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[Rezension im Vergleich] Weltbürger und Bettler

Sonus Eterna, 37423; EAN: 4 260398 610045

Masha Dimitrieva spielt ausgewählte Klavierwerke von Gordon Sherwood für Sonus Eterna: Dance Suite op. 67, Sonata quasi una fantasia op. 78, Four Sonatinas op. 27, Sonata for Ariana op. 77 sowie eine Auswahl aus Boogie Canonicus op. 50.

Das Leben von Gordon Sherwood könnte abenteuerlicher, wechselhafter und filmreifer gar nicht gewesen sein. Als Kind erlebte der 1929 geborene Sherwood in einer US-Kadettenanstalt gewaltige Traumata durch Mobbing und Unterdrückung, blühte dann allerdings in dem gegen den Willen seines Vaters eingeschlagenen Musikerberuf voll auf und bewegte sich, unter den Fittichen von Aaron Copland, schnurstracks in Richtung einer internationalen Karriere. Für Studien in Hamburg bei Philipp Jarnach gab er diese allerdings auf, begab sich nach einem weiteren Aufenthalt in den USA nach Rom, wo er seine Studien bei Goffredo Petrassi fortsetzte. Über Kairo und Griechenland ging es mit seiner Frau Ruth, die er in der Hamburger Zeit kennengelernt hatte, nach Nairobi. 1968 brach er dort alles ab, wurde zum dauerhaft Weltreisenden, verdiente sein Geld über lange Phasen als Bettler. Seine letzten Jahre verbrachte Gordon Sherwood größtenteils in Deutschland, hauptsächlich dank Masha Dimitrieva, die inspiriert durch den Film „Der Bettler von Paris“ von Erdmann Wingert und Heiner Silvester Kontakt zum Komponisten suchte und ihn durch ihr Spiel wie durch ihre Persönlichkeit überzeugte, sogar ein Klavierkonzert für sie zu schreiben. Im Mai 2013 verstarb Gordon Sherwood in Oberbayern, hinterließ 143 vollendete und zahllose Skizzen gebliebene Werke.

Gordon Sherwood einem Stil zuzuordnen oder selbst, aus seiner Musik einen Personalstil herauszuarbeiten, gestaltet sich als schier aussichtslose Aufgabe. Charakteristisch für ihn ist lediglich, dass seinen Schaffen keinen verfestigten Stil aufweist. Sherwood war Weltbürger und entsprechend ließ er allen Einflüssen ihren Platz in seinem Schaffen: amerikanische, französische, italienische, deutsche, nah- und fernöstliche Musik, Jazz, Boogie und Blues, Pop und Rock, Volksmusik und beinahe alles andere, was sich wo auch immer musikalisch finden lässt. Als Neuerer verstand sich Sherwood ebenso wenig wie als Traditionalist, er beschritt schlicht und einfach den Weg, der sich für ihn richtig anfühlte. Konventionen, Kompositionsschulen und normative Einengungen ließen ihn dabei kalt. So ließe sich seine Musik vor allem als eines beschreiben: als natürlich und ungezwungen. Auf diese Weise schafft es seine Musik, den Menschen an sich anzusprechen und in sein Innerstes vorzudringen. Vielen dürfte seine Musik zugänglich sein, viele wird sie ansprechen, sofern sie diese erst einmal kennenlernen. Zugleich, das Wissen von drei herausragenden Lehrern im Hinterkopf, auf handwerklich meisterhaftem Niveau gesetzt und stimmungstragend konzipiert, befinden sich diese Werke in ausgeglichener Position zwischen dem einfachen, dem musikalisch gebildeten und dem vollkommen ahnungslosen Hörer.

Überragend ist die musikalische Leistung der aus Russland stammenden wahldeutschen Pianistin Masha Dimitrieva, einstiger Schülerin des legendären Conrad Hansen. Beseelt und lebendig durchschreitet sie all die so grundverschiedenen Stücke dieser CD, von den melancholischen Sonaten über die aufgeweckte Tanzsuite und die teils orientalisch und indisch durchtränkten Sonatinen bis hin zu den swingenden und rockenden, kanonisch vertrackten Boogies. Adäquat zu den Stücken besticht sie mit innerer Ausgewogenheit und Ruhe. Jedem Stück verleiht Masha Dimitrieva das, was dieses spezifisch für eine gelungene Ausführung verlangt, was einen weit geöffneten und vielseitig geprägten Geist voraussetzt. Masha Dimitrievas Spiel erblüht in Feinheit und Liebe zum Detail, was selbst über die unvorteilhafte Aufnahmetechnik locker hinweghilft. In großen Phrasen fließt sie in der Musik und die Musik in ihr, wobei sie stets den Kontext der geschlossenen Form im Visier behält und den Hörer sicher vom ersten bis zum letzten Ton zu geleiten weiß.

[Oliver Fraenzke, Januar 2018]

[Rezensionen im Vergleich] Suggestiv fesselnder Gestalter

Hugo Schuler spielt am 3. Februar im Münchner Freien Musikzentrum

Anlässlich des Erscheinens seiner neuen Doppel-CD mit Bachs Goldbergvariationen und Stücken von Jacob Froberger (1616-1667) und Nachfolgern wie Heinrich Kaminski (1886-1946) oder Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1986) – die Rezensionen sind bei „The-New-Listener“ nachzulesen -, gab der argentinische Pianist Hugo Schuler sein diesjähriges München-Konzert im Freien Musikzentrum. Zwar verirrten sich – wie üblich – nur wenige Leute dorthin, wer aber da war, wurde mit einem schlichtweg grandiosen Musikerlebnis belohnt. Zu Beginn zwei Präludien und Fugen aus Bachs Wohltemperiertem Klavier BWV 858 und BWV 859, dann kam die herrlich dicht geformte Sonate von Reinhard Schwarz-Schilling von 1968, gefolgt von einem Liebeslied des Argentiniers René Vargas Vera: „Sone mi tu me llevabas“. Ohne Pause ging es dann weiter zu einem Impromptu (2006) des zeitgenössischen argentinischen Komponisten Santiago Santero, das einen ganz erstaunlichen Kontrapunkt setzte zu all der bisher gehörten Polyphonie in seiner auf intensivste Klanglichkeit abgestellten Struktur. Nach Kaminskis Präludium und Fuge von 1935 – dieses Meisterwerk feinverästelten Kontrapunkts  zeigte noch einmal sehr eindringlich, welche Möglichkeiten nach Bach im 20. Jahrhundert die Polyphonie einem Komponisten wie Heinrich Kaminski bot! – folgte zum Abschluss die berühmte Bach˚sche Chanconne in der Bearbeitung für die linke Hand von Johannes Brahms, mit suggestiv fesselnder gestalterischer Kraft dargeboten. Keine Zugabe, was allerdings aus vielen Gründen völlig einsichtig war. So ging ein sehr großer Klavierabend zu Ende, der die Hoffnung wachhält auf ein möglichst baldiges Wiedersehen und Wiederhören mit Hugo Schuler – vielleicht in einem diesem Ausnahme-Pianisten adäquateren Raum und in einer Konzertreihe, die ihm entsprechend öffenlichkeitswirksam  unter die Arme greifen kann!

[Ulrich Hermann, Februar 2018]

[Rezensionen im Vergleich] Bach, Vorläufer und Nachfolger

HUGO SCHULER, Piano: Johann Jakob Froberger (1616-1667), Johann Sebastian Bach (1685-1750), Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985), Heinrich Kaminski (1886-1946)

Aldila Records ARCD 007; EAN: 9 003643 980075

hugoschuler

Nachfolger und Vorläufer von Johann Sebastian Bach neben dem eigentlichen Hauptwerk, den Goldberg-Variationen, sind auf dieser Doppel-CD versammelt. Natürlich hatte Bach Vorläufer, einer davon, der große Klavierkomponist Johann Jakob Froberger (1616-67), ist mit seiner Toccata in G FbWV 103 vertreten, ein famoser Einstieg in die Welt der Polyphonie, die ihren Reiz und ihre Potenz ja bis heute unvermindert bewahrt hat. Dann kommt Bach selbst zum ersten Mal zu Wort mit dem Präludium und der Fuge in b-moll BWV 867 aus dem Wohltemperierten Klavier I. Sofort wird der Tonfall der Musik vertrauter, wie bei den anderen Bach’schen Kompositionen auf der ersten CD auch. Denn an dritter Stelle stehen zwei Kompositionen des „Nachfolgers“ Reinhard Schwarz-Schilling (1904-85), der wie selbstverständlich und unüberhörbar an den alten Meister anknüpft. Sein Preludio cantando e fuga und seine ‚Studie über B-A-C-H’ von 1985 – eines seiner letzten und zugleich tiefsten Werke –  verbinden die Bach’sche Polyphonie mit der Klangsprache des 20. Jahrhunderts, wie die Stücke von Schwarz-Schillings Lehrmeister Heinrich Kamiski (1886-1946) ebenso. Beide sind Großmeister sich weit entfaltender Polyphonie im 20. Jahrhundert, und hier mit insgesamt drei Ersteinspielungen vertreten. Natürlich ist der tonale Raum inzwischen bis fast ins „Übertonale“ ausgeweitet, die strengen Formen der auch aus der Renaissance- und Barockzeit entlehnten Tänze und Strukturen zusammen mit der intensivsten Polyphonie geben den Stücken die selbe bezwingende Klanglichkeit wie in den Kompositionen des alten Meisters. Allerdings gehört natürlich dazu: die Fähigkeit und die Möglichkeit, über die Hugo Schuler auf dem Fazioli-Flügel verfügt, all diese Musik fast wie bei einer Erstaufführung erlebbar zu machen.  Sein sehr erhellender Kommentar im ausführlichen Booklet über Struktur und Werden dieser Doppel-CD ist bemerkenswert. Dass ein Pianist so genau über diese Musik und den Zugang dazu Auskunft gibt, ist selten und nicht das kleinste Verdienst dieser Neuerscheinung.

