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Symphonische Urlandschaften: Die abenteuerlichen Reisen des Anders Eliasson

BIS, BIS-2368; EAN: 7 318599 923680

BIS hat ein Album mit drei symphonischen Werken Anders Eliassons herausgebracht. Zu hören sind die Symphonie Nr. 3 für Sopransaxophon und Orchester, gespielt von Anders Paulsson, Sopransaxophon, und den Göteborger Symphonikern unter Leitung von Johannes Gustavsson, sowie das Posaunenkonzert und die Symphonie Nr. 4, gespielt vom Königlichen Philharmonischen Orchester Stockholm unter Sakari Oramo. Solist im Posaunenkonzert ist Christian Lindberg, die Flügelhornsoli in der Vierten Symphonie spielt Joakim Agnas.

Anders Eliassons Musik ist ein Abenteuer. Irgendwo entspringt ein Quell – sei es dezent oder mit einem Knall, blitzschnell hervorzischend oder sanft plätschernd: Die Musik, als wäre sie bereits vor Erklingen des ersten Tons in Bewegung gewesen, fließt und fließt und bahnt sich ihren Weg. Mächtig anwachsend, dann wieder entschleunigend, bald dunkle, tiefe Seen, bald schäumende Katarakte bildend, drängt sie voran, unaufhaltsam wie das neptunische Element. Es ist, als hörte man Urstromtäler in Tönen sich formen – und so oft man den Werken Eliassons auch lauschen mag: Man wird doch jedes Mal von neuem der erste Mensch, der diese ewig unberührte Landschaft betreten darf.

Den Theoretikern hat dieser große Mann freilich härteste Nüsse zu knacken gegeben. Diese Musik ist ohne Frage tonal. Eliasson hat nie einer jener Theorien angehangen, denen zufolge sich angeblich Atonalität erzeugen und die vielbeschworenen (aber kaum je ordentlich definierten) „Grenzen der Tonalität“ überwinden ließen. Als Student studierte er fleißig alles, was es um 1970 an aktuellen Modernismen zu studieren gab – „Rhythmus, Melodien und gewisse Intervalle waren tabu“ –, aber heimlich ging er dabei dem nach, „was ich immer schon in mir gehört hatte“. Hört man Eliassons Musik, merkt man sofort, dass sie ebenso von harmonischen Spannungen bestimmt wird wie die Werke der Klassiker abendländischer Tonalität. Aber man gehe nur als Theoretiker heran und versuche Dominanten, Subdominanten etc. auszumachen! Wie würde man Bachs oder Mozarts Musik beschreiben, hätte man die ganzen Funktionsbegriffe nicht? Aber war es denn Bach oder Mozart so wichtig zu wissen, wie Riemann und andere Professoren ihre Stilmittel bezeichneten? Der Analytiker, der sich Eliasson mit dem üblichen Vokabular nähert, findet sich früher oder später ganz zurück an den Anfang versetzt – je nachdem wie lange er braucht, um zu merken, dass er einen am Ziel sicher vorbeiführenden Weg eingeschlagen hat. Aber ermahnt ein solcher Rückschlag nicht dazu, nun wirklich anzufangen?

Die musikalische Urlandschaft, die Anders Eliasson als erster betrat, zeigte sich mit jedem neuen Werk, das er schrieb, größer und reicher als zuvor vermutet. Er selbst war zu sehr mit ihrer Erkundung beschäftigt, als dass er in die Versuchung hätte geraten können, die Grundlagen seines Komponierens in ein theoretisch festgefügtes System zu überführen. Allenfalls sprach er von einem „System, das kein System ist“ und beschrieb sein musikalisches Material als „Alphabet“. Musik sei, so sagte er weiterhin, „wie H2O: Melos, Harmonik und Rhythmus sind eine Einheit. Und sie muss fließen.“ Versuche, absichtlich originell zu sein (wobei er „originell“ in Anführungszeichen setzte), waren ihm ein Ding der Unmöglichkeit, denn: „Man kann sich nicht von mehr als 1000 Jahren Tradition lösen, ohne unverständlich zu werden.“ Seine eigene Musik nannte er zwar „etwas völlig Neues“, doch bestand dieses Neue darin, „dass man das (tonale) Universum von einer neuen Position sieht“. Diese neue Perspektive verdeutlichte er einmal in einer Zeichnung, die in vereinfachter Form auch seinen Grabstein ziert: Eliasson ordnet darin die Töne des Quintenzirkels als eine Folge ineinander verschlungener Dreiecke an, wobei die einander entsprechenden Seiten der Dreiecke die drei möglichen Tonvorräte des verminderten Septakkords ergeben. Er überblickte die quintengestützte Ordnung also von einem Standpunkt aus, welcher deren Möglichkeiten zum Uneindeutigen deutlich hervortreten lässt. Nicht die Eindeutigkeit der Tonika-Dominant-Spannung, die ja selbst Schönbergs zwölftönige Werke gegen den Willen ihres Schöpfers beherrscht, interessierte Eliasson, sondern eine tonale Ordnung, die beständig mehrere Möglichkeiten der harmonischen Fokussierung anbietet. Die „triangulatorische“ Harmonik lässt die Musik auf eine Art und Weise flüssig erscheinen, wie dies zuvor bei keinem anderen Komponisten vorgekommen ist.

