Erstaunlich, dass das Orgelwerk des lange das Altonaer Musikleben prägenden Komponisten Felix Woyrsch (1860–1944) erst 2019 von Ruth Forsbach auf CD eingespielt wurde, ist es doch stilistisch ein wertvolles Bindeglied zwischen Brahms und Reger und in der Zeit um den 1. Weltkrieg ein einzigartiges Zeugnis norddeutscher Orgelkunst.Bis auf ein Choralvorspiel sind die Darbietungen sogar kommerzielle Erstaufnahmen: für Orgelfreunde eine längst überfällige Ausgrabung.
Der aus Troppau stammende Felix Woyrsch (1860–1944) war als Komponist weitgehend Autodidakt. Über Jahrzehnte prägte er als Organist und Dirigent – später Musikdirektor – das Musikleben der bis 1938 selbständigen, schleswig-holsteinischen (!) Großstadt Altona, leitete u. a. die dortige Singakademie und das Orchester des „Vereins Hamburgischer Musikfreunde“. Obwohl als Interpret durchaus aufgeschlossen gegenüber der sich zunehmend etablierenden Moderne, blieb er in seinen Werken zeitlebens einer spätromantischen Tradition in der Nachfolge Griegs, Bruckners und Brahms‘ treu. Sein Orgelwerk ist mit einer Gesamtspieldauer von knapp 63 Minuten nicht sehr umfangreich und besteht neben 10 Choralvorspielen lediglich noch aus einem Festpraeludium über den Choral „Nun danket alle Gott“ (1895) sowie aus einer – freilich phänomenalen – Passacaglia über das „Dies irae“.
Bereits im Festpraeludium zeigen sich Woyrschs sicheres kontrapunktisches Geschick und wirkungsvolle Registrierungsvorstellungen; das Stück steht allerdings noch ganz in der Tradition etwa von Liszt und Rheinberger. Sehr persönlich zeigen sich dann schon die 10 Choralvorspiele op. 59, entstanden zwischen 1909 und 1918, vor allem also während des 1. Weltkriegs. Entsprechend pessimistisch ist deren Tonfall. Im letzten Stück „Verleih uns Frieden gnädiglich“ schreibt der Komponist ausdrücklich „im Kriegsjahr 1918“ über die Partitur, den tatsächlich dringlichen Wunsch nach Frieden vor Augen. Aber auch in einigen der anderen Choralvorspiele wird die Tragik der geschichtlichen Ereignisse hörbar, besonders in den beiden, den liturgischen Rahmen schon durch ihre Längen von um die acht Minuten sprengenden Nummern 5 und 7 („O Haupt voll Blut und Wunden“ – höchst chromatisch – sowie „Was mein Gott will, das gescheh‘ allzeit“).
Ein wahres Meisterwerk ist dann schließlich die Passacaglia über das „Dies irae“, 1921 veröffentlicht, aber höchstwahrscheinlichkeit noch im oder kurz nach dem Kriege verfasst. Das 12-minütige Stück kann sich qualitativ durchaus mit entsprechenden Werken Max Regers messen, ist technisch enorm anspruchsvoll, kompositorisch auf der Höhe der Zeit und verfehlt durch seine Auseinandersetzung mit der Totentanz-Thematik – Woyrsch selbst hatte bereits ein Mysterium mit dem Titel Totentanz (op. 51) komponiert – seine Wirkung nicht.
Die erfahrene Organistin und ehemalige Remscheider Kirchenmusikdirektorin Ruth Forsbach (* 1949) – u. a. Schülerin von Gerd Zacher, Lionel Rogg und Gaston Litaize – spielt Woyrschs Musik absolut souverän und begeistert den Hörer nicht nur mit einer überwältigenden Darbietung der Passacaglia, sondern bringt auch sensibel die vielen Zwischentöne bei den Choralvorspielen zum Vorschein. Der Klang des historisch perfekt passenden Instruments – der Wilhelm-Sauer-Orgel der reformierten Kirche Wuppertal-Ronsdorf von 1908 – unterstreicht den konzertanten Charakter der meisten Choralvorspiele und wurde aufnahmetechnisch in Co-Produktion mit dem WDR sehr schön eingefangen. Forsbach gelingt es, trotz eines ein wenig verschwenderischen Umgangs mit den 16‘-Registern, durchsichtig zu bleiben, ohne den doch etwas bombastischen Zeitgeist zu verleugnen. Diese Veröffentlichung schließt auf erfreuliche Weise eine offenkundig viel zu lange bestehende Repertoirelücke – hörenswert!