Zu den „Goldberg-Variationen“, die eben nicht auf einem „normalen“ Steinway oder Bösendorfer, sondern auf einem dafür sicher besonders gut geeigneten Fazioli-Flügel erklingen, möchte ich nur sagen: So innig, so ungeheuer musikalisch, so souverän habe ich diesen „Gold-Zyklus“ noch nie auf CD gehört, nein, ohnehin nicht von Martin Stadtfeld auf seiner damals so hochgepriesenen Sony-CD, nein, auch nicht von Glenn Gould, dessen Einspielung sicher auf ihre Art Referenz-Charakter hat und behalten wird, aber so, wie Hugo Schuler diesen Kosmos sich entfalten lässt, mit welcher Ruhe und inneren Gelassenheit sich Thema und Variationen entfalten, wie sowohl Melodik als auch Klang und Struktur hör- und erlebbar werden, das ist einfach nur staunenswert.

Bei seinem Debütkonzert vor einigen Jahren in Deutschland, das ich erleben durfte, fiel mir damals schon auf, wie unprätentiös und hingebungsvoll, ohne irgendwelche falsche Allüre dieser junge argentinische Pianist diese 80 Minuten in einem riesengroßen Bogen nicht nur bewältigte, sondern in aller Klarheit und Emphase gestaltete. Auch auf dieser CD ist davon soviel eingefangen, wie vielleicht überhaut möglich ist, und natürlich freue ich mich schon heute auf Hugo Schulers nächstes Konzert, wo ich diesen wunderbaren Musiker wieder einmal live und leibhaftig hören und erleben darf.

Ulrich Hermann, Januar 2018

Folgende Termine:
03. Februar 2018: Freies Musikzentrum München

[Rezensionen im Vergleich] Abgründe für vier

TYX Art, TXA17090; EAN: 4 250702 800903

Streichquartette des 1945 geborenen Roland Leistner-Mayer spielte das Sojka Quartett für TYX Art ein. Neben dem unbetitelten Fünften Quartett Op. 147 stehen das Sechste Quartett op. 148 „7 untapfere Bagatellen“ und das Siebte Op. 151, das „Ariadne-Quartett“; sie entstammen alle den Jahren 2014-16.

Suchen und Finden eines eigenen Tons, einer individuellen Klangsprache, wurde gerade in der Stilpluralität des 20. Jahrhunderts zu einer zunehmend schwierigen Aufgabe, der sich zahllose Komponisten verweigerten und sich stattdessen herrschenden Strömungen anschlossen, oberflächliche Wirkung über musikalische Substanz stellten und Erfolg in einer Scheinwelt der vorgeblichen „Originalität“ suchten. Ein Widerläufer dieser Haltung ist der in Böhmen geborene Roland Leistner-Mayer, der sich stets fern hielt vom musikalischen Schubladendenken und nach Ursprünglichkeit und Eigenheit strebte. Leistner-Mayer setzte einen Schwerpunkt seines Schaffens auf die Gattung des Streichquartetts, drei in diesem Jahrzehnt entstandene Beiträge bietet vorliegende CD des Sojka Quartetts.

Schwermut durchzieht alle drei Werke, Dunkelheit und Abgründigkeit sind charakteristisch. Leistner-Mayer weiß, den Hörer in bestimmte Stimmungen zu versetzen, in die Tiefe zu ziehen und dort festzuhalten, wie besonders das über sechs Minuten andauernde, finale Presto precipitando aus dem Ariadne-Quartett beweist, welches immer unaufhaltsamer treibend und überwältigender aufbegehrt, ohne einen Moment der Ruhe. Unaufmerksamkeit oder Entspannung sind nicht mit dem Hören dieser Art eruptiver Musik zu vereinbaren. Der Komponist spielt mit Themen, die er lange Zeit auskosten kann und zwischen den Einsätzen der Musiker sich entwickeln lässt, und schroffen Kontrasten, die unvermittelt das Geschehen in neuem Licht erscheinen lassen. Dabei bleibt ein roter Faden durch das gesamte Werk hindurch erhalten und schweißt die Sätze zusammen, gibt eine unmissverständliche Richtung vor. Die Musik macht Sinn – ein heute viel zu selten beachtetes Qualitätskriterium, welches sich nur schwer verbal ergründen, aber sehr wohl erspüren lässt. Die Werke sind tonsprachlich eindeutig ihrem Komponisten zuzuordnen, wiederkehrende Ausdrucksmittel wie langes Tremolieren oder die treibenden rhythmischen Kontraste und Widersetzlichkeiten, die gegeneinander anspielenden Vierer- und Fünferrhythmen, lassen kein Zweifel daran, wer diese Musik geschrieben hat.

Das Sojka Quartett spielt mit großer Passion (im ursprünglichsten Sinn des Wortes) und entfaltet die aufrührende expressive und klangliche Dichte dieser Quartette in symphonischer Fülle. Kantabel und doch knackig fassen die vier Streicher die Musik an. Wünschenswert wäre lediglich noch eine größere Bandbreite an dynamischen Abstufungen, besonders im Pianissimo- und Fortissimobereich, sowie organischere Übergänge zwischen den Extremen, die so oft gefordert werden und in ihrer Gegensätzlichkeit ausgekostet werden sollen. Deutlich sind die einzelnen Stimmen voneinander abzuheben, die Verdopplungen könnten noch mehr als orchestral gesetzte Parallelität verwirklicht werden.

[Oliver Fraenzke, November 2017]

[Rezensionen im Vergleich] Authentische Melancholie

Roland Leistner-Mayer: Streichquartette Nr. 5 op. 147, Nr. 6 ‚Untapfere Bagatellen’ op. 148 & Nr. 7 op. 151 – Sojka Quartet
TyxArt CD TXA 17090; EAN: 4250702800903

Roland Leistner-Mayer, geboren im Februar 1945 zweieinhalb Monate vor Kriegsende im heute tschechischen Grenzort Graslitz im Vogtland und aufgewachsen bei Ingolstadt, studierte ab 1968 in München Komposition bei den lokalen Antipoden Harald Genzmer und Günter Bialas (Genzmer war der Statthalter der neusachlich-freitonalen Hindemith’schen Handwerkstradition, der einstige Max Trapp-Schüler Bialas hingegen bezog auch die freie Zwölftönigkeit in sein Schaffen ein und fürchtete den vielbeschworenen „Beifall von der falschen Seite“ – also von den Reaktionären – bis ans Ende seiner Tage). Zunächst fasziniert von den sensationellen Klangwirkungen der Avantgarde, entdeckte er Mitte der siebziger Jahre seine Liebe zu Leos Janácek (sein erstes Streichquartett ist eine Hommage an den böhmischen Meister) und wandte sich vom blinden Fortschrittsglauben, dem bis heute die meisten etablierten Tonsetzer seiner Generation anhängen, ab. Dies, seinem Gewissen wie seinem innersten Bedürfnis geschuldet, ruinierte allerdings seine Karriere nachhaltig. Fast alle Kritiker und Programmmacher, und auch viele charakter- und urteilsschwache Musiker, die immer zuerst nach rechts und links schauen, ob eine Kunstäußerung auch den allgemeinen Beifall der autorisierten Meinungsbildner erheischt, schließen aus Angst vor dem potenziellen Vorwurf, sie seien altmodischen Ködern auf den Leim gegangen, sowohl Sympathie als auch jegliche objektivierend offene Haltung gegenüber Abtrünnigen bis heute aus. Man könnte ja als „Reaktionär“ gebrandmarkt werden, was zwar harmloser als etwa der unabhängigen Freidenkern allgegenwärtig auflauernde Vorwurf des „Antisemitismus“ ist, aber doch den unsicheren Konjunkturzeitgenossen die Knie zittern lässt. Also gehen sie auf ‚Nummer sicher’ und nehmen lieber ein süßstoffhaltiges Schaumbad im ausrichtungslosen Allerlei der umherirrenden Postmoderne auf der unerfüllbaren Suche nach einer geilen Aufmerksamkeitsspritze – denn welcher seelisch korrupte Töneschmied träumte nicht klammheimlich davon, mal ähnlich skandalös ins Rampenlicht zu geraten wie einst Strawinsky oder Varèse. Auch wenn das Neue heute so ganz woanders liegt als auf der Linie des einst die Bürger dissonanzgeladen Erschreckenden.