Eliassons Dreiecksskizze wurde als Titelbild zu einer CD-Veröffentlichung von BIS ausgewählt, die einen optimalen Einstieg in die Klangwelt des 1947 geborenen schwedischen Meisters bietet. Sie enthält ausschließlich Ersteinspielungen: Die Vierte Symphonie (2005) wurde vom Königlichen Philharmonischen Orchester Stockholm (Royal Stockholm Philharmonic Orchestra) unter der Leitung von Sakari Oramo aufgenommen, ebenso das Posaunenkonzert (2000), in dem Christian Lindberg, der das Werk seinerzeit uraufgeführt hat, als Solist zu hören ist. Die 1989 entstandene Dritte Symphonie erscheint bereits zum zweiten Mal auf CD, nun aber erstmals in ihrer überarbeiteten Fassung von 2010. Das Werk ist als konzertante Symphonie mit solistischem Saxophon angelegt und war ursprünglich für den Altsaxophonisten John-Edward Kelly geschrieben, auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin der Komponist die Solostimme in Höhen führte, die außer Kelly selbst kaum ein anderer Spieler bewältigen konnte. Um Aufführungen des Werkes zu erleichtern, erstellte Eliasson schließlich 20 Jahre nach der Uraufführung eine Fassung für Sopransaxophon, deren erste Aufnahme hier durch den Solisten Anders Paulsson und die Göteborger Symphoniker unter Johannes Gustavsson vorgelegt wurde. Somit sind nun sämtliche vollendete Symphonien Eliassons für großes Orchester auf CD greifbar. Die Erste Symphonie (1986) wurde von Gennadij Roshdestwenskij und dem Symphonieorchester des Kulturministeriums der UdSSR aufgenommen (Caprice). Die Dritte in der Fassung für Altsaxophon liegt mit John-Edward Kelly und dem Finnischen Rundfunksymphonieorchester unter Leif Segerstam vor (NEOS). Seine Symphonie Nr. 2 hat Eliasson nie vollendet. Es existiert nur eine Anzahl von Skizzen, anhand derer sich kein geschlossener Werkverlauf erkennen lässt.

Die Dritte Symphonie besteht aus fünf Abschnitten, die nahtlos ineinander übergehen und gemeinsames Material verarbeiten. Sie sind mit Cerca (Suche), Solitudine (Einsamkeit), Fremiti (Schaudern), Lugubre (traurig) und Nebbie (Nebel) überschrieben. Zweimal lässt Eliasson einen raschen Satz in einen langsamen münden, wobei der Kontrast zwischen Teil 3 und Teil 4 denjenigen zwischen den ersten beiden deutlich übertrifft. Am Ende des dritten Abschnitts wird ein frenetischer Höhepunkt erreicht, auf den die düstere Musik des Lugubre antwortet. Der letzte Teil des Werkes ist kein umfangreicher Satz mehr, sondern eine kurze Coda, in der die Kontraste aufgehoben werden. Wenn der Nebel aufsteigt, beschleunigt sich die Musik wieder, ohne schnell zu werden. Helle Klangfarben scheinen auf, ohne zu strahlen. Kein Triumph, keine Tragödie, vielleicht das unvermutete Ergebnis der anfänglichen Suche, auf jeden Fall ein Ausatmen in frischer Luft. Das Saxophon ist eindeutig das führende Instrument. Es ist durchweg präsent, gibt meist die Richtung vor und hat Aufgaben zu bewältigen, die einen virtuosen Spieler verlangen. In John-Edward Kellys Worten hat Eliasson das Werk dennoch „Symphonie“ genannt, da „der ästhetische Schwerpunkt tiefer liegt als in einem Konzert“. Durch die Einspielung Paulssons kann man nun beide Fassungen der Symphonie vergleichend hören. Auf dem Sopransaxophon gespielt, wirkt sie deutlich leichtfüßiger, spielerischer als in Kellys Aufnahme mit Altsaxophon. Kelly hat den Komponisten ja explizit um höchste Anforderungen gebeten, er wollte mit der Materie kämpfen. Das ist ihm bravourös in seiner Einspielung gelungen. Einen vergleichbaren Existenzialismus strahlt Paulssons Aufnahme nicht aus. Das Werk zeigt sich hier allerdings von einer abgeklärten Seite, wie sie eine Aufführung der Altsaxophonversion kaum hervorbringen dürfte. Letzten Endes ist das Werk eine der größten Kompositionen für Saxophon und Orchester, die je geschrieben wurden, und sowohl Alt-, als auch Sopransaxophonisten erhalten höchst lohnende Aufgaben. Freilich wird die Fassung für Sopransaxophon wohl in Zukunft wesentlich häufiger gespielt werden als diejenige für Altsaxophon, da die Schwierigkeiten für letzteres Instrument wesentlich größer sind.

