andreas Höricht. Zwölf von Schuberts Liedern bearbeitete Höricht und fügte ein Preludio sowie elf überleitende Intermezzi aus eigener Feder hinzu.

„Die Musik ist so ausdrucksstark und entwickelt einen solchen assoziativen Sog, dass sie auch auf den Text verzichten kann. Er schwingt ungesagt mit. So entsteht Freiheit für eigene Räume und Wege.“ So legitimiert Andreas Höricht seine Transkription der Winterreise für Streichquartett, die er mit dem Voyager Quartet auf dieser CD eingespielt hat. Inwiefern sich diese These bewahrheitet, liegt wohl im subjektiven Empfinden und hängt nicht zuletzt von der Kenntnis des Originals zusammen. Ich kann also nur für mich sprechen, den der Liederzyklus schon viele Jahre verfolgt und der ich zumindest einen Teil der Lieder selbst einstudiert habe. Für mich schwingt der Text und dessen Ausdruck tatsächlich in dieser Bearbeitung mit, so dass ich die Reise beim Hören nachvollziehen kann und meinen Fokus parallel auf die durch die Besetzung intensivierten Gegenstimmen und harmonischen Verläufe richten kann. Aber wirkt dies ebenso, wenn man die Winterreise nicht oder nur flüchtig kennt?

Andreas Höricht schuf ein kompositionstechnisch hochwertiges Arrangement, das nicht nur die erste Violine mit dem Gesang betraut, sondern die Stimme zwischen den vier Instrumenten aufteilt. Die stärksten Stellen sind gerade die, wo die tiefen Instrumente die Gesangslinie erhalten, worüber dann die hohen Streicher fragmentarische Motive anklingen lassen. Folglich handelt es sich hier nicht um eine bloße Aussetzung der Klavierstimme, sondern um eine eigenständige Fassung, in die teils neue Gegenstimmen hineinspielen.

Nach jedem der Lieder fügte Höricht ein selbstkomponiertes Intermezzo ein und greift dadurch die damalige Praxis auf, die einzelnen Stücke durch meist improvisierte Überleitungen zu verbinden. Dieses Prinzip angewandt auf die Winterreise kennt man vor allem durch Hans Zenders komponierte Interpretation des Zyklus. Die Intermezzi fallen gemischt aus: Manche schaffen einen galanten Übergang zum Folgenden und fügen sogar Fetzen aus anderen Liedern hinzu, so dass eine größere Dimension entsteht; andere aber wirken stilistisch zu fremd und reißen den Hörer zu sehr aus der einheitlichen Welt Schuberts heraus. Um die Konzentration aufrecht zu erhalten, ist dies durchaus legitim, doch stehen die stilfremden Intermezzi dafür an den falschen Stellen: so werden wir beispielsweise schon nach „Gute Nacht“ aus der Bahn geworfen, wo wir uns gerade erst in die Welt Schuberts einleben.

Durch die neue Besetzung wandelt sich selbstverständlich auch die Art der Wiedergabe. Die Grunddynamik liegt eine Stufe höher als bei einem Sänger mit Klavierbegleitung, die Tempi werden teils modifiziert und es entsteht eine größere Polyphonie, in die sich die Gesangsmelodie gleichberechtigt einordnet. Dabei vermisse ich die Fragilität einer menschlichen Stimme und den größeren Ambitus an Klangschattierungen allein durch bestimmte Vokale; außerdem fehlt mir die quälende Ruhe, die bis an den Rand der Unhörbarkeit gesteigert werden kann. Das Quartett präsentiert mehr den Fluss und das Voranschreiten, schafft dadurch allerdings eine andere Art der Zeitlosigkeit. Hervorzuheben ist die Qualität, dass die vier Musiker im gleichen Atem spielen und so wie die originale Klavierstimme als Einheit fungieren und gleichzeitig doch die Stimmvielfalt autonomer darstellen können.