Roland Leistner-Mayers Streichquartette Nr. 5-7 entstanden in den Jahren 2014-2016. Sie bestechen vor allem durch die eindringliche Fantasie und den seelischen Reichtum der Harmonien und harmonischen Bezüge. Melodisch liebt Leistner-Mayer narrativ mäandernde Energie, die lange zusammenhängende Stimmungsgebilde ermöglicht. In metrischer Hinsicht verfährt er so einfach wie unmissverständlich und zieht fast immer den Taktwechsel der auch möglichen Verschiebung der Betonung innerhalb des Metrums vor. Dies sorgt für ausgesprochene Prägnanz des Moments und verleiht der Musik eine holzschnittartige Wirkung, zumal auch sein – durchaus handwerklich geschliffener – Kontrapunkt auch eher gemeinsame als gegeneinander versetzte Knotenpunkte des energetischen Verlaufs aufweist. Am schönsten ist seine Musik in jenen langsamen Sätzen, wo er eine maximale Einfachheit zulässt, also auch mit dem Kontrapunktieren sehr sparsam verfährt, wie vor allem im herrlichen ‚Ricordanza’-Larghetto des siebensätzig programmatischen 6. Quartetts. Hier vermag er in der gesanglichen Direktheit der Empfindungsübertragung, fern jeglichen Anflugs von Prätention, den Hörer ganz unmittelbar zu berühren und zu rühren, und erzählt ihm eine so persönlich authentische wie melancholisch hinreißende Geschichte. Leistner-Mayer ist zutiefst Melancholiker, seine Musik spricht eine überwiegend introvertierte, wehmütige Sprache, auch wenn der Gegenpol des ländlich Bukolischen, durchaus auch hemdsärmelig Zupackenden, immer wieder zum Zuge kommt und einen ursprünglichen Humor offenbart. Das ist keine Musik für gebildete Lackaffen, sondern für alle, insofern sie es zulassen können, sich auch intensiv schwermütig anrühren zu lassen. Und Leistner-Mayers Musik ist sehr dramatisch und arbeitet mit klar konturierten Kontrasten, hat ihr charakteristisches Pathos. Hier spricht einer von dem, was er erlebt, und niemals von etwas, das er sich und anderen vorgaukeln würde. Mangel an Ehrlichkeit wird man hier so wenig finden wie die kosmopolitisch glatte Eleganz mancher ganz im Trend liegenden jüngeren Kollegen, und so sehr seine Musik aus der Tradition gewachsen und unverbrüchlich in ihr verankert ist, so wenig lässt er sich auf selbstverliebte Recyclingspielchen mit der Musikgeschichte ein, weder im post-adornitisch gebrochenen noch im neopopulär naivistischen Sinne. Leistner-Mayer schreibt nur das, was ihm wesentlich erscheint, und das spürt man. Wer das mag und sich darauf einlässt, kann eine wohltuende Einfachheit hinter allem expressiven Drängen spüren, und eben – bei aller Abwendung vom modeschmuckträchtigen Glamour – eine Ausgerichtetheit, die ihr Maß aus dem ganz eigenen Bezug zu den Erscheinungen bezieht. Sehr schön sind insbesondere auch die lang gedehnten Entwicklungszüge der beiden anspruchsvollen langsamen Sätze des 7. Quartetts.

Das Sojka Quartet lässt sich ‚mit Leib, Seele und Verstand’ auf diese Musik ein und bezaubert mit angemessener Echtheit des Ausdrucks, agiert auch in sehr heiklen Passagen mit kerniger Kraft und Selbstbewusstsein. Bezüglich der Tempi, zumal der Tempowechsel und vieler agogischer Details bin ich zwar oftmals nicht so glücklich, doch das ist auch ein sehr diffiziles Feld. Auch wird immer wieder der Pianissimo-Bereich hin zu einem bequemeren ‚Mezzo’ nivelliert, was die gesangliche Phrasierung zwar für den Moment vereinfacht, jedoch die formbildenden Gegensätzlichkeiten abschwächt. Aufnahmeklang und der makellos wesentliche Booklettext sind durchaus zufriedenstellend, wenngleich die Graphik nicht gerade Bestnoten für die Leserlichkeit verdient.

[Christoph Schlüren, Dezember 2017]

Romantik pur [Rezensionen im Vergleich]

Felix Draeseke (1835-1913): Quintett op. 77 für 2 Violinen, Viola und 2 Violoncelli; Szene op. 69 für Violine und Klavier; Quintett op. 48 für Violine, Viola, Violoncello, Horn und Klavier

Solistenensemble Berlin (Matthias Wollong, Violine op.69 & 77; Georg Pohle, Horn op. 48; Brigitta Wollenweber, Klavier op. 69 & 48); Breuninger Quartett (Sebastian Breuninger, Violine op.77; Stanley Dodds, Violine op. 77; Annemarie Moorcraft, Viola op.77; David Riniker, Violoncello op.77); Gäste: Felix Schwartz, Viola op.48; Andreas Grünkern, Violoncello op. 48 & 77

CPO, 555 107-2: EAN: 7 61203 51072 6

Mit Franz Schuberts unvergleichlichem Quintett C-Dur kann sich wenig andere Kammermusik messen. Das Quintett op. 77 von Felix Draeseke  (1835-1913) kann es, und zwar sehr eindrucksvoll und überzeugend. Wie viele andere Komponisten auch, ist Felix Draeseke und seine Musik auch heute noch nicht in den Olymp aufgestiegen, in den sie eigentlich längst gehört. Das von Christoph Schlüren verfasste ausführliche Booklet gibt darüber und über die Ursachen umfassend und kenntnisreich Auskunft, so dass wir uns ganz auf die Musik konzentrieren können.  Das knapp über eine halbe Stunde dauernde Streichquintett glänzt – wie das Schubert’sche – mit zwei Celli, was dem gesamten Klang eine fundierte Note gibt.  Die vier Sätze – der erste (langsam und düster), dann das Scherzo (sehr schnell und prickelnd), es folgt der dritte (langsam und getragen) und abschließend der vierte Finale (langsam und düster – rasch und feurig) – überzeugen sowohl durch die intensive Klanglichkeit, die allen fünf Instrumenten eignet, als auch durch die polyphonen und melodisch weittragenden Strukturen. Dass Draeseke sich durchaus – jenseits aller Romantik – auch als Neuerer verstand, beweist seine oftmals kühne Harmonik. Die Uraufführung seines Quintetts fand übrigens 1903 in Basel statt.

Die Szene op. 69 für Violine und Klavier  – kaum 10 Minuten lang – ist von der Besetzung her kein Experiment, aber was in Draesekes Komposition besticht, ist seine melodische Erfindung, seine polyphone Textur in beiden Instrumenten, die dieser Kombination von Geige und Klavier einen ganz eigenen Reiz verleiht. Die Harmonik ist durchaus neutönerisch – entgegen den damaligen „Regeln“ der maßgeblich Unterrichtenden, wofür Draeseke auch dementsprechend angefeindet wurde. Nach seinem „Germania-Marsch“ 1861 war er so verschrien, dass er für 14 Jahre in die Schweiz ins Exil ging.

Die Besetzung des dritten Werks war ursprünglich für Horn und Streichquartett angelegt, aber auf Bitten des Verlegers ersetzte der Komponist die zweite Violine durch eine Klavierstimme, die in dieser Komposition entscheidende Aufgaben – sowohl melodisch als auch harmonisch und klanglich – übernimmt. Die Musik glänzt durch Spielfreude und ausgeprägte melodische und harmonische Attraktivität, was die seltene Besetzung noch unterstreicht.

Ein weiterer Grund, sich anhand dieser Veröffentlichung sehr viel intensiver und näher mit der Musik eines immer noch fast gänzlich Vergessenen zu beschäftigen, ist, dass wenige Komponisten in ihrer Art Melodisches, Polyphones und Kontrapunktisches zu solch meisterlicher Klangsprache und Musik vereint haben wie Felix Draeseke.

[Ulrich Hermann, Juni 2017]

Neben Bruckner und Brahms [Rezensionen im Vergleich]

cpo, 555 107-2; EAN: 7 61203 51072 6

Kammermusik von Felix Draeseke ist auf vorliegender CD von cpo in Kooperation mit Deutschlandradio Kultur zu hören. Sein Streichquintett op. 77 wird dabei vom Breuninger Quartett und Andreas Grünkorn am zweiten Violoncello gespielt, das Quintett op. 48 für Streichtrio, Horn und Klavier bietet das Solistenensemble Berlin dar, auch hier spielt Grünkorn als Cellist mit, an der Bratsche ist Felix Schwartz zu hören. Zwischen den Quartetten ist noch die Scene op. 69 für Violine und Klavier mit Matthias Wollong und Brigitta Wollenweber zu hören.