Für Toccata Classics hat Ruth Forsbach auf der Wilhelm-Sauer-Orgel der reformierten Kirche in Wuppertal-Ronsdorf sämtliche Orgelkompositionen von Felix Woyrsch eingespielt.
Der 1860 geborene Felix Woyrsch, von 1914 bis 1931 erster (und einziger) Städtischer Musikdirektor im damals noch nicht zu Hamburg gehörenden Altona, wurde vor allem durch seine Oratorien und Symphonien bekannt. Auf beiden Gebieten kann er als der bedeutendste norddeutsche Komponist aus der Generation nach Johannes Brahms gelten. Angesichts der überregionalen Erfolge seiner Chor- und Orchesterwerke (das Passionsoratorium und das Mysterium Totentanz drangen bis nach Großbritannien und in die USA vor), sowie seiner Leistungen als Chorleiter und Orchesterdirigent, der erstmals in Altona regelmäßige Symphoniekonzerte veranstaltete, wird mitunter vergessen, dass Woyrsch immerhin drei Jahrzehnte lang, von 1895 bis 1925, einer regelmäßigen Organistentätigkeit nachging. Freilich verlief dieser Teil seines Wirkens wenig aufsehenerregend und beschränkte sich auf die Begleitung von Gottesdiensten in Altonaer Kirchen. Auch der Umstand, dass Woyrsch nur relativ wenige Kompositionen für die Orgel schrieb, mag dazu beigetragen haben, dass sein Name meist nicht in erster Linie mit der „Königin der Instrumente“ in Verbindung gebracht wird. Keineswegs sollte man daraus jedoch den Schluss ziehen, es handle sich bei den Orgelstücken des Komponisten um qualitativ hinter seinen symphonischen und oratorischen Werken zurückstehende Musik.
Woyrschs gesamtes Orgelschaffen umfasst insgesamt zwölf Einzelstücke, die sich auf drei Opuszahlen verteilen und allesamt in seiner mittleren Schaffensperiode entstanden. Am Beginn steht das 1895 komponierte Festpraeludium über den Choral „Nun danket alle Gott“ op. 43. Die übrigen Kompositionen wurden 1921 veröffentlicht. Es handelt sich um die zwischen 1909 und 1918 entstandenen Zehn Choralvorspiele op. 59 und die Passacaglia über das „Dies Irae“ op. 62. So wenig umfangreich dieser Werkbestand rein zahlenmäßig sein mag, bieten die Stücke doch eine gute Einführung in Woyrschs Kompositionsstil. Man lernt aus ihnen einen Künstler kennen, dem der Kontrapunkt nicht bloß Handwerksmittel, sondern Träger poetischer Ideen ist, einen wahren Großmeister der Tonalität, der seine Musik souverän durch Nebenharmonien und Zwischenstufen führen kann, ohne das Zentrum aus dem Blick zu verlieren, und nicht zuletzt einen vielseitigen Tondichter, der der Orgel ein breites Spektrum musikalischer Charaktere abzugewinnen weiß. Die Stimmung verschiebt sich, hört man die Stücke in der Reihenfolge ihrer Nummerierung, allerdings immer mehr hin zum Düsteren, was offensichtlich mit der zeitlichen Nähe der meisten Choralvorspiele und der Passacaglia zum Ersten Weltkrieg zusammenhängt. Wie Andreas Dreibrodt und Andreas Willscher, zwei der besten Kenner von Woyrschs Schaffen, in ihrem sehr informativen Begleittext schreiben, passt auch das Festpraeludium op. 43, obwohl viel früher und ohne jeden militärischen Bezug entstanden, durchaus in die Kriegszeit, liegt ihm doch jene Melodie zugrunde, die