[Oliver Fraenzke, Januar 2020]

Rückblicke

Solo Musica, SM 325; EAN: 4 260123 643256

Drei unterschiedliche Werke mit der Gemeinsamkeit der Retrospektive bilden das Programm dieser CD-Aufnahme des Giraud Ensemble Chamber Orchestras unter Sergey Simakov. Zu Beginn steht das groß angelegte Concerto for Myself des Pianisten und Komponisten Friedrich Gulda (Mischa Cheung, Klavier; Janic Sarott, Schlagzeug; Stanislaw Sandronov, E-Bass), es folgt die Erste Symphonie, Classique, von Prokofieff und das Konzert für zwei Klaviere und Orchester von Poulenc (Yulia Miloslavskays & Mischa Cheung, Klaviere).

Die Verehrung der Meister aus der Epoche der sogenannten Wiener Klassik inspiriert bis heute ungebrochen Künstler aller Sparten. Die Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit, die Leichtigkeit und Unbeschwertheit, aber auch das Feingefühl für Timing, Kontrast und vollendete Form stehen als erstrebenswertes Idol dar.  Auf der vorliegenden CD hören wir drei Werke, die sich je auf ihre Weise diesem Vorbild stellen.

Frei nach dem Titel des ersten Satzes, der als Motto für das gesamte Werk gelten könnte, konzipiert Friedrich Gulda sein Concerto For Myself: The new in view (,then old is new). Die Basis für Guldas Inspiration bildet das klassische Klavierkonzert, in das immer mehr Einflüsse und direkte wie auch indirekte Zitate aller erdenklichen Musikstile einfließen. Dabei entsteht allerdings kein bloßes Potpourri aus bekannten Melodien, sondern Gulda bündelt die Stile und bringt sie elegant in eine funktionierende Großform, spinnt die wichtigsten Melodien weiter zu wiederkehrenden Themen und lässt andere als simple Figuration vorübergehen. Spannende Kontraste schafft er durch das Wechselspiel aus ‚alt‘ und ‚neu‘, nicht zuletzt ‚klassisch‘ und ‚jazzig‘. Mischa Cheung erweist sich als gewandt in beiden Stilwelten und changiert geschickt zwischen barockem, klassischem, romantischem und jazzigem Anschlag, nimmt sogar einiges der Kantigkeit von Guldas eigener Darbietung weg zugunsten größerer Leichtigkeit. Leider höre ich den E-Bass nicht heraus aus dem Orchester, diese Stimme scheint im Mastering untergegangen zu sein.

Zwischen Hommage und Persiflage bewegt sich die Symphony Classique aus der Feder Prokofieffs. Haydn steht hier als deutliches Vorbild voran, dessen Stilwelt der Russe aufgreift, aber immer wieder durch sanfte Reibungen und scheinbar unpassende Abweichungen würzt. Später erscheinen auch gewisse Anklänge an den frühen Tschaikowski. Simakov greift vor allem die scherzhafte Vitalität dieser Symphonie auf und überzeugt durch sein Gespür für Mehrstimmigkeit. Insgesamt könnte die Musik etwas ruhiger und somit auch entspannter geschehen.

Als Hommage an Mozart bezeichnete Poulenc den Mittelsatz seines Doppelkonzerts für zwei Klaviere, das zu seinen bekanntesten Werken zählt, und ließ sich spürbar von dessen Klavierkonzert Nr. 20 zu einem Thema hinreißen, geht aber in der Wirkung mehr auf Ravels Klavierkonzert in G zurück, dessen Uraufführung Poulenc beiwohnte. Zwar war Poulenc kein tadelloser Pianist und ließ zahllose technische Pannen zu, dennoch halte ich seine eigene Aufnahme gemeinsam mit Jacques Février für unübertroffen in Unbekümmertheit und Feinheit. Yulia Miloslavskaya und Mischa Cheung gehen in wohltuender Distanz an das Konzert heran, behalten eine durchgehende Spielfreude und Feingliedrigkeit, klassischen Feinsinn. Faszinierend sind die perfekt synchron abgestimmten Läufe und die Abgestimmtheit ihres Spiels, so dass kaum zu sagen ist, wer gerade spielt und wer welche Rolle übernimmt.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]

Drei Konzerte einer geladenen Zeit

Solo Musica, SM 308; EAN: 4 260123 643089

Auf ihrer Debut-CD mit dem Titel „1939“ präsentiert Fabiola Kim drei Violinkonzerte einer politisch zum Bersten geladenen Zeit, die alle die Lage ganz eigen darstellen. Zunächst hören wir Sir William Waltons politisch distanziertes Violinkonzert h-Moll, dann das Concerto funèbre für Geige und Streicher von Karl Amadeus Hartmann und zuletzt Bartóks endzeitmäßiges zweites Violinkonzert. Unterstützt wird Kim von den Münchner Symphonikern unter Kevin John Edusei.

