In einem Programm von hohem Repertoirewert präsentieren Christoph Schlüren und das Orquestra Simfònica Camera Musicae Musik von Johann Sebastian Bach, Reinhard Schwarz-Schilling, Wolfgang Amadeus Mozart, Giorgio Federico Ghedini, Douglas Lilburn und Paul Büttner, überwiegend für Streichorchester. Als Solisten treten die Flötistin Raquele Magalhães und der Geiger Joel Bardolet hinzu.
„Resurrection“ ist das neue Album von Christoph Schlüren am Pult des katalanischen Orquestra Simfònica Camera Musicae (bzw. seit 2021 Franz-Schubert-Philharmonie) benannt, und was hier „aufersteht“, ist die Musik wenig bekannter, sorgsam ausgewählter Komponisten des 20. Jahrhunderts. So werden im Rahmen eines auch dramaturgisch sehr schlüssigen (Konzert-) Programms Werke (in der Regel für oder mit Streichorchester) von Paul Büttner, Reinhard Schwarz-Schilling, Giorgio Federico Ghedini und Douglas Lilburn den „Klassikern“ Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart gegenübergestellt. Es geht also gerade nicht darum, vermeintliches „Nischenrepertoire“ einzuspielen, sondern ein Plädoyer für den Wert der Musik all dieser Meister abzulegen und sie in exemplarischer Manier zusammen mit den Größen des Repertoires zu präsentieren. Dabei handelt es sich bei nahezu allen hier versammelten Werken um Bearbeitungen.
So steht gleich am Beginn als kleine „Ouvertüre“ eine Einrichtung von Johann Sebastian Bachs Fuge g-moll BWV 578 für Streichorchester durch Lucian Beschiu. Diese Wahl ist insofern charakteristisch, als dass kontrapunktisch geprägte Werke stets ein Markstein von Schlürens Programmen sind, und außerdem handelt es sich bei G um so etwas wie den Zentralton des vorliegenden Albums (nur die Werke von Schwarz-Schilling und Mozart stehen nicht in irgendeiner Weise „in G“). Hervorragend die Transparenz der Darbietung und die sorgfältige Gewichtung der einzelnen Stimmen, ausgezeichnet artikuliert vorgetragen (wie gleich zu Beginn bei der ersten Präsentation des Themas zu beobachten), auch im Sinne der Vitalität und Spielfreude, die diesem kleinen Stück zu eigen sind.
Deutsche Musik der Nachkriegszeit ist lange äußerst avantgarde-dominiert rezipiert worden, was aber die Bandbreite dessen, was in diesen Jahrzehnten tatsächlich komponiert worden ist, in keiner Weise zutreffend widerspiegelt. Unter den überhaupt nicht wenigen Komponisten, die nicht mit der Tonalität brachen, ist Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985), Schüler von Braunfels und Heinrich Kaminski, eine signifikante Erscheinung. Seine „kanonische Choralbearbeitung“ der Passionsmelodie Da Jesus an dem Kreuze stund für Orgel (bzw. Flöte, Violine und Orgel) entstand zwischen 1936 und 1942. Für die vorliegende Aufnahme hat wiederum Beschiu sie für Flöte, Violine und Streichorchester eingerichtet, wobei der erste Abschnitt den Streichern, der zweite den beiden Soloinstrumenten mit Bass vorbehalten ist und erst der letzte alle Stimmen vereint. Aufbauend auf barocken und vorbarocken Modellen (man beachte namentlich die starke modale Färbung der Musik) erschafft Schwarz-Schilling eine gemessene, verinnerlichte, aber doch sehr expressive Klagemusik in gedeckten Farben. Die Flötistin Raquele Magalhães und der Konzertmeister des OSCM, Joel Bardolet, liefern gemeinsam mit den Streichern eine ungemein beseelte, die weiten, kunstvoll miteinander verflochtenen melodischen Linien dieser Musik vorzüglich nachvollziehende Interpretation.