Es ist beglückend, in letzter Zeit immer neue Einspielungen von Felix Draeseke zu hören. Viel zu lange war es still um den großen deutschen Komponisten, zweifelsohne einen der substanziellsten seiner Periode. Als Zeitgenosse von unter anderen Bruckner und Brahms folgt er keinem vorgegebenen Pfad, sondern schlägt eigene Wege ein, schafft einen einzigartigen „Draeseke-Klang“, der durch eine gewisse Gemessenheit und Schattenhaftigkeit geprägt ist. Seine Musik ist meisterlich gesetzt im komplexen und oft polyphonen Satz, die Struktur brodelt vor Dramatik, seine Themen hingegen sind gerne schweifend und redselig. Obgleich sich eine Vielzahl namhafter Dirigenten, an der Spitze Hans von Bülow, Arthur Nikisch, Ernst von Schuch, Richard Strauss, Hermann Kutzschbach und Hans Pfitzner, für seine Musik einsetzten, geriet Draeseke bald nach seinem Tod in Vergessenheit. Das gleiche Schicksal sollte übrigens auch seinen wohl begabtesten Schüler, Paul Büttner, ereilen, der nach großen Erfolgen aufgrund seiner Ehe zu einer Jüdin in der Zeit der Nationalsozialisten aus den Programmen gestrichen wurde. Aus Draesekes Schülerschaft sind wenigstens Walter Damrosch und Eugen d’Albert, der aber nicht wirklich ein Schüler im engeren Sinn war, als Komponisten zumindest etwas dem Blick der Öffentlichkeit erhalten.

Das Solistenensemble Berlin und Andreas Grünkorn sind mit dem Quintett op. 48 zu hören, welches für die eigenartige Besetzung Violine, Bratsche, Cello, Horn und Klavier geschrieben ist. Bei solch ungewöhnlicher Instrumentierung ist es natürlich nicht möglich, ein solch eingespieltes Ensemble wie ein festes Streichquartett oder -quintett zu finden, doch ist die intensive Einstudierung und das Aufeinandereingestelltsein der Musiker nicht zu überhören. Manchmal ist die Hauptstimme noch allzu dominant im Vordergrund und die Unterstimmen verlieren sich, so dass nicht die gesamte Polyphonie ersichtlich wird. Es überwiegt eine unruhige Hektik, gerade in den beiden ersten Sätzen, über der Ruhe und Lyrik zu kurz kommen. Der letzte Satz besticht mit mehr innerer Haltung. Dessen ungeachtet ist viel Liebe fürs Detail unüberhörbar und die getane Arbeit an solch einem seltenen Stück bemerkenswert.

Die Scene für Violine und Klavier erklingt gebündelter und lässt manchmal auch feine Lyrik durchscheinen.

Reflektiert gestaltet sich das Quintett op. 77, dargeboten durch das Breuninger Quartett, ebenfalls mit Beihilfe von Andreas Grünkorn. Die Musiker sind gut aufeinander eingespielt und können auch das vertikale Geflecht der Harmonik mit Bedeutung erfüllen. Die Unruhe geschieht auf einer viel innerlicheren Ebene als im anderen, früheren Quintett, ein ständiges Brodeln aus dem Untergrund dient als feuriger Motor für die Musik, wobei auch die Entspannung ein wesentliches Element bleibt und Kontraste schafft. Sowohl die Phrasierung der einzelnen Musiker als auch ihr Zusammenwirken geschehen natürlich und ungezwungen.

Herausragend ist der umfangreiche Booklet-Text dieser Einspielung, der auf Leben und Werk flüssig und profund eingeht.

Alle drei dieser Werke sind es wert, ins ständige Kammermusik-Repertoire aufgenommen zu werden. Die hier zu hörende Aufnahme ist die bislang beglückendste dieser Stücke – bei selten gespielten Stücken ist es nur natürlich, dass die Darbietung noch kleine Wünsche offen lässt, und so bleibt zu hoffen, dass die Entdeckung Draesekes weiter voranschreitet und dieser großartige Komponist nach und nach weiter erschlossen und auch endlich im großen Konzertsaal etabliert wird.

[Oliver Fraenzke, Mai 2017]

Nicht unterkühlt [Rezensionen im Vergleich]

FINNLANDS DIRIGENTEN – VESA SIRÉN
Von Sibelius und Schnéevoigt bis Saraste und Salonen

Leskov0008
SCOVENTA 2017; ISBN 978-3-942073-42-4

Ein dicker, fast 1000 Seiten umfassender Wälzer über Finnlands Dirigenten? Wer liest denn so was? Habe ich mich am Anfang auch gefragt, als ich das kiloschwere Werk in der Hand hielt… Aber nach kurzer Lektüre war das gar keine Frage mehr, eher: Wie kann man in der heutigen klassischen Musikwelt ohne die finnische „Übermacht“ an Dirigenten überhaupt so ein Buch nicht schreiben und dann eben auch nicht lesen. Denn dem Autor Vesa Sirén gelingt es nicht nur, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, nein, dieses dicke „Ding“ liest sich ausgesprochen gut und trotz aller Materialfülle erstaunlich flüssig und unterhaltend. Dazu tragen auch die vielen umfassenden Interviews und Statements sowohl der Dirigenten als auch der betroffenen Musiker bei, die dem Ganzen das Akademische oder Langweilige austreiben. Ob man einem, und welchem der vorgestellten Meisterdirigenten man nun den Vorzug gibt, ob den Älteren wie Kajanus, Sibelius oder Schnéevoigt oder den Jüngeren wie Salonen oder Saraste oder den noch Jüngeren wie Oramo, Lintu, Storgårds oder Mälkki, alle werden mit großer Ausführlichkeit und großem Sachverstand vorgestellt, kommen teilweise auch selbst zu Wort und geben dem ganzen Buch eine „undeutsche“ Leichtigkeit, die man sich bei Büchern dieser Art des Öfteren wünscht.

Wer also dem Thema der heute in aller Welt vertretenen finnischen Dirigenten nachspüren will, darüber hinaus einen tiefen Blick in die finnische Mentalität und Art des Vermittelns und Weitergebens erfahren will, der ist mit diesem dicken Buch bestens bedient. Und erfährt unter anderem, warum die Überlegenheit so sich entwickeln konnte, denn Finnland hat nicht allein das beste pädagogische System, was das Schulwesen angeht, wie alle Pisa-Studien seit Jahren zeigen, auch die Musik-Vermittlung ist allen anderen Ländern meilenweit voraus. Warum, diese Frage wird im Buch von Vesa Sirén genauestens beantwortet und zeigt auch, warum nicht nur finnische Dirigenten so begehrt sind: auch finnische Musiker – z. B. hier an deutschen Musikhochschulen – genießen als Lehrer und Musiker einen besonders guten Ruf.

Was läge also näher, als dieses umfassende Buch den entsprechenden Lesern dringend ans Herz zu legen, was hiermit geschehen ist.

[Ulrich Hermann, Juni 2017]

Standardwerk eines Musiktauben zum finnischen Dirigentenphänomen [Rezensionen im Vergleich]

Vesa Sirén: Finnlands Dirigenten. Von Sibelius und Schnéevoigt bis Saraste und Salonen (finnische Erstausgabe von 2010 erweitert, gekürzt und aktualisiert vom Autor und übersetzt von Ritva Katajainen, Benjamin Schweizer und Roman Schatz)

Leskov0008
Scoventa Verlag, 2017; ISBN: 9783942073424

Nichts läge näher und mehr im musikalischen Trend der Zeit, als ein Buch über die Dirigenten (übrigens auch die Komponisten) Finnlands zu schreiben: ein Land mit ca. 5 Millionen Einwohnern produziert mittlerweile mehr international bedeutende Kapellmeister als Deutschland, Österreich, Frankreich, die Schweiz und Italien zusammen. Das ist ein bisschen so, als kämen die alle aus dem Großraum Berlin oder Wien, aus Paris oder Rom… Vesa Sirén, alteingesessener Kritiker bei einer der beiden großen Tageszeitungen in Helsinki und lange schon auf den Fersen der Maestri, hat sich an die Aufgabe gewagt und ein hinsichtlich Informationsmenge und historischer Panoramasicht beeindruckendes Kompendium von fast 1.000 Seiten verfasst. Für alle, die durchblicken wollen beim finnischen Dirigentenphänomen, ist dies ein Standardwerk, und es ist zugleich für jedermann unterhaltsam und in vieler Hinsicht hochinteressant zu lesen. Geschrieben in laienhaft feuilletonistischer Manier, liegt die große Stärke des Buchs in der mühevoll zusammengetragenen Fülle von Originalzitaten, historischen Fakten, Kommentaren von Zeitzeugen (Dirigentenkollegen, Orchestermusiker, Kritiker), was äußerst wertvoll ist, und die biographischen Beschreibungen der Karrieren und Wechselwirkungen.