Als Karl Amadeus Hartmann sein Concerto funèbre schrieb, stand er vor einer aussichtslosen Situation, die er in Töne bannte. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten blieb er in seinem Heimatland – trotz aller Einschränkungen durch die Partei – und kehrte sich in ein inneres Exil zurück. In den Randsätzen seines Violinkonzerts schimmert etwas Hoffnung durch, die beiden finsteren Mittelsätze machen allerdings unmissverständlich, wie schlimm die Umstände sind. Die Aufführung des Concerto funèbres 1940 in der Schweiz blieb die letzte des Komponisten bis 1946.

Anders als Hartmann verließ Bartók seine Heimat, als die Lage zu dringlich wurde. Den Plan dazu fasste er bereits einige Zeit zuvor, doch haderte lange mit dem Vorhaben. In diese Zeit des Abwägens, der Unschlüssigkeit und Unsicherheit fällt die Entstehungszeit seines zweiten Violinkonzerts, das für diese CD eigentlich um einen Tag „zu früh“, am 31. Dezember 1938, fertiggestellt wurde.

William Walton blieb vergleichsweise unbehelligt von der politischen Anspannung, als er an seinem h-Moll-Konzert arbeitete. Erst als es uraufgeführt wurde, bekam er die Zuspitzung zu spüren: denn er konnte England nicht verlassen, um der Aufführung beizuwohnen. Statt politischer Umstände verarbeitete Walton ein ganz anderes Thema, nämlich den Biss einer Tarantel, den er im Mittelsatz als wahnwitzige Tarantella umsetzte.

Fabiola Kim taucht in diese drei gänzlich unterschiedlichen Welten ein und zieht aus ihnen je den Kern der Stimmung, aus der heraus sie entstanden sind. Besonders beklemmend gelingt dies bei Hartmanns Concerto funébre, wo sie jeden Ton für sich auflädt und so die Linienführung elektrisiert. In Bartóks Konzert holt sie besonders schwebende Zustände zum Vorschein, bleibt zugleich präzise und virtuos. Die teils gewaltigen Brüche nutzt sie für unvermittelte und doch zugleich organische Wandel der Situation. Einzig verstehe ich nicht, warum sie in der Kadenz des ersten Satzes so stark aus der Partitur heraustritt, wo doch die Rhythmik so dezidiert vorgezeichnet wurde und zwischen Sechzehntel, Triolen und Punktierungen unterscheidet. Walton erklingt deutlich freundlicher als die beiden anderen Konzerte, Kim findet einen gänzlich verschiedenen Zugang zu dieser Musik. In der Tarantella blüht sie auf und genießt die Verrücktheit und die subtilen Brüche z.B. zum Walzer-Mittelteil.

Die Aufnahmetechnik stellt die Violine deutlich in den Vordergrund, worüber das Orchester oftmals zurückbleibt. Gerade bei Bartók vermisse ich orchestrale Nebenstimmen, die hier von der Geige überdeckt werden. Bei Hartmann kommen sie Streicher besser zum Vorschein als in den anderen Konzerten; hier blühen die Symphoniker auch am meisten auf, wallen dynamisch mehr auf und kommen aus ihrem oftmals eher flachen und flächigen Spiel heraus hin zu einer Plastizität.

[Oliver Fraenzke, August 2019]

„Und hab so große Sehnsucht doch…“

Solo Musica/ Sony 2019, SM 309; EAN: 4 260123 643096

Man kann eintauchen in diese emotionalen Zustände und sich hinein versenken in das bislang unbekannte Werk der luxemburgischen Komponistin Helen Buchholtz (1877-1953). In den Liedern, die Helen Buchholtz meist auf deutsch, vereinzelt auf französisch und sogar auf letzeburgisch, dem traditionellen Sprachideom Luxemburgs schrieb, geht es um Liebe und um das Leben – und vor allem darum, wie vergänglich dies sein kann und wie sich diese Vergänglichkeit anfühlt! Im Jahr 1988 hat die Musikwissenschaftlerin Danielle Roster ihre Lieder und Texte per Zufall wieder entdeckt – und war fasziniert! Jetzt krönt eine bemerkenswerte Doppel-CD-Veröffentlichung die verdienstvolle Forschungsarbeit.