Bardolet erlebt man anschließend noch einmal als Solisten in einem weiteren Bach-Arrangement. Bekanntlich sind Bachs Werke oftmals nicht in ihren Erstfassungen überliefert, sondern in der Form, wie sie uns vorliegen, Bearbeitungen und Neuzusammenstellungen, die Bach selbst in späteren Jahren vorgenommen hat. Im Falle seines Klavierkonzerts f-moll BWV 1056 etwa gilt als gesichert, dass wenigstens der erste Satz ursprünglich einem nicht erhaltenen Violinkonzert entstammte, und so findet sich hier eine Einrichtung des gesamten Konzerts für Violine und Streicher, nun in g-moll. In den Ecksätzen betonen Bardolet, Schlüren und ihre Mitstreiter die polyphonen Strukturen wie gleich zu Beginn die durch die Stimmen laufende Dreitonfigur oder später immer wieder ausgesprochen expressiv herausgearbeitete Nebenstimmen in den Solopassagen. Ganz im Fokus steht der Solist im langsamen Satz, wo Bardolet der außerordentlichen Kantabilität des Soloparts (nicht umsonst stammt dieser Satz vermutlich aus einer verschollenen Kantate) eindrucksvoll Rechnung trägt, mit leichten agogischen Freiheiten, die aber niemals den Fluss der Musik stören, und nota bene in einem echten Largo-Tempo, das dem wundervollen Melos dieser Musik wahrhaft Zeit zum Sich-Entfalten gibt.
Mit Wolfgang Amadeus Mozarts Fantasie f-moll KV 608 folgt nach Schwarz-Schilling faktisch eine zweite Trauermusik, denn wie auch ihr Schwesterwerk KV 594 ist dieses Werk für das Mausoleum Gideon Ernst von Laudons entstanden, was auch die für uns gewiss erst einmal kurios erscheinende Originalbesetzung für ein mechanisches Musikinstrument erklärt. Ein hochexpressives, chromatisch gefärbtes spätes Meisterwerk von reicher Polyphonie, von dem es etliche Bearbeitungen gibt, die das Werk für den Konzertsaal „retten“, so etwa die vorliegende für Streichorchester von Edwin Fischer. Die ausgeprägte Kontrapunktik der Fantasie ist natürlich ein Fest für Schlüren und seine Mitstreiter, die die komplexen Strukturen mit großer Umsicht und gestalterischer Stringenz realisieren, geprägt von ernster, gravitätischer, würdevoller Expression, unter Verzicht auf jedwede Manierismen, die Binnenspannung (auch in der Harmonik) exzellent nachvollziehend, mit viel Richtung und Präzision. Wenn hier etwas noch besonders hervorzuheben ist, dann die geradezu dramatische Wucht, die der Schluss in dieser Einspielung entfaltet, auch durch ein leichtes, wohldosiertes Anziehen des Tempos.
Im Programm folgt ein kleines Intermezzo aus zwei kurzen Stücken, das Raquele Magalhães gewidmet ist. Noch vor etwa 15 Jahren sah es auf dem Tonträgermarkt in Sachen Giorgio Federico Ghedini (1892–1965) eher dürftig aus, und auch wenn sich die Situation mittlerweile erfreulicherweise etwas gebessert hat, dürfte der Name dieses italienischen Meisters nach wie vor eher wenigen Musikfreunden geläufig sein. Dabei ist seine Musik von bemerkenswerter Originalität, hervorstechend insbesondere ihr eminenter Klangsinn, der aber nicht vom Impressionismus kommt, nicht vielfarbig schillert, sondern ihren „demone sonore“, wie er auch genannt worden ist, eher auf Kargheit und Reduktion gründet: man höre etwa die kristalline Klarheit der langsamen Passagen oder den aufregend schrägen, zwischen Archaik und Moderne pendelnden Schlusshymnus seiner Architetture (für Orchester). Auf dieser CD nimmt Ghedini von der Besetzung her eine Sonderstellung ein, da von ihm ein Stück für Flöte solo ausgewählt wurde (zugleich das einzige Werk auf diesem Album, das im Original gespielt wird), und zwar mit Canto, o della solitudine das dritte seiner 1962 entstandenen Tre pezzi per Flauto solo. Hier kommt Magalhães’ Kunst des Flötenspiels exemplarisch zum Zuge; eine famose Darbietung, die die weit aufblühenden Linien dieses Stücks ebenso wunderbar realisiert wie seine Momente des Zögerns, des Stockens, all dies auch klanglich sehr fein differenziert.
Klassische Musik in Neuseeland ist wesentlich mit dem Namen Douglas Lilburn (1915–2001) verbunden, hier vertreten mit seiner Canzona Nr. 1, 1943 ursprünglich als Schauspielmusik entstanden, 1980 dann etwas erweitert und hier in einer Fassung für Altflöte und Streicher von Lucian Beschiu eingespielt. Im Rahmen dieses Programms knüpft diese kleine „Aria“ stimmig etwa an Schwarz-Schillings Choralbearbeitung oder den Mittelsatz von Bachs Konzert an, wobei die barocke Inspiration durch einen leicht archaischen, fast rituell anmutenden Einschlag ergänzt wird, mit sparsam, aber sehr präzise eingesetzten Mitteln viel Atmosphäre erzeugend. Das Dämmerlicht dieses kleinen Stimmungsbilds korrespondiert vorzüglich mit dem betörenden Ton von Magalhães’ Altflöte.