die Soldaten Friedrichs des Großen einst als „Choral von Leuthen“ anstimmten, – und in Erinnerung daran tausende Deutsche zu Beginn des Krieges vor dem Berliner Schloss. Man beginnt die Reise durch Woyrschs Orgelwerk also in festlicher Aufbruchsstimmung, die jedoch in den Choralvorspielen op. 59 ziemlich bald zurückgenommen wird. Die ersten drei sind Weihnachtsstücke (Nun komm der Heiden Heiland, Es ist ein Ros entsprungen, Vom Himmel hoch, da komm ich her), dann folgen Werke der Klage und Trauer (Ach Gott, vom Himmel sieh darein, O Haupt voll Blut und Wunden, O Traurigkeit, o Herzeleid), und ein gleichfalls dunkel getöntes Vorspiel über Was mein Gott will, das g’scheh allzeit. Wenn mit Nr. 8 doch noch einmal ein Festpraeludium auftaucht, dann eines über Valet will ich dir geben [du arge, falsche Welt]. Nr. 9, Nun ruhen alle Wälder, ist als Trio mit kanonischen Oberstimmen komponiert, die permanent andere Harmonien ansteuern als von der im Bass liegenden Choralmelodie eigentlich impliziert – in den „ruhigen“ Wäldern rauscht es unheimlich. Schließlich spricht Woyrsch offen aus, was viele „im Kriegsjahr 1918“ (so fügt er ausdrücklich dem Titel hinzu) dachten, und setzt ans Ende der Sammlung ein Vorspiel über Verleih uns Frieden gnädiglich. Die vermutlich noch im oder kurz nach dem Krieg entstandene Passacaglia op. 62 entpuppt sich als Totentanz in bester Lisztscher Tradition (wenngleich man rein stilistisch eher Bach und Brahms als Vorbilder ausmachen mag) – ein passender Abschluss dieses Orgelschaffens, das, ohne dass der Komponist dies zu Beginn intendiert haben kann, ihm gleichsam unter der Hand zu einem bemerkenswert in sich geschlossenen Kriegszyklus geworden ist.
Obwohl alle Werke auf vorhandene Themen komponiert sind, legen sie von Woyrsch nicht nur als Kontrapunktiker und Harmoniker ein höchst günstiges Zeugnis ab, sondern auch als Melodiker, der sich trefflich darauf versteht, aus dem Material der Choralmelodien neue Themen zu bilden (op. 43, op. 59/8) bzw. freie Begleitmotive zu ihnen zu erfinden (op. 59/5, op. 59/10). Freilich verschmäht er streng aus der Melodie abgeleitete Vorimitationen keineswegs, wie op. 59/4 und op. 59/5 zeigen. In der Passacaglia feiert das zum Dies-Irae-Thema mit unerschöpflichem Einfallsreichtum stets neue Gegenstimmen erfindende melodische Talent des Komponisten Triumphe von Variation zu Variation. So schmal der Werkbestand Woyrschs für die Orgel sein mag, so qualitativ hochwertig ist er auch. Man kann jedes einzelne dieser Orgelstücke bedenkenlos neben Werken von Bach, Brahms oder Reger aufführen.
Der Düsseldorfer Organistin Ruth Forsbach, seit 1999 Kirchenmusikdirektorin der Evangelischen Kirche im Rheinland, ist nun die erste Gesamteinspielung des Woyrschschen Orgelschaffens zu verdanken, die, mit Ausnahme von op. 59/5, zugleich die Ersteinspielung aller Stücke auf CD darstellt. Wie bereits erwähnt, ist das Album, wie bei Veröffentlichungen von Toccata Classics häufig, mit einem vorzüglichen Einführungstext ausgestattet. Ich wünschte, ich könnte gleiches von der Aufführung der Werke selbst sagen!