Also: das Buch lohnt die Anschaffung, wenn man Bescheid wissen und mitreden will, wenn man sich über einzelne Dirigentenpersönlichkeiten kundig machen will (höchst lesenswert sind z. B. die Kapitel über Kajanus, Sibelius, Schnéevoigt, Funtek, Berglund oder Segerstam). Doch zugleich ist es mit Skepsis, mit Vorsicht und Abstand zu lesen. Denn fortwährend beweist Sirén entwaffnend, dass er von Musik so gut wie gar nichts versteht. Peinliche Fehlurteile kommen stapelweise, und die amateurhaft-kompetenzgierige Argumentation bei der Besprechung von Aufnahmen und der Schilderung von Konzerteindrücken zeigt auf Schritt und Tritt, dass nur musikfremde Konventionalität und peinlich einengende Ideologien, Prominenz und das Absichern an vermeintlichem common sense die Grundlage der subjektiven Urteile bilden. Daher wird natürlich Esa-Pekka Salonen in peinlicher Weise vergöttert, und andere – wie Hannu Lintu oder gar John Storgårds – kommen ziemlich bis offenkundig schlecht weg. Dafür gibt es jede Menge Gossip, der Ton des Autors neigt zu verächtlicher Häme, wo der wahrscheinliche Rückschlag sich in Grenzen hält. Sirén ist ein Angeber und Feigling, und im Grunde versteht er wie viele Kritiker schlicht nicht die Grundlagen dessen, wovon er schwadroniert. Anscheinend mangelt es nicht nur hierzulande an verantwortungsbewusst kompetenten Kritikern! Dass John Storgårds’ bahnbrechende Gesamtaufnahme der Sibelius-Symphonien mit dem BBC Philharmonic in einem Satz als „Manchester-Tunke“ herabgewürdigt wird, schlägt dem Fass den Boden aus. Und ein weltweit unübertroffener Meister der Streichorchester-Kultivierung und Pionier substanziellen Repertoires wie Juha Kangas, der Gründer des Ostrobothnian Chamber Orchestra, wird mit hauptstädtischer Ignoranz so nebensächlich und unspezifisch abgehandelt, dass man sich fragen muss, ob die finnischen Meinungsmacher überhaupt etwas von dem mitbekommen, was in ihrem Land abgeht. Das geht so weit, dass Kokkola auf der Karte der wichtigsten finnischen Musikstädte nicht auftaucht. Nein, Vesa Sirén ist entweder ein bösartig schwatzender Manipulateur oder einfach nur musiktaub, ahnungslos autoritätshörig und dumm. Der Kaiser ist nackt. Trotzdem, all dessen eingedenk, ist das Buch zwar oft sehr ärgerlich, aber doch höchst informativ zu lesen. Und es gibt (noch) keine Alternative zu dieser geschickt und flüssig formulierten Fleißarbeit. Und was er nicht beurteilt oder proportional entstellt, also was objektive Tatbestände betrifft, ist dieses schön und solide aufgemachte Buch jetzt die maßgebliche Quelle für den deutschen Leser.

Folgende Dirigenten werden behandelt: Robert Kajanus, Jean Sibelius, Georg Schnéevoigt, Armas Järnefelt, Leo Funtek, Toivo Haapanen, Martti Similä, Tauno Hannikainen, Simon Parmet, Nils-Eric Fougstedt, Jussi Jalas, Paavo Berglund, Jorma Panula, Ulf Söderblom, Leif Segerstam, Okko Kamu, Atso Almila, Esa-Pekka Salonen, Jukka-Pekka Saraste, Osmo Vänskä, Juha Kangas, Sakari Oramo, Mikko Franck, Pertti Pekkanen, Petri Sakari, Ari Rasilainen, Markus Lehtinen, Tuomas Ollila, Tuomas Hannikainen, Hannu Lintu, John Storgårds, Susanna Mälkki, Ralf Gothóni, Olli Mustonen, Jaakko Kuusisto, Pekka Kuusisto, Jari Hämäläinen, Ville Matvejeff, Boris Sirpo, Nikolai van der Pals, Miguel Gómez-Martinez, Muhai Tang, Jean-Jacques Kantorow, Sergiu Comissiona, Leonid Grin, Valery Gergiev, Pietari Inkinen, Dima Slobodeniouk, Santtu-Matias Rouvali

[Annabelle Leskov, Juni 2017]

[Rezensionen im Vergleich:] Ideal für einen Martini mit Eis

Linn Records, AKD 524; EAN: 6 91062 05242 9

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„We’ve Got A World That Swings“ heißt die Duett-CD von Claire Martin und Ray Gelato, erschienen in der Jazzreihe von Linn Records. David Newton spielt das Klavier, am Kontrabass ist Dave Whitford, und die Rhythmussektion wird von Sebastián de Krom übernommen.

Die Jazzaufnahmen von Linn Records stehen fast ausnahmslos für exzellente Qualität und haben immer wieder zum Staunen angeregt – „Just Listen„, dieses Motto von Linn wird tatsächlich Programm. Ein absolutes Highlight des letzten Jahres war zweifelsohne Liane Carrolls „Seaside“, eine der fantastischsten und vielseitigsten heutigen Jazzstimmen in einer der bestabgestimmten und auch instrumental überzeugendsten Aufnahmen. So liegt die Messlatte also hoch für die neue CD von Claire Martin und Ray Gelato.

Die Platte lässt sofort ein typisches Cocktailbar-Feeling aufkommen, die Musik ist leicht und beschwingt ohne großartige Überraschungen oder hochkomplexe Passagen – ideal zum Nebenbeihören. Doch wollen wir uns hier nicht davon hinreißen lassen, die Musik ohne sonderliche Aufmerksamkeit laufen zu lassen, sondern nehmen sie aktiv unter die Lupe. Dabei fällt nun auf, dass eigentlich nichts auffällt: Die Musik ist angenehm und locker zu hören, hat sowohl vom instrumentalen als auch vom gesanglichen Aspekt gute Qualität, doch sticht sie durch absolut gar nichts hervor. Beide Sänger, Claire Martin wie auch Ray Gelato, haben einen überzeugenden Swing und eine absolut klare Textverständlichkeit. Hinsichtlich der klanglichen Schattierungen besticht Martin mehr, sie kann ihre Stimme vielseitiger einsetzen, ein leichtes Hauchen und ein geschickt für besondere Effekte eingesetztes Vibrato zur aktiven Gestaltung der Textvorlage verwenden. Ray Gelato wirkt dagegen etwas statischer, nutzt wenige Dynamikveränderungen und hält den einmal angeschlagenen Tonfall konsequent durch. Wenn sie beide im Duett singen, neigt Ray Gelato zu einem rufenden Tonfall.

Von den Instrumentalisten fällt besonders Dave Whitford am Kontrabass positiv auf, der durchgehend vernehmbar bleibt, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Sein Pizzicato ist treffsicher und von bestechendem Groove, hat einen warmen und abgerundeten Klang, den Whitford auch schwingen lässt, anstatt ihn zu trocken zu nehmen. David Newtons Klavierstimme gestaltet sich harmonisch einfach und verwendet ausschließlich standardisiert typische Skalen, die er in vergnügtem Improvisationsstil auskostet. Alles ist sehr eingängig und locker, und auch er pflegt dynamisch weitgehend ein Einheitslevel, das die gesamte Einspielung und alle Musiker durchzieht und deshalb besonders zum Abschalten und Nebenbeihören einlädt. Für den rhythmischen Swing ist Sebastián de Krom an Drums und Percussion zuständig, eine Aufgabe, die er exzellent ausführt, und damit bis auf wenige besonders schöne Rhythmen vor allem in The Coffee Song keine Aufmerksamkeit zieht.

„We’ve Got A World That Swings“ ist eine grundsolide Platte und für jede Cocktailparty zu empfehlen. Die musikalische Qualität ist durchweg gut, bleibt lediglich durch absolut nichts für längere Zeit als besonderes Erlebnis im Gedächtnis. Viel Spaß also mit dieser locker-flockigen Frühsommer-Veröffentlichung!

[Oliver Fraenzke, Mai 2016]

[Rezensionen im Vergleich:] Unsere Welt Swingt!

We’ve Got A World That Swings

Claire Martin
Ray Gelato

David Newton, Piano
Dave Whitford, Double Bass
Sebastian de Krom, Drums and Percussion

Linn Records AKD 524
6 91062 05242 9

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„Nobody would blame you for asking `Does the world really need an album of duets by Claire Martin an Ray Gelato?“

So der erste Satz im Booklet. Und wenn man dann die Scheibe auflegt, verschwindet diese Frage ins Nichts. Natürlich gibt es überflüssige CDs (ich denk da nur an die mit den vier höchst unmusikalischen Gitarristen, die vor kurzem bei Naxos erschien: Eine Rezension davon bei The New Listener), aber diese ist es bestimmt nicht, so groovy, so swingy, so leicht und locker und jede Silbe verständlich und jeder Song erfüllt. (Warum versteht man bei den meisten klassischen Sängerinnen und Sängern kein Wort, und bei den Jazz- und Popsängern jede Silbe- abgesehen vom Gröhnemeyer oder Lindenberg? Irgendwas läuft da völlig falsch in der klassischen Gesangsausbildung!)