Helen Buchholtz steht mit ihrem Schaffen weitgehend allein in der Musikgeschichte des kleinen Landes Luxemburg. Sie heiratete einen deutschen Arzt, den sie aber schon bald darauf verlor und früh verwitwet war. Künstlerisch dürfte sie nur in einem kleinen Kreis von Dichern und Musikern wahrgenommen worden sein. Ob die Dominanz der Themen Abschied und Verlust in ihren Liedern mit der eigenen Biographie der Komponistin zu tun hat?

Die ergreifenden Metaphern und Zustandsbeschreibungen dieser Lieder leben durch die Vermittlung von Sopranistin Gerlinde Sämann und ihrem Klavierpartner Claude Weber beklemmend eindringlich und pathosfrei auf. Gerlinde Sämanns höhensicherer Sopran punktet mit einer effektvollen Dramatik. Claude Weber lässt sich auf den von Helen Buchholtz erstaunlich differenziert gestalteten Klaviersatz mit hellsichtig-wandelbarer Spiellust ein. Da bringen eingewebte Arpeggien einen „Wanderer“-artigen Fluss in die Melodie, blitzen Betonungen wie fotografische Spitzlichter auf – auch beweist Claude Weber ein hellwaches Gespür für die vielen subtilen harmonischen „Unregelmäßigkeiten“, mit denen Helen Buchholtz spätromantische Tonsprache immer wieder die heile Welt des Vordergründigen durchkreuzt!

Aus heiteren, manchmal naiv-realistischen Schilderungen wird urplötzlich Elementares, im tiefsten Inneren Erschütterndes. „O bleib bei mir…“, „Wenn ich tot bin…“ – Ergreifendes Flehen bündelt sich in Gerlinde Sämanns glockenheller Sopranstimme zu den rauschhaften Klavierklängen von Claude Weber beim Bild einer traurigen Liebenden, die zu verlassen werden droht. Ähnlich beklemmende sprachlich-musikalische Bildgewalt setzt die „Zigeunerballade“ frei. Ein einsamer Junge sitzt an einem Feuer, welches schließlich verlöscht – und damit der Tod eintritt.

Helen Buchholtz‘ Lieder, die weitgehend einem spätromantischen Stil verpflichtet sind, stehen auf dieser CD nicht für sich allein, inspirierten sie doch heutige Komponistinnen wie Catherine Konz, Albena Petrovic-Vratchansksa und Stevie Wishart zu eigenen, sehr unmittelbaren, teilweise direkt auf Helen Buchholtz‘ Lieder und Balladen bezogene Schöpfungen. Gerlinde Sämann und Claude Weber sind versiert genug, um hier auf Anhieb Register aus der musikalischen Gegenwart abzurufen: Faszinierende Chromatik erzeugt eine aufregende Wirkung in Tatsianas Zeliankos Coloristic Miniatures – hier wird Gerlinde Sämanns Singstimme gerne auch mal zum „Instrument“ – etwa, wenn sie vibrationsarm lange Melismen intoniert. Ein Beitrag von Catherine Konz nimmt direkten Bezug auf ein Buchholtz-Lied, wenn das spätromantische Original durch eine rauschhafte Klangmeditation beantwortet wird. Albena Petrovic-Vratchanska hat ohnehin ihren ganz eigenen Kompositionsstil mit starkem Wiedererkennungswert: Auch sie „interpretiert“ in einem freitonal-deklamatorischen Gestus ein Buchholtz-Lied aus einer ganz neuen, subjektiven Perspektive. 

[Stefan Pieper, Juli 2019]

Authentisch und unmittelbar!

CD Rezension. Elmira Darvarova & Zhen Chen.

Brahms: The Complete Sonatas für Violin and Piano.

Solo musica / Sony Music 2019

Auf ihrer neuesten CD widmen sich die prominente Violinistin Elmira Darvarova und der deutlich jüngere Pianist Zhen Chen den drei „Sonaten für Klavier und Violine“ von Johannes Brahms.

