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Minimalistische Klanglandschaften

Cantaloupe CA21161 (3CD); EAN: 0713746316129

In einer auf 500 Exemplare limitierten Auflage erschien nun John Luther Adams‘ (*1953) „Become Trilogy“ als 3CD-Box. Die beiden bereits vor Jahren als Einzel-CDs erschienenen Stücke „Become Ocean“ und „Become Desert“ werden hier also noch um das erste Stück der Trilogie, „Become River“, ergänzt. Es spielt das Symphonieorchester aus Seattle unter der Leitung von Ludovic Morlot.

Wohl aufgrund der limitierten Auflage muss ich mich heute mit der Rezension einer digitalen Kopie begnügen, die hoffentlich identisch mit dem CD-Material ist. Nur die Tatsache, dass die jeweils ~40-minütigen Stücke Become Ocean (2013) und Become Desert (2018) bereits jeweils einzeln als CD veröffentlicht worden waren, rechtfertigt, dass für das erste Stück dieser – als solche gar nicht von vornherein geplanten – Trilogie, Become River (2013), trotz der Dauer von nur knapp 15 Minuten eine eigene CD gepresst wurde. Immerhin gibt es nun im Booklet der Box zumindest knappe Texte des Komponisten über die drei Werke – ihr Fehlen bei besagten Einzelausgaben war etwa von David Hurwitz zu Recht bemängelt worden. Nach wie vor aber kein Wort über den Komponisten; insgesamt also nur wenig Information, was anscheinend Adams‘ Selbstverständnis entspricht – seine Musik will erfahren, nicht zerredet werden.

John Luther Adams – nicht zu verwechseln mit seinem sechs Jahre älteren und ungleich berühmteren Fast-Namensvetter John Adams – wurde 1953 in Meridian, Mississippi, geboren, studierte später bei James Tenney und Leonard Stein. Zwischen 1978 und 2014 lebte Adams überwiegend in Alaska und setzte sich stark für den Umweltschutz ein. In den letzten Jahren pendelt der Komponist zwischen New York und der mexikanischen Desierto de Sonora. Das scheint auch klar die Entstehung der drei hier vorgestellten Stücke beeinflusst zu haben: So verwundert es nicht, dass Adams den Tanana River in Alaska als eine Inspirationsquelle für Become River erwähnt, während das dritte Stück, Become Desert eben bereits in Mexiko geschrieben wurde.

Adams zeigt sich – nicht nur in diesen drei Werken – als absoluter Vertreter eines puren Minimalismus: Menschliche Gefühle haben hier keinen Raum und die Musik besteht jeweils nur aus einer einzigen, wabernden Klangfläche. Stellen die berühmten Vertreter der ersten Generation der amerikanischen minimal music (Reich, Riley, Glass) bewusst zur Schau, wie man mit wenigen, einfachen Pattern recht komplexe Strukturen zustande bringt, benutzt der höchst erfolgreiche John Adams (*1947) bekanntlich verwandte Techniken, haucht ihnen aber – manchmal recht marktschreierisch – Leben ein, erfüllt so jedenfalls gewisse Erwartungshaltungen auch eines konservativeren Publikums. Ganz anders John Luther Adams: Hier gibt es weder schlichte, nachvollziehbare Harmonik noch eben eine emotionale Entwicklung. Zudem haben die Pattern, die natürlich unterschwellig unentwegt werkeln – am ehesten noch direkt herauszuhören in Become Ocean (Klavier, Harfe…) – keinerlei Eigenleben oder signifikante Kontur; lediglich unbewusst prägen sie sich dem Hörer ein. Dabei verwendet der Komponist einen – in Folge der drei Stücke vom großbesetzten Kammerorchester mit zweifachen Bläsern über das klassische bis zum großen Orchester plus Chor wachsenden – im Detail äußerst ausgeklügelten Klangapparat; hierin also vielleicht noch eher vergleichbar mit Morton Feldmans Spätwerk Coptic Light. Wenn Adams betont, dass die Stücke der Become Trilogy keinesfalls lautmalerisch die Naturphänomene Fluss, Ozean bzw. Wüste einfangen möchten, sondern nur deren Raum in seiner vielfältigen Bedeutung bis hin zur Poesie und Metaphorik, ist dies jedoch immer noch äußerlicher als Feldmans reine Meditation. Für die Aufführung steigert sich die bereits im ersten Stück geforderte räumliche Distanz bis hin zur Aufteilung des Orchesters in drei bzw. fünf weit getrennt aufgestellte Gruppen, deren Klangflächen jeweils ihr eigenes Tempo haben.