Das einsätzige Posaunenkonzert ist weniger virtuos als die Saxophon-Symphonie und betont nicht nur in der Einleitung und im Schlussteil, die beide in langsamem Tempo gehalten sind, die kantable Seite des Instruments. Im lebhaften Hauptteil, der in mehreren Steigerungswellen verläuft, fehlt es aber auch nicht an Machtworten in der Solostimme, namentlich wenn der Satz gegen Ende auf einen gewaltigen Höhepunkt zusteuert. Die Posaune steht nicht eigentlich im Gegensatz zum Orchester, eher scheint sie als ein Anführer die übrigen Instrumente aus dem Inneren des Orchesterverbandes heraus anzuspornen. Am deutlichsten tritt sie aus der Gruppe heraus, wenn sie zum Abschluss des Ganzen einen breit ausschwingenden Gesang anstimmt. Dass Eliasson mit diesem Stück auch den Posaunisten ein Werk höchsten Ranges geschenkt hat, braucht eigentlich nicht betont zu werden.

Wie die beiden anderen Werke auf der CD ist auch die Vierte Symphonie ein ununterbrochenes Kontinuum, das sich in mehrere Abschnitte in unterschiedlichen Tempi gliedert. Hier wechseln zweimal schnelle und langsame Musik einander ab, wobei der Schlussteil einen knappen Epilog darstellt, der das Werk mit der Musik des langsamen zweiten Teils beschließt. Das eigentliche Finale ist damit der dritte Teil, zugleich der lebhafteste der Symphonie. Lässt Eliasson die Musik in der Dritten Symphonie zu Beginn hervorsprudeln und im Posaunenkonzert mit dezenten Wellenschlägen einschwingen, eröffnet er die Vierte mit lauten Orchesterschlägen. Das Hauptmotiv besteht nur aus zwei Tönen, aber wie prägnant ist es formuliert und wie abwechslungsreich verwandelt! Tatsächlich erleben wir in diesem Werk, wie ein Motiv von alleräußerster Knappheit zur Grundlage eines höchst belebten Geschehens wird. Auch in der Vierten Symphonie spielt ein Soloinstrument, allerdings nicht durchgängig: Im langsamen zweiten Teil führt über weite Strecken ein Flügelhorn die Melodie (in der Aufnahme gespielt von Joakim Agnas), auch behält es in der Coda der Symphonie mit einem sanften Anschwellen, ohne laut zu werden, das letzte Wort. Virtuose Passagen, wie sie in der Dritten Symphonie und in geringerem Maße im Posaunenkonzert vorkommen, fehlen allerdings völlig. Die Vierte präsentiert sich als ein überwiegend lichtes, helles Werk. Mit ihrer markanten Thematik und der zarten Lyrik der Flügelhorngesänge kann sie als eine der unmittelbar ansprechendsten Kompositionen Eliassons bezeichnet werden.

Man kann nur wünschen, dass diese wunderbare CD, auf der hervorragende Dirigenten, Orchester und Solisten ihr Bestes geben, der Musik des 2013 vorzeitig gestorbenen Komponisten (der sich zum Zeitpunkt seines Todes mit Plänen zu einer Fünften Symphonie trug) viele Freunde gewinnen und zu weiteren Entdeckungsreisen in die abenteuerliche Welt des Anders Eliasson einladen wird. Angesichts solcher Werke in solchen Aufführungen ist eigentlich kein Zweifel mehr möglich: Anders Eliasson war einer der ganz großen Meister der Tonkunst nicht nur unserer Zeit.