Am Schluss des Programms steht das 1916 entstandene Streichquartett g-moll des Dresdners Paul Büttner (1870–1943) in einer Streichorchesterfassung von Schlüren selbst. Büttner war ein Schüler Draesekes; seinen Durchbruch als Komponist erlebte er 1915 mit der Uraufführung seiner Dritten Sinfonie im Leipziger Gewandhaus unter der Leitung von Nikisch. Sozialdemokrat und in der Arbeiterbewegung engagiert, wurde er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten aller Ämter enthoben. Nach dem Krieg wurde sein Schaffen bis zu einem gewissen Grad in der DDR gepflegt und seine Vierte Sinfonie auf Schallplatte eingespielt, wodurch er in Westdeutschland wiederum mit dem Etikett „DDR-Komponist“ in Verbindung gebracht wurde, was faktisch bis zum heutigen Tag Vorbehalte mit sich bringt (sodass einiges an großartiger Musik aus dem Osten nach wie vor weitgehend ignoriert wird).
Büttner ist ein Komponist in der Tradition der deutschen Romantik, ähnlich wie Draeseke zwischen Brahms und Bruckner stehend, aber auch an älterer Musik interessiert. Und so mutet das Hauptthema des ersten Satzes mit seiner kontinuierlichen Achtelbegleitung durchaus klassizistisch an, ganz ähnlich übrigens wie das verwandte erste Thema des ersten Satzes der Zweiten Sinfonie von Leo Spies (müßig, hier über eventuelle Einflüsse zu spekulieren). Hieraus entwickelt sich ein dramatisch geschärftes, mit aufbegehrend-heroischen Gesten arbeitendes, kontrapunktisch geprägtes Sonatenallegro. Nach diesem „Ersten Hauptstück“ wird im „Ersten Zwischenspiel“ ein leicht pastoral anmutendes, laut Partitur „sinnig hingleitendes“ Stimmungsbild angedeutet, das dabei aber wiederum ausgesprochen polyphon gearbeitet ist. Der dezidiert folkloristische Tonfall der ersten Takte des folgenden Scherzos täuscht, denn was sich hieraus entwickelt, ist ein phantastischer Ritt, der sein Material (chromatisch) verfremdet, mit weiten Glissandi geradezu persifliert und sich insofern tatsächlich als der angekündigte „Zweite Hauptteil“ erweist. An vierter Stelle steht der wohl schon längst erwartete langsame Satz, allerdings im reduzierteren Rahmen eines choralartigen „Zweiten Zwischenspiels“, eines Moments „andächtig versunkenen“ Innehaltens. Der „Dritte Hauptteil“, das Finale, beginnt in größter Entschlossenheit mit scharfen Punktierungen und einem Thema à la hongroise, kombiniert mit Reminiszenzen an die vergangenen Sätze. Überraschenderweise kommt das Werk kurz vor Ende noch einmal gänzlich zur Ruhe mit einem kontrapunktisch geprägten Abschnitt, der sich bei näherem Hinschauen als eine Widmung an Büttners Frau Eva entpuppt. Erst danach kommt es wirklich zu einer effektvollen finalen Zuspitzung nebst Wendung nach Dur in beinahe letzter Sekunde.
Schon die Ersteinspielung von Büttners konziser, kontrapunktisch geprägter (bzw. inspirierter) Triosonate für Streichtrio bei Aldilà Records vor einigen Jahren ließ erkennen, dass die epische Breite und meisterhafte Beherrschung der großen Form der Vierten Sinfonie nicht notwendigerweise Rückschlüsse auf Büttners übriges Schaffen erlaubt. Und so ist auch das Quartett wiederum keine Kammerversion der Sinfonie, sondern ein ein Werk, das seine eigenen Wege geht, die sich oft genug als anders entpuppen als der Hörer vielleicht zunächst vermutet, und das sich insofern immer wieder (spielerisch) über Erwartungen und Konventionen hinwegsetzt. Es ist Schlüren und seinem katalanischen Orchester hoch anzurechnen, dieses Stück nun erstmals in einer Einspielung (noch dazu in dieser Qualität) zugänglich gemacht zu haben.
Hervorragend wie üblich Schlürens Begleittext, der Werke und Komponisten (sinnvoll gewichtet) ausführlich vorstellt und dem Hörer allerlei Beachtenswertes an die Hand gibt; sehr aufschlussreich auch (als eine Art Blick „hinter die Kulissen“) die Informationen zur Genese des Programms. Summa summarum einmal mehr ein erstklassiges, sehr verdienstvolles Album.
