Schlagwort-Archive: Sergei Prokofjew

Orgelspiel als intelligente Re-Orchestrierung

Rondeau, ROP6153; EAN: 4 03740806153 7

Das Leipziger RONDEAU-Label hat eine interessante CD mit Orgeltranskriptionen von allerlei Orchester- und Klaviermusik (Bach bis Prokofjew) aus den Händen französischer Organisten herausgebracht. Darunter befinden sich auch zwei Erstaufnahmen – Dukas‘ „Zauberlehrling“ und Borodins „Steppenskizze aus Mittelasien“, übertragen von Marcel Dupré. Der in München tätige Tobias Frank spielt auf der Karl-Schuke-Orgel der Philharmonie Luxemburg. 

   

Wenn man mich nach dem wohl bedeutendsten Organisten (und auch Orgelkomponisten) des 20. Jahrhunderts fragte, würde ich ohne zu zögern Marcel Dupré nennen. In Deutschland ist man ja eigentlich geneigt, Max Reger ins Spiel zu bringen – dennoch: Dupré hat vor allem durch sein absolut überragendes Talent zur Improvisation auf der Orgel, aber auch durch seine Originalkompositionen, völlig neue Maßstäbe gesetzt, an die höchstens noch Olivier Messiaen heranreicht. Duprés eigene Orgelwerke sind auf CD mittlerweile sehr gut dokumentiert. Tobias Frank hat nun allerdings zwei bedeutende Transkriptionen von – zumal noch äußerst bekannten – Orchesterwerken neu herausgegeben und auch deren Ersteinspielung übernommen: Paul Dukas‘ Zauberlehrling und Borodins Steppenskizze aus Mittelasien. Dupré war ja neben der reinen Improvisation auch in der Lage, große Orchesterbesetzungen spontan aus der Partitur auf der Orgel wiederzugeben, so dass es nicht wirklich wundert, dass diese beiden Stücke erst jetzt als Notat im Nachlass einer Schülerin Duprés entdeckt wurden. L’apprenti sorcier (die Transkription entstand 1944) zumindest darf man als fast schon kongenial bezeichnen. Tobias Frank nimmt gerade das Hauptzeitmaß etwas gemächlich, kann hier aber ganz wörtlich alle Register seines Könnens ziehen. Er bleibt immer sehr durchsichtig, wenn er auch – gilt für die ganze CD – nicht gerade sparsam mit 32‘-Registern umgeht. Das funktioniert bei einer Konzertorgel natürlich besser als in einer Kirche, wo man sich das so eher nicht trauen würde. So wird diese brillante Aufnahme auch zur schönen Herausforderung für das heimische HiFi-Equipment. Musikalisch noch besser gelingen dem Organisten einige der übrigen hier vorgestellten Bearbeitungen: Hervorzuheben etwa Louis Robilliards Version zweier Sätze aus Faurés Suite Pelléas et Melisande, darunter der Ohrwurm der Sicilienne. Am meisten überzeugen mich jedoch die abschließenden Variationen über den Basso continuo aus der Kantate „Weinen, Klagen, Sorge, Zagen“ von Liszt/Dupré. Obwohl quasi Musik aus dritter Hand, gelingt hier ein beachtlich schlüssiges Gesamtkonzept, das in seiner Farbigkeit auch im Detail die reine Freude ist.

[Martin Blaumeiser, September 2018]

 

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Romeo und Julia – märchenhaft?

Naxos (2CD), LC 05537; EAN: 7 4731335347 7

Sergey Prokofiev: Romeo and Juliet. Complete ballet; Baltimore Symphony Orchestra, Marin Alsop (Leitung)

Nach ihrer Gesamteinspielung aller Symphonien Prokofjews hat die amerikanische Dirigentin Marin Alsop nun das komplette Ballett »Romeo und Julia«, op. 64 mit dem Baltimore Symphony Orchestra für Naxos aufgenommen.

Bei der Studioaufnahme einer Ballettmusik muss man sich als Dirigent fragen, inwieweit man hier realistisches Bühnengeschehen abbilden will, oder ob man alle bei einer Live-Aufführung mit Tänzern nötigen Kompromisse – etwa das Nachgeben bei Hebungen, generell vielleicht zurückhaltendere Tempi – komplett beiseite lässt, und eine quasi „ideale“ Konzertdarbietung anstrebt. Dies wäre ja bei einer Oper so gar nicht denkbar. Beim mittlerweile wohl beliebtesten aller großen Handlungsballette, Prokofjews Romeo und Julia, haben sich die meisten Interpreten für Letzteres entschieden. Die nach wie vor maßstabsetzenden Einspielungen von Lorin Maazel (Cleveland Orchestra, Decca 1973) und Seiji Ozawa (Boston Symphony Orchestra, DG 1986) gehen dabei an die Extreme, die fast filmisch-dramatischen Sequenzen des Balletts (der Kampf und „Mercutio“ im 1. Akt etc.) kommen mit äußerstem Tempodruck daher und vieles klingt auch absichtsvoll rabiat. Marin Alsop versucht, auch diese Abschnitte klanglich sehr ausgewogen zu nehmen, vertraut auf insgesamt etwas ruhigere Tempi. Ihr gelingen gerade bei den lyrischen (Julia-) Stellen herrliche Details; der Tanz der Ritter wirkt geradezu grotesk steif und charakterisiert die Bühnensituation umso treffender. Insgesamt gleicht Alsops Darbietung jedoch einem großen Märchentableau, also eher indirekt erzählter Prosa als direkt zupackender Bühnendramatik. Über 144 Minuten geht dieses Konzept aber dann nicht auf: Alsops Detailverliebtheit lässt das Stück in viele, kleine Einzelepisoden zerfallen, die großen dramatischen Entwicklungen bleiben klebrig. Ihr untrügliches Verständnis für Prokofjews typische Harmonik und seine sehr speziellen Klangkombinationen lässt aber durchgängig aufhorchen. Das Baltimore Symphony Orchestra verfügt über einen edlen Streicherapparat, aber das Blech kann mit den beiden oben genannten Orchestern an Präzision nicht ganz mithalten. Die gute Aufnahmetechnik überzeugt durch natürliche Räumlichkeit, das Schlagwerk ist leicht unterbelichtet. Hier gelingt eine feine, geradezu edle Realisation der Partitur, die aber nicht auf Dauer gefangen nimmt.