[Norbert Florian Schuck, Januar 2024]

Nicht unterkühlt [Rezensionen im Vergleich]

FINNLANDS DIRIGENTEN – VESA SIRÉN
Von Sibelius und Schnéevoigt bis Saraste und Salonen

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SCOVENTA 2017; ISBN 978-3-942073-42-4

Ein dicker, fast 1000 Seiten umfassender Wälzer über Finnlands Dirigenten? Wer liest denn so was? Habe ich mich am Anfang auch gefragt, als ich das kiloschwere Werk in der Hand hielt… Aber nach kurzer Lektüre war das gar keine Frage mehr, eher: Wie kann man in der heutigen klassischen Musikwelt ohne die finnische „Übermacht“ an Dirigenten überhaupt so ein Buch nicht schreiben und dann eben auch nicht lesen. Denn dem Autor Vesa Sirén gelingt es nicht nur, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, nein, dieses dicke „Ding“ liest sich ausgesprochen gut und trotz aller Materialfülle erstaunlich flüssig und unterhaltend. Dazu tragen auch die vielen umfassenden Interviews und Statements sowohl der Dirigenten als auch der betroffenen Musiker bei, die dem Ganzen das Akademische oder Langweilige austreiben. Ob man einem, und welchem der vorgestellten Meisterdirigenten man nun den Vorzug gibt, ob den Älteren wie Kajanus, Sibelius oder Schnéevoigt oder den Jüngeren wie Salonen oder Saraste oder den noch Jüngeren wie Oramo, Lintu, Storgårds oder Mälkki, alle werden mit großer Ausführlichkeit und großem Sachverstand vorgestellt, kommen teilweise auch selbst zu Wort und geben dem ganzen Buch eine „undeutsche“ Leichtigkeit, die man sich bei Büchern dieser Art des Öfteren wünscht.

Wer also dem Thema der heute in aller Welt vertretenen finnischen Dirigenten nachspüren will, darüber hinaus einen tiefen Blick in die finnische Mentalität und Art des Vermittelns und Weitergebens erfahren will, der ist mit diesem dicken Buch bestens bedient. Und erfährt unter anderem, warum die Überlegenheit so sich entwickeln konnte, denn Finnland hat nicht allein das beste pädagogische System, was das Schulwesen angeht, wie alle Pisa-Studien seit Jahren zeigen, auch die Musik-Vermittlung ist allen anderen Ländern meilenweit voraus. Warum, diese Frage wird im Buch von Vesa Sirén genauestens beantwortet und zeigt auch, warum nicht nur finnische Dirigenten so begehrt sind: auch finnische Musiker – z. B. hier an deutschen Musikhochschulen – genießen als Lehrer und Musiker einen besonders guten Ruf.

Was läge also näher, als dieses umfassende Buch den entsprechenden Lesern dringend ans Herz zu legen, was hiermit geschehen ist.

[Ulrich Hermann, Juni 2017]

Standardwerk eines Musiktauben zum finnischen Dirigentenphänomen [Rezensionen im Vergleich]

Vesa Sirén: Finnlands Dirigenten. Von Sibelius und Schnéevoigt bis Saraste und Salonen (finnische Erstausgabe von 2010 erweitert, gekürzt und aktualisiert vom Autor und übersetzt von Ritva Katajainen, Benjamin Schweizer und Roman Schatz)

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Scoventa Verlag, 2017; ISBN: 9783942073424

Nichts läge näher und mehr im musikalischen Trend der Zeit, als ein Buch über die Dirigenten (übrigens auch die Komponisten) Finnlands zu schreiben: ein Land mit ca. 5 Millionen Einwohnern produziert mittlerweile mehr international bedeutende Kapellmeister als Deutschland, Österreich, Frankreich, die Schweiz und Italien zusammen. Das ist ein bisschen so, als kämen die alle aus dem Großraum Berlin oder Wien, aus Paris oder Rom… Vesa Sirén, alteingesessener Kritiker bei einer der beiden großen Tageszeitungen in Helsinki und lange schon auf den Fersen der Maestri, hat sich an die Aufgabe gewagt und ein hinsichtlich Informationsmenge und historischer Panoramasicht beeindruckendes Kompendium von fast 1.000 Seiten verfasst. Für alle, die durchblicken wollen beim finnischen Dirigentenphänomen, ist dies ein Standardwerk, und es ist zugleich für jedermann unterhaltsam und in vieler Hinsicht hochinteressant zu lesen. Geschrieben in laienhaft feuilletonistischer Manier, liegt die große Stärke des Buchs in der mühevoll zusammengetragenen Fülle von Originalzitaten, historischen Fakten, Kommentaren von Zeitzeugen (Dirigentenkollegen, Orchestermusiker, Kritiker), was äußerst wertvoll ist, und die biographischen Beschreibungen der Karrieren und Wechselwirkungen.