Nicht so bei diesem Gesangsduo, wobei Gelato auch als Saxophonist eine gute Figur macht. Es ist ein Vergnügen, den beiden unverkünstelten Protagonisten zuzuhören und ihren drei musikalischen Partnern. Wobei natürlich  von  „We’ve Got A World That Swings“ über „C’est Si Bon“  bis hin zu „Smack Dab In The Middle“ ein bunter Reigen hinreissender Jazz-Songs ausgebreitet wird, bei dem das MitSwingen zum Vergnügen wird.

Die insgesamt 13 Lieder mit den 46 Minuten Spielzeit sind eine Ohren-Weide und entspannen Leib, Seele und Gehör auf’s Schönste. Absolut empfehlenswert!

[Ulrich Hermann Mai 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Komponistenportrait Juan José Chuquisengo

22. April 2016 20 Uhr im FM Z

Tango – Inka – Lilburn  – Beethoven
Portrait Juan José Chuquisengo

Ottavia Maria Maceratini Klavier

Symphonia Momentum-Quintett
Rebekka Hartmann, Violine
Anna Möllers, Violine
Shasta Ellenbogen, Viola
Nargiza Yusupova, Violoncello
Artem Ter-Minassian, Kontrabass
Juan José Chuquisengo, Dirigent

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Mariano Mores (1918 – 13.4.2016 arr. J.J. Chuquisengo
Taquito militar (Milonga) für Violine und Klavier

Juan José Chuquisengo
Guerrero Andino für Klavier Solo DEA

Juan José Chuquisengo
Tango-Metamorphosen für Streichquintett UA

Douglas Lilburn (1915 -2001)
Three Canzonettas für Violine und Viola (1943/1958)
Duo Nr. 5 für 2 Violinen (1954)

Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur op. 15 (1795)
Arr. Für Klavier und Streicher von Vinzenz Lachner (1811-1893)

Welch ein Abend im ausverkauften, proppevollen Konzertsaal des FMZ! Ein Programm von den Anden über „down under“ bis zum Wienerwald, vom peruanischen, in München lebenden Komponisten und Pianisten Juan José Chuquisengo über den Neuseeländer Douglas Lilburn zurück zum Wiener Altmeister Ludwig van …, was für ein musikalischer Bogen! Sehr temperamentvoll gleich der Beginn mit Mariano Mores’ Milonga für Violine und Klavier, die bei Ottavia Maria Maceratini und Rebekka Hartmann in besten Händen war.
Die Erinnerung an einen außergewöhnlichen Mann in den Anden hatte Juan José Chuquisengo zu seinem Klavierstück Guerrero Andino (Andenkrieger) animiert. Da er selbst ein überragender Pianist ist, war die deutsche Erstaufführung dieser Komposition – sie paraphrasiert frei Stilelemente der indianischen Kultur – über die Verwendung des gesamten Klangspektrums des Flügels angefüllt mit virtuosesten Trillerketten und darunter oder darüber liegenden Melodien.
(Mehr über Ottavia Maria Maceratinis sensationelles Klavierspiel kann man auch bei „The New Listener“ nachlesen über ihr Debut in der Züricher Tonhalle vor wenigen Tagen.)
Jedenfalls meisterte sie die immensen Schwierigkeiten gelassen und bravourös, vom leisesten pianissimo zum auftrumpfendsten Fortississimo ist ihr Ton immer kraftvoll und nie hart. Diese Klavierfantasie hat das Zeug. zu einem der ganz großen Repertoirestücke der neuesten Klavierliteratur zu werden. (Allerdings werden es nur wenige Spieler so spielen können, wie wir es an diesem Abend erleben durften.)

Nach dem KlavierKlangErlebnis war die Bühne frei für die Uraufführung von Juan José Chuquisengos „Tango-Metamorphosen“ für Streichquintett von 2014. Die fünf Streicher des Symphonia Momentum-Streichquintetts unter der Leitung des Komponisten selber hoben das Werk aus der Taufe.
Nach einer kurzen Einleitung der Viola, des Cellos und des Kontrabasses beginnt ein rhythmisch äußerst vertracktes Spiel der Streicher, ab und zu unterbrochen durch sanfte, fast schwebende Passagen. Viele Möglichkeiten zu ungewöhnlichen Klangeffekten – z.B. Schläge auf das Holz der Instrumente oder Kratzgeräusche – wechseln ab mit Ausbrüchen verschiedenster melodiöser und rhythmischer Partikel. Oft duettieren auch die beiden Violinen oder Viola und Cello. Quasi kanonische Einsätze wechseln ab mit homophonen Streicherklängen. Die ursprüngliche Konzeption für Streichorchester hatte der Komponist für Streichquintett bearbeitet. Alle Musiker spielten mit Hingabe und  Begeisterung, und wenn es auch an einigen Stellen dieses irrsinnig schwer zu spielenden Stücks noch nicht ganz perfekt klappte, so war die Energie und Lyrik dieser Tango-Metamorphosen doch mit allen Sinnen zu greifen.
Begeisterter Beifall vor der notwendigen Pause.

Die Kompositionen des Neuseeländers Douglas Lilburn sind bei uns so gut wie unbekannt –  trotz der Feiern zu seinem 100. Geburtstag, die allerdings in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen wurden. Dabei sind sie bei aller scheinbaren Einfachheit sehr ansprechende und zauberhafte Musik. Davon konnte sich das Publikum vor allem bei den drei Canzonettas überzeugen, die Rebekka Hartmann  und Shasta Ellenbogen auf Violine und Viola intensiv und bewegt-bewegend vortrugen.

Nach diesem Ausflug zu den Antipoden kehrten alle Musikerinnen und Musiker mit dem ersten Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven in der Bearbeitung für Klavier und Streicher von Vinzenz Lachner (er war der jüngste der drei Lachner-Brüder) zurück nach Europa. Und wie! Nach einer kurzen Einleitung übernahm Ottavia Maria Maceratini die Führung und alle sechs Ausführenden ließen sich vom Beethoven‘schen Genius zu feuriger und herzbewegender Musizierkunst anregen. Die drei Sätze mit ihrem unentwegten Wechselspiel aus Melodie, Harmonie und tänzerischster Rhythmik, – was ist dieser Komponist doch für ein überragender Melodiker, immer wieder! – flogen vorüber und beschlossen einen Abend der Superlative, den diese Konzertreihe mit einem so ungewöhnlichen wie längst zu erwartenden Publikums-Zuspruch mehr als verdient hat.

[Ulrich Hermann, April 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Den Saal „gerockt“

Anmerkung der Redaktion aufgrund vermehrter Kritik an dem Artikel von Josef Rottweiler:
Rezensionen unserer Autoren müssen in keiner Weise mit der Ansicht der Redaktion übereinstimmen. Die Redaktion von The New Listener lässt ganz bewusst Spielraum für gegensätzliche Standpunkte und zensiert nicht, sondern korrigiert lediglich sachliche Fehler oder stilistische Schwächen.

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Das Freie Musikzentrum total ausverkauft, nichts weniger als überragende musikalische Interpretationen, eine faszinierende Uraufführung eines bis dato unbekannten Komponisten, dem offensichtlich eine Weltkarriere bevorsteht: das Portraitkonzert Juan José Chuquisengo am 22. April gehörte selbst in einer Musikmetropole wie München zu den absoluten Highlights der Saison und stellt so vieles in den Schatten, was die großen Klangkörper wie Philharmoniker, BR-Symphonie-Orchester oder Bayerische Staatsoper zu bieten – ähnlich wie am Abend zuvor das Münchener Kammerorchester unter dem wunderbaren finnischen Maestro John Storgårds, der uns endlich wieder einmal Haydn hören gelehrt hat.

