IBS IBS122022; EAN: 8 436597 700399
Der venezolanische Pianist Alfredo Ovalles hat in Granada die ersten drei Werke eines – schon jetzt bereits deutlich umfänglicheren – Sonatenzyklus des puerto-ricanischen Komponisten und Ligeti-Schülers Roberto Sierra (*1953) eingespielt. Dazu erklingen noch die – ebenfalls neuen – Piezas íntimas sowie die Aphorisms.
Auf den Namen Roberto Sierra stößt unweigerlich, wer sich mit der Musik György Ligetis beschäftigt. Dieser erwähnte seinen puerto-ricanischen Schüler (von 1979 bis 1982) immer als Überbringer einer Langspielplatten-Rarität aus den 1970ern mit der erstaunlich komplexen Vokalpolyphonie der zentralafrikanischen Aka-Stämme: zusammen mit der mittelalterlichen ars subtilior und fraktaler Geometrie die Initialzündung für Ligetis weitere Entwicklung (Etüden, Klavierkonzert usw.). Ab Mitte der 1980er Jahre hat sich Sierra aber als Komponist selbst einen Namen gemacht und ist seit 1992 Professor an der angesehenen Cornell University in den USA. Obwohl durchaus Anknüpfungspunkte an charakteristische Techniken Ligetis nachweisbar sind – etwa die elaborierten Überlagerungen quasi selbstähnlicher rhythmischer Patterns –, ging Sierra immer eigene Wege, die insbesondere auf lateinamerikanische oder iberische Wurzeln – nicht zuletzt des Barock – zurückgehen. Die oft traditionell anmutenden Titel wie Symphonie (davon gibt es bislang sechs), Sonate etc. haben Kritiker ihm unüberlegt und teils pejorativ das Etikett postmodern oder gar „neoromantisch“ anheften lassen. Dabei wird unterschlagen, dass Sierra die scheinbar alten Formen durchaus neuartig mit Leben zu füllen vermag.
In den ganz neuen Klaviersonaten – die Folge wurde erst 2020 begonnen und umfasst mittlerweile bereits 15 Werke; laut Sierra ohne eine bestimmte Zielvorgabe – versucht der Komponist den „hegemonialen Charakter“ der Vorbilder aus der Wiener Klassik gezielt zu durchbrechen. Hierbei ist allerdings weniger Dekonstruktion im Spiel als vielmehr Nutzung neuer Beziehungen zwischen Struktur und klanglichem „Inhalt“. Da Sierra nicht Tonalität als Basis der Sonatenform nutzt, dienen oft vielfältige rhythmische Elemente, gerade auch aus volkstümlicher Popularmusik (Salsa, Tango, Joropo, Fandango …), symmetrische Skalen und musikalische Gesten als konstituierend. Die erste Sonate – wie die zweite viersätzig – sprüht nur so von südamerikanischen Rhythmen. Die knappere zweite Sonate kombiniert im Finale einen Militärmarsch mit einem Pasodoble, während die dreisätzige dritte Sonate sich vor allem an Modellen andalusischer Musik orientiert, etwa dem Fandango im Kopfsatz oder typischen Melodiefloskeln im Finale. Trotzdem überführt der Komponist mit alldem geschickt die erwartete Erzählstruktur von echten Sonaten in „heutige Alltagsrealität“.
Dass Sierra ebenso gewandt im Umgang mit kleinen – sprich: kurzen – Formen ist, deren Material ja unmittelbar ins Schwarze treffen muss, beweisen die beiden Zyklen der Piezas íntimas von 2017 – 8 Stücke mit einer Durchschnittsdauer von 1–2 Minuten und, bis aufs Extrem konzentriert, die Aphorisms von 2020: Diese 28 Fragmente benötigen gerade mal 12 Minuten.
Das spanische Label IBS bleibt im Booklet – mit persönlichen Einführungen des Komponisten und des Pianisten – der Tradition treu, kein Wort über seine Interpreten zu verlieren. Auf der Seite der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien erfährt man, dass der Venezolaner Alfredo Ovalles (Jahrgang 1986) nach Studien in Caracas und den Vereinigten Staaten schließlich den Weg nach Wien, seiner neuen Wahlheimat, gefunden hat. Er gilt als leidenschaftlicher Spezialist für zeitgenössische Musik und steht seit Jahren mit Roberto Sierra in persönlichem Kontakt. Mit rhythmischer Präzision und immer spürbarer, lateinamerikanischer Verve agiert der Pianist sowohl bei dessen Sonaten als auch Miniaturen souverän, bringt die doch recht komplizierten Strukturen zum Leuchten. Seine manuelle Virtuosität und die Fähigkeit, den Gestus kleinster Partikel musikalisch sofort auf den Punkt zu bringen, können ebenfalls überzeugen. Die dieser Musik innewohnenden, häufig schroffen Gegensätze übertreibt er jedoch, verwechselt bisweilen wilde Akzentuierungen mit klanglicher Barbarei. Im Dynamikbereich von forte aufwärts erscheint sein Spiel zu undifferenziert.
Das wird durch eine in den Ohren des Rezensenten katastrophale Mikrofonierung sogar noch überzeichnet: Selten habe ich bei einer klassischen Soloklavier-Produktion ein in den Bässen derartig wummeriges Klangbild gehört; so als ob ständig die „Loudness“-Taste gedrückt bliebe. Insgesamt ist alles zu hoch ausgesteuert, stellenweise an der Grenze zum Clipping, was nach wenigen Minuten mehr als nervt. Jeder Akzent wird so zum Nadelstich – und dass dies keineswegs nur dem zugegebenermaßen etwas harten Anschlag von Herrn Ovalles geschuldet ist, zeigen z. B. die zahlreichen Glissandi im vierten der Piezas íntimas [Track 08]. So scharf kann ein Steinway dabei gar nicht klingen. Trotzdem darf man sich fragen, ob das vom Interpreten nicht ausdrücklich so gewollt ist. Bei Jazz sind solch direkte Mikrofonierungen nicht unüblich – man denke an manche Soloalben von Keith Jarrett oder Chick Corea. Außerdem hat sich Ovalles intensiv mit der Musik u. a. George Crumbs beschäftigt, der beim Klavier gerne bereits live vorzugsweise präparierte Saiten elektronisch verstärken ließ.
Dass dies freilich ganz anders ginge, zeigt die nur ein halbes Jahr ältere Produktion von Sierras Klavieretüden mit dem Pianisten Matthew Bengtson: Gleiches Label, gleicher Aufnahmeort mit demselben Team (!), lediglich ein anderer Flügel (Shigeru Kawai): akustisch tadellos (s. u.). So versaut bei den Sonaten eine fragwürdige Tontechnik sehr respektable Erstaufnahmen des weiterhin hochinteressant zu werdenden Klavierzyklus‘ eines großartigen Komponisten, der immer wieder mit zeitgemäßen Ideen im Kleid bekannter Formen zu begeistern weiß.
Erwähnte Aufnahme: Sierra: Estudios rítmicos y sonoros, Piezas líricas, Album for the Young – Matthew Bengtson (IBS 72022, 2021)
[Martin Blaumeiser, September 2023]