Also: das Buch lohnt die Anschaffung, wenn man Bescheid wissen und mitreden will, wenn man sich über einzelne Dirigentenpersönlichkeiten kundig machen will (höchst lesenswert sind z. B. die Kapitel über Kajanus, Sibelius, Schnéevoigt, Funtek, Berglund oder Segerstam). Doch zugleich ist es mit Skepsis, mit Vorsicht und Abstand zu lesen. Denn fortwährend beweist Sirén entwaffnend, dass er von Musik so gut wie gar nichts versteht. Peinliche Fehlurteile kommen stapelweise, und die amateurhaft-kompetenzgierige Argumentation bei der Besprechung von Aufnahmen und der Schilderung von Konzerteindrücken zeigt auf Schritt und Tritt, dass nur musikfremde Konventionalität und peinlich einengende Ideologien, Prominenz und das Absichern an vermeintlichem common sense die Grundlage der subjektiven Urteile bilden. Daher wird natürlich Esa-Pekka Salonen in peinlicher Weise vergöttert, und andere – wie Hannu Lintu oder gar John Storgårds – kommen ziemlich bis offenkundig schlecht weg. Dafür gibt es jede Menge Gossip, der Ton des Autors neigt zu verächtlicher Häme, wo der wahrscheinliche Rückschlag sich in Grenzen hält. Sirén ist ein Angeber und Feigling, und im Grunde versteht er wie viele Kritiker schlicht nicht die Grundlagen dessen, wovon er schwadroniert. Anscheinend mangelt es nicht nur hierzulande an verantwortungsbewusst kompetenten Kritikern! Dass John Storgårds’ bahnbrechende Gesamtaufnahme der Sibelius-Symphonien mit dem BBC Philharmonic in einem Satz als „Manchester-Tunke“ herabgewürdigt wird, schlägt dem Fass den Boden aus. Und ein weltweit unübertroffener Meister der Streichorchester-Kultivierung und Pionier substanziellen Repertoires wie Juha Kangas, der Gründer des Ostrobothnian Chamber Orchestra, wird mit hauptstädtischer Ignoranz so nebensächlich und unspezifisch abgehandelt, dass man sich fragen muss, ob die finnischen Meinungsmacher überhaupt etwas von dem mitbekommen, was in ihrem Land abgeht. Das geht so weit, dass Kokkola auf der Karte der wichtigsten finnischen Musikstädte nicht auftaucht. Nein, Vesa Sirén ist entweder ein bösartig schwatzender Manipulateur oder einfach nur musiktaub, ahnungslos autoritätshörig und dumm. Der Kaiser ist nackt. Trotzdem, all dessen eingedenk, ist das Buch zwar oft sehr ärgerlich, aber doch höchst informativ zu lesen. Und es gibt (noch) keine Alternative zu dieser geschickt und flüssig formulierten Fleißarbeit. Und was er nicht beurteilt oder proportional entstellt, also was objektive Tatbestände betrifft, ist dieses schön und solide aufgemachte Buch jetzt die maßgebliche Quelle für den deutschen Leser.

Folgende Dirigenten werden behandelt: Robert Kajanus, Jean Sibelius, Georg Schnéevoigt, Armas Järnefelt, Leo Funtek, Toivo Haapanen, Martti Similä, Tauno Hannikainen, Simon Parmet, Nils-Eric Fougstedt, Jussi Jalas, Paavo Berglund, Jorma Panula, Ulf Söderblom, Leif Segerstam, Okko Kamu, Atso Almila, Esa-Pekka Salonen, Jukka-Pekka Saraste, Osmo Vänskä, Juha Kangas, Sakari Oramo, Mikko Franck, Pertti Pekkanen, Petri Sakari, Ari Rasilainen, Markus Lehtinen, Tuomas Ollila, Tuomas Hannikainen, Hannu Lintu, John Storgårds, Susanna Mälkki, Ralf Gothóni, Olli Mustonen, Jaakko Kuusisto, Pekka Kuusisto, Jari Hämäläinen, Ville Matvejeff, Boris Sirpo, Nikolai van der Pals, Miguel Gómez-Martinez, Muhai Tang, Jean-Jacques Kantorow, Sergiu Comissiona, Leonid Grin, Valery Gergiev, Pietari Inkinen, Dima Slobodeniouk, Santtu-Matias Rouvali

[Annabelle Leskov, Juni 2017]