Die erste Hälfte des Konzerts gehörte ganz dem legendären peruanischen Meisterpianisten Juan José Chuquisengo, der in München lebt und wirkt. Fast ganz: zu Beginn erklang ein hinreißendes Arrangement des Peruaners einer musikalischen Kindheitsliebe, des beliebten Taquito militar von Mariano Mores, der genau neun Tage vor diesem Konzert hochbetagt gestorben ist. Dann Ottavia Maria Maceratini, eine Löwin am Grand Piano, und zugleich zu den feinsten Schattierungen in der Lage. Mit feinst differenzierter Stimmungskunst führte sie uns durch die Hochgebirgsweiten von Chuquisengos Guerrero Andino, einer gigantischen Klavier-Rhapsodie zwischen Naturlaut, Volkslied und rassigen rhythmischen Riffs, die höchste pianistische Virtuosität verlangt. Diese erbringt die Maceratini mit stupender Selbstverständlichkeit, doch betören auch ihre Sanftmut und Eleganz der Übergänge. Das neue Werk ist elf Tage zuvor durch sie in Zürich zur Uraufführung gelangt, und man spürt in jedem Ton die tiefe Verbindung und Liebe zur Klangsprache des Komponisten, der trotz aller Befähigung an diesem Abend nicht selbst als Pianist in Erscheinung tritt. Aber dann als Dirigent: Chuquisengo dirigiert das Symphonia Momentum Streichquintett in der Uraufführung seiner Tango-Metamorphosen. Der Stil dieses Werkes ist vollkommen anders als in der Klavier-Rhapsodie mit ihrem vollendeten Schönklang, ihren rauschhaften Aufwallungen. Hier, in diesem in der großen Form so spannenden wie überzeugenden Tango nuevo, tritt eine unerschöpfliche Palette inneren Reichtums ans Tageslicht, von zerreißendem Schmerz und aufreibenden Kämpfen über herrliche Tagträume hin zu schlicht mitreißendem Tango der entschiedensten Sorte. Manchmal scheint gar die Musik über sich selbst hinaus wachsen zu wollen, schwankt zwischen Euphorie und Atemlosigkeit, um plötzlich abzureißen und wieder etwas ganz Anderem Platz zu machen. Großartig, beide Werke in ihrer Art. Man kann nur sagen: ein großer Komponist ist geboren, der schon symbolhaft für die Emanzipation Lateinamerikas stehen wird. Das Publikum reagierte mit jedem Stück begeisterter und war in der Pause völlig „aus dem Häuschen“.

Nach der Pause wurde es zunächst problematischer. Christoph Schlüren, der in den Abend einführte, hatte die Zuhörer schon zuvor mit seinen fast unfreiwillig satirischen Kommentaren genervt, und nun pries er uns einen Komponisten als „groß“, von dem man nur sagen: „des Kaisers neue Kleider“. Wieso lässt man einen so musikalisch unbegabten Menschen so viel reden und uns dann noch simpelste Musik aus Neuseeland, von den „Antipoden“, auftischen, die zwar schön und gut gemacht ist, jedoch einfach nicht aus den Kinderschuhen der einfachsten Tonalität, aufgepeppt mit teilweise ein wenig Kontrapunkt, schlüpfen will. Von Douglas Lilburn hörten wir drei Duos für Geige und Bratsche (von Rebekka Hartmann und Shasta Ellenbogen fantastisch gespielt) und ein Duo für zwei Geigen. Legen wir den Mantel des Schweigens über diese peinlichen Nichtigkeiten, und hoffen wir, dass uns Herr Schlüren mit seinen Privatideologien künftig in der Öffentlichkeit erspart bleibt. Es ist ein bisschen, als wollte er mit seiner sperrigen Idiosynkrasie den Putin der Klassische-Musik-Szene spielen…

Zum Schluss dann Beethovens erstes Klavierkonzert in C-Dur in einer erstaunlich gut funktionierenden Fassung für Klavier und Streicher von Vinzenz Lachner, einem sonst kaum bekannten Romantiker. Dass es so gut funktionierte, lag in erster Linie an dem von Chuquisengo einstudierten Streichquintett, das tatsächlich die Illusion eines wirklichen Orchesters schuf. Man muss lange Zeit zusammen gearbeitet haben (die Musiker spielen seit 2010 zusammen), um eine solche Klasse sowohl musikalischer Interaktion als auch bewusster Interpretation zu erreichen. Obwohl uns auch hier noch einmal Herr Schlüren mit einem Sermon höchst fraglicher Informationen zuschüttete, war die Laune des Publikums angesichts einer denkwürdig hochklassigen Aufführung nicht in Schieflage zu bringen. Ottavia Maria Maceratini erwies sich als eine der besten Musikerinnen unserer Tage, technisch und tonlich auf dem höchsten Stand, der sich denken lässt, und musikalisch mit einer Klarheit und intuitiven Richtigkeit der Auffassung gesegnet, die einfach frappiert. Und doch, so gut, wie das „Orchester“ gespielt hat, ist es fast unanständig, sie besonders hervorzuheben. Primaria Rebekka Hartmann spielte ihre ganze Weltklasse aus, und ich möchte ausdrücklich auch noch die fulminante Cellistin Nargiza Yusupova und den so mutig wie rücksichtsvoll agierenden Kontrabassisten Artem Ter-Minassian nennen. Im Finale haben die Musiker den Saal, der bis zum letzten Platz besetzt war, regelrecht „gerockt“. So etwas – völlig überraschend – Tolles haben wir schon lange nicht gehört. Diese Musiker haben jeden Preis verdient und sollten unbedingt eine Platte machen, die man dann am Ausgang auch kaufen kann. Wie gut das Konzert war, merkte man übrigens auch daran, wie hellwach und berührt das Publikum bis zum Schluss war, und dass nach nicht enden wollendem Anlass kaum Anstalten gemacht wurden, den Saal zu verlassen.

[Josef Rottweiler, April 2016]

[Rezensionen im Vergleich 4b:] Argentinien in München

Hugo Schuler spielt am 31. Januar 2016 im FMZ Bach, Kaminski, Schwarz-Schilling, Canepa und Ginastera

Stellen Sie sich vor: Sie sind ein wirklich überragender Pianist, berühmt im eigenen Land vor allem auch als Bach-Spieler – nämlich ihrem Geburtsland Argentinien, wie Daniel Barenboim oder Martha Argerich eben – und fliegen nach München, um hier ein Konzert zu geben. Und Sie geben dieses Konzert nicht etwa in der Philharmonie oder wenigstens im Herkulessaal, nein, sie spielen im sog. „Festsaal“ des FMZ = Freies Musikzentrum in der Ismaningerstrasse vor wieder einmal einer Handvoll Zuhörerinnen und Zuhörer. Noch dazu ist den meisten Münchnern erst gar nicht bekannt, wo das FMZ überhaupt liegt, jedenfalls ernte ich oft ein Kopfschütteln, wenn ich jemanden danach frage.
Am Fall des Freien Musikzentrums kann man sehen, wie schwer es ist, einen neuen Klassikstandort zu etablieren in einer Stadt, die dem etablierten Starkult frönt und sich selbst genug ist. Da brauchen auch so ausgezeichnete Reihen wie ‚Backstage on Stage’ Jahre, um größere Publikumskreise zu erreichen. Nun, wir werden sehen, ob die Münchner aufwachen…
Doch genug der Klage, da bin ich sicher nicht allein. Zum Konzert selber:

In den vergangenen Jahren hat Hugo Schuler die Goldberg-Variationen oft gespielt, diesmal im ersten Teil ohne die üblichen Wiederholungen, was eine Spieldauer von ca. 40 Minuten bedeutet und eben ermöglichte, eine Pause einzulegen und danach noch ein Kontrastprogram zu bieten. Bei Schulers erstem Auftreten hier in Deutschland 2014 schrieb ich im alten, leider online nicht mehr verfügbaren „The Listener“:
„Völlig uneitel, versunken, intensivst und gleichzeitig mit größter Gelassenheit entfaltete Schuler die einleitende (und abschließende) Aria mit den folgenden 30 „Veränderungen“, wie sie Bach für den Grafen Keyserlink und dessen Cembalisten Goldberg (einen Schüler Bachs und seines Sohnes Friedemann) komponierte.“
Dem ist auch nach der „verkürzten“ Fassung nichts hinzuzufügen, es sei denn, dass Hugo Schuler noch durchdringender, selbstverständlicher – im besten Sinn des Wortes – und durchaus auch noch horchender, singender und entfaltender diesen Kosmos vor uns ausbreitet, dessen Kühnheit – es gibt doch nur diese 88 Tasten, bei Bach noch nicht mal alle – mich jedes Mal aufs Neue überrascht und mitnimmt. Es kommt eben in diesem Universum alles vor vom Leisesten, Melodiösen bis zum Abstrakten, fast Freitonalen. Besonders in der 25. Variation, einem Adagio, glaube ich die Bach’sche Tonsprache auch beim wiederholten Hören nicht zu fassen, so unvermittelt kommen da – gegen jede Erwartung – die Melodietöne in der rechten Hand. Es ist immer wieder unfassbar, welche harmonischen und melodischen Kühnheiten der alte Johann Sebastian aus der Kompositionstasche zieht, auf welche „Irrwege“ er uns dann und wann lockt, die ja für ihn überhaupt keine sind oder waren.
Nach der Pause dann die Fortsetzung mit zwei Kompositionen von Heinrich Kaminski (1886-1946)  – Präludium und Fuge, erschienen 1935 – und seinem einstigen Schüler Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985), die Klaviersonate von 1968.
In beiden Kompositionen wird das polyphone Erbe Bachs deutlich und erkennbar, neben einem strömenden musikalischen Fließen, wo natürlich die Errungenschaften der Musik des 20. Jahrhunderts im Ausdruck und im Charakter hinzukommen. Auch diese Musik ließ Hugo Schuler in all ihrer Größe und klanglichen Farbigkeit entstehen – es wird auch bald bei Aldilà Records Schulers Debüt-CD mit den Goldberg-Variationen und diesen Werken erscheinen.
Zum Abschluss zwei Stücke argentinischer Komponisten. Der erste Julio Canepa, ein Zeitgenosse, geboren 1940, schrieb drei Klavierstücke nach einem Bilderzyklus mit einem Boot, die sehr impulsiv und expressiv waren, besonders den unteren Teil der Klaviatur betonend.
Die „Danzas argentinas“ von 1937 – drei Tänze des großen argentinischen Komponisten Alberto Ginastera (1916-1983) – bildeten den temperamentvollen Abschluss und zeigten Hugo Schuler von seiner anderen Seite, die nicht nur dem Publikum, sondern auch ihm selber ersichtlichen Spaß machte. So bleibt nur zu hoffen, dass die Karriere des jungen argentinischen Pianisten ihn auch hier in München bald wieder einmal in einem repräsentativeren Rahmen dem großen Publikum erlebbar macht. Drücken wir ihm und uns die Daumen!