Gewiss hat Ruth Forsbach mit der 1908 erbauten Sauer-Orgel der reformierten Kirche in Wuppertal-Ronsdorf ein zur Wiedergabe der Kompositionen Felix Woyrschs bestens geeignetes Instrument ausgewählt, auch registriert sie ansprechend. Dennoch lassen ihre Darbietungen manche Wünsche offen, sodass man hier keineswegs von einer idealen Aufnahme sprechen kann. Es fängt mit der wenig kantablen Ausführung der Choralmelodien selbst an. Gerade Choralvorspiele sollten doch daran erinnern, dass Telemanns Spruch vom Singen als „Fundament der Musik in allen Dingen“ auch für das Musizieren auf der Orgel gilt! Gerade weil sie zu den Instrumenten zählt, deren Tonerzeugung derjenigen der menschlichen Stimme eher unähnlich ist, ist ein möglichst gesanglicher Vortrag, mit viel Sinn für weite melodische Entwicklungen, wichtig. Forsbachs Spiel wirkt dagegen oft zu zaghaft. Sie spielt gleichsam „auf Sicht“, von Takt zu Takt, sodass sich kaum einmal der Eindruck ausgedehnterer Formzusammenhänge einstellt. Durch Rubati scheint sie die Musik beleben zu wollen, doch klingen diese seltsam ungelenk, da sie regelmäßig quer zum jeweiligen harmonischen Gefälle stehen. Man fragt sich: Wo bleibt das „fernhören“, die Ausrichtung des Vortrags auf die kommenden musikalischen Ereignisse?
Im Vorspiel über Vom Himmel hoch (op. 59/3) z. B. stehen die einzelnen Glieder der rhythmisch markanten Einleitung zu sehr für sich sich und finden nicht zu einer längeren Periode zusammen. Was tänzerisch beschwingt hätte klingen können (und, wie ich meine, müssen), wirkt ruppig und kurzatmig. Nach Einsetzen der Choralmelodie verlangsamt Forsbach bei 0:23 merklich das Tempo, wobei der Eindruck entsteht, als wäre sie nachträglich auf den Gedanken gekommen, zu rasch angefangen zu haben. Bei 4:02 im op. 43 lässt sie die sich rasch bewegende Oberstimme stets kurz auf den in ihre Haltepunkte hineinklingenden Akkord der Unterstimmen warten, was der Stelle den Schwung nimmt. Wenn im Folgenden der Choral einsetzt, lässt sie ihn bei den Luftpausen abrupt abreißen und spielt die raschen Figuren zwischen den Choralzeilen rhythmisch verwaschen. Ähnliches passiert in der ersten Variation der Passacaglia. Die Einleitung von op. 59/7 wird verschleppt, wie generell bei Kadenzen und Halbschlüssen regelmäßig Ritardandi zu hören sind, die weder die Stimmung intensivieren noch formgliedernde Folgerichtigkeit ausstrahlen, sondern lediglich die Musik schwerfällig erscheinen zu lassen. Als Beispiel möge die Kadenz in op. 59/5 ab 5:15 dienen. Über diese Takte, besonders die von Pausen durchsetzten ab 5:29 erstreckt sich schlicht kein Spannungsbogen, der die Wiederkehr des Anfangs als Ziel erwarten lässt. Das harmonisch und kontrapunktisch höchst interessante Trio Nun ruhen alle Wälder gerät zu einem trockenen Notenreferat. Welch ein Spiel beständiger gegenseitiger Anziehung und Abstoßung der innig ineinander verschlungenen Kanonstimmen hätte hier geboten werden können!
Kurzum: Dieses gewiss gut gemeinte Album sollte ein Ansporn sein, Woyrschs exzellente Orgelmusik in Wiedergaben auf CD festzuhalten, die ihrer kompositorischen Qualität besser entsprechen. Wer eine echte Referenzaufnahme dieser Werke wünscht, wird sich also weiterhin in Geduld üben müssen.