[Martin Blaumeiser, August 2018]

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Herrlicher Krach bis zum Vulkanausbruch

Ondine, LC 3572; EAN: 0761195121023

Normalerweise mache ich ja bei Klassik-Samplern einen Bogen um eine Rezension. Aber die Wiederveröffentlichung der schon legendären „Earquake“-CD (1997) beim finnischen Label Ondine – Untertitel: The Loudest Classical Music of All Time – darf man schon mit einer Besprechung feiern…

Zunächst einmal: Diese inhaltlich gegenüber der Erstveröffentlichung unveränderte CD ist ein Gag; vielleicht ein brauchbarer Party-Rausschmeißer à la „The Glory??? of the Human Voice“ (Florence Foster Jenkins) – mehr nicht. Und leider fehlt jetzt das entscheidende Gimmick; im transparenten Tray lagen seinerzeit zwei gelbe Ohrstöpsel – wohlgemerkt: for your neighbor! Für diese Aufnahme durfte ein äußerst körperbetont, aber immer präzise agierender Dirigent mal so richtig „die Sau rauslassen“. Der Finne Leif Segerstam ist nicht nur ein weltweit tätiger Orchesterdompteur, sondern komponiert nebenbei auch noch ein wenig: Seine Werkliste umfasst mittlerweile z.B. 309 (!) Symphonien; er ist da wohl der absolute Rekordhalter. Der Legende nach hat das mit Anfang zwanzig noch spindeldürre Nordlicht seinerzeit mit voller Absicht innerhalb kürzester Zeit 30 kg draufgepackt – nur um so auszusehen wie der dirigierende Johannes Brahms auf den berühmten Bleistiftzeichnungen. Und wenn ich den etwas korpulenten, aber höchst agilen Herrn mal live erleben durfte (ob mit Frau ohne Schatten an der Zürcher Oper oder Turangalîla in der Kölner Philharmonie), war ich immer von seinen mitreißenden Darbietungen begeistert. Auch hier mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra weiß Segerstam natürlich genau, wie er die hypertrophen Klangmassen selbst im allergrößten Krach zu bändigen hat, damit das Ganze noch irgendwie vernünftig ausbalanciert scheint.

Trotzdem: Was mich naturgemäß an diesem Sampler stört, ist nicht etwa die Vielzahl der Komponisten und Stile (alles 20. Jahrhundert), sondern dass hier nur Ausschnitte aus zum Teil deutlich umfangreicheren Werken zu Gehör gebracht werden; und in der Regel noch nicht einmal komplette Sätze, sondern tatsächlich nur eben die lauten Stellen – Häppchenkost nach Art von Klassik Radio. So wird dem Hörer die Sinnhaftigkeit solcher Passagen, also die Entwicklung, die überhaupt erst zu solch hemmungslosen Ausbrüchen führt, oft vorenthalten.

Das ist natürlich ein dann doch einseitiges Vergnügen. Neben den 13 echten „Krachern“ gibt es noch drei ruhige Stücke (Druckman, Segerstam und Rautavaara) als Kontrast. Gespielt wird zumeist auch rhythmisch sehr attraktive Musik, etwa der Lateinamerikaner Revueltas und Ginastera, dazu einiges aus Skandinavien (Rangström, Nielsen…), aber auch Lärm aus den USA oder Russland (Hanson, Bolcom, Prokofjew…). Als Höhepunkt am Schluss dann der vom Isländer Jón Leifs 1961 sensationell in Orchestersprache übersetzte große Vulkanausbruch der Hekla (1947/48) – dagegen war der Eyjafjallajökull 2010 nur ein Huster. Da wird innerhalb eines 140-Mann-Orchesters so fast alles aufgeboten, was das Schlagwerk zu bieten hat. Schlecht ist das magere Booklet, das selbst die Vornamen der Komponisten unterschlägt und auch sonst keinerlei Infos zu den Stücken – mit Ausnahme von Hekla – bereithält.

Der Anspruch, hier wirklich die lauteste klassische Musik aller Zeiten auf einer CD zu versammeln, wird allerdings verfehlt. Stücke wie Iannis Xenakis‘ Jonchaies, Leonardo Baladas Steel Symphony und einiges mehr, das bereits vor 1997 geschrieben war, sind lauter und aggressiver. Ganz zu schweigen von Dror Feiler – da halten sich einige Musiker des BR-Symphonieorchesters schon beim Erklingen nur des Namens die Ohren zu. Und warum hat man von Ginastera den Malambo aus Estancia ausgewählt, und nicht etwa die brachialen Stellen aus Popol Vuh? Sei’s drum – das hier eingespielte Repertoire reicht allemal, um gepflegt die Wände wackeln zu lassen und macht wirklich Spaß. Ein Paar Ohrstöpsel für die Nachbarn bereit zu halten, wäre dann aber gar keine so verkehrte Idee…

[Martin Blaumeiser, März 2017]