[Ulrich Hermann, Februar 2016]

[Rezensionen im Vergleich 3c] Über das unergründliche Leben von Jean Sibelius

ISBN: 978-3-89487-941-9 (Henschel), 978-3-7618-2371-2 (Bärenreiter)

Die zweite Buchpublikation von Volker Tarnow führt den Leser zu Finnlands bekanntestem Komponisten Jean Sibelius. Auf 288 Seiten erläutert der Autor für Henschel Bärenreiter das lange und vielseitige Leben des Nationalkomponisten, gibt Einblicke in dessen Werk und verschafft einen Überblick über das aktuelle Zeitgeschehen.

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Zweifelsohne gehört Jean Sibelius zu den besonders unergründlichen Komponistengenies sowohl des späten 19. als auch des 20. Jahrhunderts. Das lange Leben des Komponisten, vom 8. Dezember 1865, vor exakt 150 Jahren, bis zu seinem Tod am 20. September 1957, ist uns bis heute in vielerlei Hinsicht ein großes Rätsel voller Unklarheiten und Spekulationen. Wie beginnt die musikalische Laufbahn von Johan Julius Christian Sibelius, der später nur noch Jean oder Janne genannt wird, bis er plötzlich seinen monumentalen Kullervo ans Licht der Welt bringt? Wieso verwirft er diesen Koloss direkt wieder und lässt ihn bis nach seinem Lebensende in Vergessenheit geraten? Welch einen starken Wandel vollzieht seine Musik und markiert ist jede der sieben Symphonien einen von Grund auf vollkommen neuen Stil? Wieso vernichtet er schließlich seine achte Symphonie und warum veröffentlicht er Jahrzehnte lang nicht ein einziges weiteres Werk? Diesen Fragen über das gewaltige Schaffen des Nationalhelden und vielen weiteren um unter anderem Leben, Gewohnheiten, Familie, Ängste oder Zwänge widmet sich Volker Tarnow in seiner neu erschienenen Biografie „Sibelius“.

Tarnow gliedert sein Buch in neun Kapitel, die für ihn die verschiedenen Lebensabschnitte charakterisieren mit den Titeln „Das klassische Niemandsland“, „Aus dem wird was“, „Karelische Träume“, „Freiheit für Finnland!“, „Sinfonie des Südens“, „Innere Stimmen“, „Thors Hammer“, „Die Schatten werden länger“ und „Beredtes Schweigen“. Auch wenn diese Einteilung nicht direkt auf sein kompositorisches Schaffen abgestimmt erscheint, ergibt sich hier doch eine gewisse Stringenz und Sinnhaftigkeit dieser Ordnung, die sein Leben von frühester Kindheit unter Einbezug seiner familiären Geschichte bis zu der langen Schaffenshemmung zum Ende seines Lebens umfasst.

Volker Tarnow schreibt in einem äußerst flüssig lesbaren Stil, seine Wortwahl ist fein abgestimmt und von hohem feuilletonistischen Wert, wird dabei zu keiner Zeit unverständlich oder übermäßig elitär. In dieser Schreibart, die seine langjährige Erfahrung im Bereich des Musikjournalismus widerspiegelt, ist immer wieder Platz für gut angebrachten Charme und Humor, so dass der Leser ein um’s andre Mal ins Schmunzeln gerät angesichts der trefflichen Formulierung. An vielen Stellen gelingen sprunghafte Übergänge von einem Thema zu einem anderen, wo dies als Erläuterung für Folgendes von Nöten ist, ohne dass diese Sprünge sonderlich auffallen, womit eine gute Durchgängigkeit des Leseflusses gewahrt wird trotz wechselhaft beschrittenen Stoffgebiets.

Es steckt eine enorme Recherchearbeit in dieser Biografie, was schnell ins Auge fällt. Nicht nur, dass Volker Tarnow eine ungeheure Menge an Informationen über das Leben und Wirken von Jean Sibelius in seine Biografie packen konnte, sondern auch über alles drum herum. Politische Entwicklung, Verbindungen zu etlichen anderen Künstlern seiner Zeit und interessante Hintergrundinformationen finden ebenso ihren Platz. Besonders eingegangen wird unter anderem auf die Geschichte Finnlands, dessen Erlangung der Unabhängigkeit und die Kriege, die Sibelius miterleben musste. Von des Meisters Gewohnheiten interessiert sich Volker Tarnow vor allem für seinen gehobenen Lebensstil, der besonders in Form von Alkohol und Zigarren einen roten Faden durch die gesamte Schaffenszeit des Komponisten zieht, sowie seinen ewigen Drang zum Reisen und die damit verbundene Vernachlässigung seiner familiären Pflichten. Besonders spannend für den Leser ist, dass Tarnow neben den großen Hauptwerken auch auf die vielen eher unbekannten Stücke von Jean Sibelius eingeht, die normalerweise nicht im Konzertsaal zu hören sind, besonders auch auf die frühen Werke aus Studienzeiten. Somit ergibt sich ein erzählerisches Kontinuum in der Frage um den Stil Sibelius‘, was anhand der großen Werke alleine unmöglich darzustellen wäre.

Eine inhaltliche Schwäche der Biografie sind hingegen die Erklärungen musiktheoretischer Grundlagen: Der Autor scheint nicht davon auszugehen, dass der Leser Begriffe wie „Sonatenhauptsatz“ oder „Sinfonie“ kennt und versucht, diese möglichst ohne Voraussetzung irgendwelchen Grundwissens zu beschreiben. Doch diese Erläuterungen misslingen teils phänomenal, weder darf der Eingeweihte hier komplette Richtigkeit der genannten Regelfälle erwarten, noch sind sie für einen Unwissenden wirklich verständlich. Der Sinn dieser teils seitenlangen Definitionen ist höchst fragwürdig, denn diese schränken ganz nebenbei auch die Zielgruppe erheblich ein: Eine Biografie, die so minutiös auf Details eingeht und solche geballte Informationshäufung liefert, wird üblicherweise von Musikinteressierten mit Vorwissen gelesen, denen musikalische Grundbegriffe bereits geläufig sind, die jedenfalls eine Einführung in allgemeine Musiklehre nicht lesen wollen. Diejenigen, die eine solche brauchen würden, werden mit konventionellen Erörterungen ohne Blick auf die dahinterliegenden Prinzipien abgespeist.

Ein zweiter Punkt, der bedauerlicherweise immer wieder die Freude an der Ausführlichkeit und Wortgewandtheit zu trüben vermag, ist die Tendenz, andere Komponisten aus seinem näheren und ferneren Umfeld ständig mit Sibelius zu vergleichen. Während Sibelius immer wieder in alle Himmel gelobt und stets mit Superlativen gerühmt wird, ergeht es vielen anderen herausragenden Musikern hier recht schlecht und sie werden entweder klischeeüberladen in eine Schublade mit Aufschriften wie „komponiert nur in Mundart“ gesteckt oder als unwichtige „Helferleinchen“ des großen Finnen abgestempelt. In einer sachlichen Biografie haben solche Rangordnungsaufstellungen (selbstverständlich mit dem titelgebenden Komponisten als alle übertrumpfende Lichtgestalt) eigentlich nichts verloren und lassen das ein oder andere Mal am Willen zur Objektivität erheblich zweifeln.

Ungeachtet dieser beiden unerquicklichen, da unnötigen und nicht zweckdienlichen Mängel liegt hier eine wirklich hervorragende Biographie vor, die einen tiefen und engagiert persönlichen Zugang zu Jean Sibelius vermittelt. Viel bisher komplett unbeachtetes Wissenswertes floss in Volker Tarnows Werk ein und gibt umfassend und breit gefächert sowohl einen großen Überblick als auch minutiöse Detailauskunft über den großen Finnen. Viele ungeklärte Fragen erhalten einen plausiblen Lösungsansatz, woran Forschung in Zukunft sicherlich gewinnbringend anknüpfen kann. Das letzte Wort zu solch einem Menschen und Komponisten kann wohl nie gesprochen werden, doch anlässlich des Jubiläums sind hier viele Dinge niedergeschrieben, die auch eingefleischte Sibelius-Kenner noch mit einigem Wissen über diesen grandiosen Menschen bereichern können.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2015]