Dem unerfahrenen Hörer mag sich gerade Become River so darstellen wie Wagners Rheingold-Vorspiel oder der Sonnenaufgang in Richard Strauss‘ Alpensinfonie, nur als fast unerträglich auf 15 Minuten Länge gezogenes Crescendo. Ein Fluss, der anschwillt, während es bergab zur Mündung geht. Wenn man sich darauf einlässt, durchaus ein Erlebnis; Hörer, die eine wie auch immer geartete Entwicklung erwarten oder dass etwas passiert, werden mit Sicherheit enttäuscht sein: Nein, das ist nicht die Moldau! Ganz ähnlich verhält es sich mit den beiden 40-Minütern: Become Ocean, wofür Adams den Pulitzer-Preis erhielt, besteht aus drei an- und abschwellenden musikalischen „Wellen“, mit fast auf die Sekunde genau gleicher Länge von ~14 Minuten – immerhin. Dominieren hier eher dunkle Klangfarben, beginnt Become Desert bereits im sehr hellen Register – insgesamt findet ein vielfältigeres Spiel sozusagen mit Licht und Schatten statt. Dennoch wird die als extreme Langsamkeit wahrgenommene Zeitschichtung ohne irgendein rhythmisches Gerüst – wie selbst noch bei Philip Glass‘ bekannter Filmmusik zu Koyaanisqatsi – entweder schnell nervig oder aber dieses nicht im Geringsten aufgeraute Kontinuum in Bogenform zieht den Hörer völlig in seinen Bann. Der Chor agiert selbstverständlich ebenso rein instrumental und bringt bewusst keinerlei menschliche Wärme ins Geschehen. Ob das ein adäquates Bild unerbittlich stattfindender Naturabläufe darstellt, mag der Hörer selbst entscheiden.

Seattle Symphony unter Ludovic Morlot exekutiert die drei Werke jedenfalls überzeugend, was eine keineswegs einfache Aufgabe ist. Die sich zeitlupenartig entwickelnde Dynamik erfordert höchste Konzentration aller Spieler und gerade bei den Bläsern darüber hinaus großes Durchhaltevermögen. Die Aufnahmetechnik und die Abmischung ist ebenfalls ausgezeichnet, obwohl man sich hier vielleicht wirklich mal Surround-Sound wünschte: Die ungewöhnliche, räumliche Aufstellung kann einfacher Stereoton natürlich nicht abbilden. Fazit: Musik für ein sehr spezielles Publikum – man kann sie nur lieben oder hassen.

[Martin Blaumeiser, Januar 2021]

Musik für die Zukunft

Henri Dutilleux (1916-2013): Sur le même accord; Les citations; Mystère de l’instant; Timbres, espace, mouvement (ou „La nuit etoilée“)

Seattle Symphony; Ludovic Morlot, Dirigent; Augustin Hadelich, Violine; Mahan Esfahani, Cembalo; Chester Englander, Cimbalom; Mary Lynch, Oboe; Jordan Anderson, Kontrabass; Michael A. Wernern, Perkussion

SSM1012; EAN: 8 55404 00 6512

Ein großer Einzelgänger, das war er, der französische Komponist Henri Dutilleux. Er lebte zurückgezogen auf einer kleinen Seine-Insel mitten in Paris. Moden, Mainstream, die Haute volée, all das interessierte ihn wenig. Seine Kompositionen sind häufig von Themen aus der Malerei angeregt, wie z. B. „Timbres, espace, mouvement“ vom entsprechenden Bild des Sternenhimmels von Vincent van Gogh.

Das erste Stück auf dieser faszinierenden CD ist ein Nocturne, für dessen Ausarbeitung  Dutilleux 15 Jahre von der Idee bis zur fertigen Fassung benötigte – er war ein von Selbstzweifeln geplagter Schöpfer, der viele seiner frühen Kompositionen radikal vernichtete. Augustin Hadelich ist der exzellente Solist, und ich erinnere mich mit großem Vergnügen an die Einspielung der beiden Violinkonzerte von Sibelius und Thomas Adès vor einiger Zeit mit dem Dirigenten Hannu Lintu. Auch bei diesem Stück von Dutilleux – es ist Ann- Sophie  Mutter gewidmet –  ist die Solopartie bei Hadelich in besten (musikalischen) Händen. Die Intensität der Dutilleux’schen Klangsprache ist bezwingend, die Eigenständigkeit seiner Musik – weitab von jeder Mode wie „seriell“ oder „atonal“ zeigt einmal mehr, warum ihn z. B. Sergiu Celibidache für einen der drei besten Komponisten des späten 20. Jahrhunderts hielt.