Aus dem Heute kommend und in die tiefsten Seelenregungen großer, ewiger Kammermusik vorstoßen – das ist Sache der Violinistin Elmira Darvarova und des chinesischstämmigen Pianisten Zhen Chen. Ihre aktuelle CD widmen die beiden den drei Violinsonaten von Johannes Brahms, einer bemerkenswerten Werkgruppe, die wohl unter völlig gegenteiligen Umständen das Licht der Welt erblickte, als es der laute Kosmos New Yorks darstellt – jener Lebensmittelpunkt dieses hochmotivierten und prominenten Interpreten-Duos. Ob vielleicht gerade dieses Spannungsverhältnis Elmira Darvarova und Zhen Chen zu maximaler musikalischer Konzentration und Eindringlichkeit inspiriert hat?

Elmira Darvarova, die langjährig gefeierte Konzertmeisterin im Metropolitan-Orchestra und Zhen Chen, der viel jüngere chinesische Tastenvirtuose, der schon mit Lang Lang in einem Atemzug genannt wird, haben den Urtext dieser Werke erforscht und wollen sich von Konventionen und modischen Strömungen möglichst frei machen dabei. Das Resultat: Beide lassen sich hier in diese Materie hinein fallen und kosten die vielen subtilen und wechselvollen Seelenregungen konsequent aus. Das heißt für die beiden auch, ein Verständnis für die von Brahms geforderten Rollenverteilungen denkbar intuitiv zu leben. Hier ist nicht länger die eine Solistin und der andere Begleiter. Stattdessen ist das gleichberechtigte Ganze Programm.

Wenn sich dieses Duo so stark in emotionale Tiefen fallen lässt, wird gerne auch mal das Diktat des Perfekten zugunsten einer frischen Risikofreude außer acht gelassen. Entsprechend unmittelbar wirkt Elmira Darvarovas impulsiv mit Klangeffekten und Vibrato verfahrendes Violinspiel allemal. Nichts ist hier dem beifallheischenden Effekt geschuldet, was diesen Zugang zur Brahmsschen Empfindungswelt so authentisch und unmittelbar macht. Zhen Chen demonstriert am Flügel, warum diese Sonaten eigentlich „für Klavier und Violine“ heißen müssten. Denn Brahms Ansatz, auch in seinen Sonatenkompositionen bereits sinfonische Abläufe für andere Vorhaben abzustecken, wird gerade in den komplexen Klavierparts offenkundig. Und er kann die Energien des Flügels hellhörig und reaktionsschnell bändigen, wenn der musikalische Blickwinkel zarte Empfindung evoziert.

Plausibel vermittelt also, was beim verstehenden Hören von Brahms Musik immer eine Rolle spielt: Die Subjektivität ihres Urhebers. Da wiederspiegelt sich ein „Angekommen-Sein“, wie es die Sommeraufenthalte von Johannes Brahms am Wörthersee bzw. in den Schweizer Alpen nachweislich markieren. Auftrumpfend wie ein Weckruf fordert die erste Sonate diese beiden jungen Musiker zum großen, atmenden Bogen heraus. Genug dynamischer Schwung resultiert allein aus den bewusst gewählten raschen Tempi dieses Duos. Zhen Chens breite Anschlagskultur malt weite klingende Landschaften auf dem Flügel, innerhalb derer Elvira Darvarova im langsamen Satz ihre zarte Stimme erhebt.

Eine Prise Schwermut, eine Schwingung von rastloser Unruhe bebt im Allegrosatz, was die zerbrechliche Aura nur noch verstärkt. Schwärmerischer und entrückter markiert die zweite Sonate umso mehr den Zustand des „Auftankens“ an einem schönen Ort. Die dritte im Bunde evoziert energischen Tatendrang, was nicht zuletzt aus der impulsiv-rhythmischen Gangart von Zhen Chen spricht, während Elmira Darvarova die Saiten zum Glühen bringt. Wer in diese Wechselbäder hörend eintaucht, hat nach den drei Sonaten noch lange nicht genug. Abhilfe schafft eine „Zugabe“ im Programm – ein temperamentvoll aufloderndes, in seinem Mittelteil einbrünstige schwelgendes C-Moll-Scherzo aus der soganannten „FAE-Sonate“.

[Stefan Pieper , Februar 2019]