Dem Booklet ist zu entnehmen, dass das Orchester aus Seattle unter seinem Dirigenten  Ludovic Morlot sich sehr ausführlich in seinen Programmen mit Neuer Musik befasst und es auch als seine Aufgabe ansieht, sie dem Konzertpublikum – ob jung oder alt – nahezubringen. Dass es dabei von vielen Gönnerinnen und Gönnern unterstützt wird, ist ein Tradition in der amerikanischen Kulturszene.

Das Quartett „Les citations“ ( die Zitate) für Oboe, Cembalo, Kontrabass und Perkussion ist nicht nur wegen seiner ausgefallenen Besetzung hörenswert. Als „composer in residence“  im Sommer 1985 in  Aldeburgh (dem Festival, das Benjamin Britten zusammen mit Peters Pears ins Leben gerufen hatte) schrieb Dutilleux den Beginn, aber erst fünf Jahre später war das Stück seinen Ansprüchen entsprechend fertig. Es zitiert nicht nur den jungverstorbenen Jehan Alain (1911-1940) – in der Art des Renaisssance-Komponisten Clement Janequin (1485-1558) –, sondern auch Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“. Von langsamen und zarten Tönen bis hin zu jazzmäßigen, rhythmisch vertrackten Passagen ist das fast 14 Minuten lange Kammermusikwerk ein avanciertes Meisterstück. Und in den Händen der im Orchester mitspielenden vier Solisten bestens aufgehoben. Mit jedem Anhören gewinnt es an Tiefe und Bedeutung. „Gut Ding will Weile haben“, könnte einer von Dutilleux’s Wahlsprüchen gewesen zu sein. „Es ist kein Scherz, Musik zu schreiben. Tiefe ist  dazu nötig: eine Art Mystik“, beschrieb er seinen Arbeitsprozess.

Auch Paul Sacher, Anreger und Nestor der Neuen Musik, dem viele Meisterwerke der Moderne ihre Entstehung verdanken, gehörte zu Dutilleux’s „Auftraggebern“ Seine Komposition „Mystère de l’instant“ (Das Geheimnis des Augenblicks) von 1989 war eine der letzten, von Paul Sacher angeregten Kompositionen. Über die Einzelheiten dieses für  Streicher, Perkussion und Cimbalom geschriebenen Werkes gibt das Booklet informativ Auskunft, wenn auch nur auf Englisch. Das Werk verwendet Noten des Namens „Sacher“ und besteht aus 10 aufeinanderfolgenden kurzen, quasi improvisatorischen Stücken.

Die Anregung zur vierten Komposition auf dieser CD geht auf den Cellisten Mstislav Rostropovich zurück und natürlich auf das berühmte Bild von Vincent van Gogh „Die Sternennacht“ mit den bewegten Sternen und den Zypressen vor dem tiefblauen Firmament. Der erste und dritte Teil entstanden 1978, bevor Dutilleux 1991 ein Zwischenspiel einfügte.

Nébuleuse, Interlude und Constellations heißen die drei Sätze. Vom tiefsten bis zum höchsten Ton des Orchesters, durch alle möglichen melodischen, arabeskengleichen , rhythmischen und klanglichen Kombinationen, ist das Werk ein ganz eigenes Faszinosum in der Geschichte der Neuen Musik. Und lässt hörbar werden, wie weit sich Henri Dutilleux von allen „Strömungen“ – denen er stets aufgeschlossen gegenüber stand – frei machte und sich mit seiner ureigenen, unvergleichlichen Musiksprache in seiner Art und immer wieder  von Zweifeln und Umarbeitungen geprägten Weise als einer der spannendsten und wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts weiterentwickelte.

Der Aufnahme, teils konzertant, teils in Studio-Sessions entstanden, ist die Begeisterung der Musiker, des Dirigenten, aller Beteiligten deutlich anzuhören. Auch bei leisesten oder lautesten, volltönendsten  Klängen ist die instrumentale Perspektive jeder einzelnen Stimme klar und deutlich eingefangen. Obwohl es keineswegs „easy listening“ ist, wenn es um die Musik von Henri Dutilleux geht: der Gewinn, der von diesen „Klängen“ ausgeht, wirkt nachhaltig und ist eine grandiose Bereicherung des eigenen Hörens.

[Ulrich Hermann, November 2016]