Auf dem Album Resurrection spielt das Orchestra Simfònica Camera Musicae unter der Leitung von Christoph Schlüren Werke von Johann Sebastian Bach, Reinhard Schwarz-Schilling, Wolfgang Amadeus Mozart, Giorgio Federico Ghedini, Douglas Lilburn, Paul Büttner. Als Solisten sind Joel Bardolet (Violine) und Raquele Magalhães (Flöte) zu hören.
Im Laufe der vergangenen Monate hat Aldilà Records kurz hintereinander drei Alben veröffentlicht, auf denen Christoph Schlüren als Dirigent zu erleben ist. Bei allen handelt es sich um Mitschnitte von Konzerten, zum Teil ergänzt durch „Studio-Live“-Aufnahmen, also quasi-konzertante Aufführungen ohne Publikum nach dem eigentlichen Konzertereignis. Die CD Quintessence, die ein Konzert der Symphonia Momentum in Lehrberg dokumentiert, vereint drei Werke für fünfstimmiges Streichorchester: Felix Mendelssohn Bartholdys Introduktion und Fuge (auch Streichersymphonie Nr. 13 genannt), Reinhard Schwarz-Schillings Bitten (die Bearbeitung eines A-cappella-Chorwerks), und Anton Bruckners Streichquintett in Schlürens Einrichtung für Streichorchester. Mit Zodiac erschien Schlürens erste Doppel-CD als Leiter eines großen Symphonieorchesters. Neben Arvo Pärts Festina lente und dem Adagio aus Benedetto Marcellos Oboenkonzert d-Moll enthält sie als Hauptwerk die Symphonie Nr. 3 von Martin Scherber, deren Uraufführung hier zugleich festgehalten ist. Wie im Falle von Zodiac, ist auch auf dem dritten Album Resurrection das katalanische Orchestra Simfònica Camera Musicae zu hören, nun allerdings in reiner Streicherbesetzung.
Resurrection basiert auf einem Konzert, das im Juli 2021 in Tarragona stattfand. Ganz wie man es von Schlüren kennt, wird man als Zuhörer auf einen Streifzug durch verschiedene Epochen und Stile mitgenommen. Im Gegensatz zu Quintessence, wo das konsequente Festhalten an einer Besetzung das Programm bestimmt, tritt das Streichorchester hier in Dialog mit zwei Solisten: dem Geiger Joel Bardolet und der Flötistin Raquele Magalhães. Die Vortragsfolge ist dabei so aufgebaut, dass Anfang, Mitte und Abschluss von einem Werk für Streichorchester allein bestritten werden; dazwischen erklingen jeweils zwei Kompositionen, in denen die Solisten zu hören sind. In Hinsicht auf die Entstehungsdaten der Werke lässt sich der Verlauf des Programms durchaus als sinusartig bezeichnen. In der Mitte steht Wolfgang Amadé Mozarts Fantasie f-Moll KV 608, in seinem Todesjahr 1791 für eine mechanische Orgel komponiert und im 20. Jahrhundert von Edwin Fischer für Streicher gesetzt. Ihr voran gehen zwei Werke Johann Sebastian Bachs, die Orgelfuge g-Moll BWV 578 und das durch Rücktranskription aus dem Cembalokonzert BWV 1056 gewonnene Violinkonzert g-Moll, die ein Werk Reinhard Schwarz-Schillings einrahmen: Da Jesus an dem Kreuze stund, eine 1942 vollendete kanonische Choralfantasie für Orgel mit Melodieinstrumenten ad libitum, hier als Streicherwerk mit Violine und Flöte aufgeführt. In der zweiten Hälfte der CD dünnt sich zunächst das Klangbild aus: Mit Giorgio Federico Ghedinis Canto, o della solitudine für Flöte solo (1962) erklingt das einzige Stück des Programms, das in seiner originalen Gestalt zu hören ist. In Douglas Lilburns Canzona Nr. 1, kommen die Streicher wieder hinzu, um die Flöte mit Pizzicato-Bässen und dezenten Arco-Linien zu begleiten. Die hier gespielte Fassung des Stücks wurde von Lucian Besciu erarbeitet, der auch die Bachsche Fuge und Schwarz-Schillings Choralbearbeitung transkribiert hat. Er kombinierte dabei zwei vom Komponisten selbst stammende Versionen: die Erstfassung für Violine und Viola von 1943 und die Überarbeitung von 1980 für Streichorchester. Wie in der ersten Fassung spielt ein einzelnes Instrument die Melodie (hier die Flöte), wie in der zweiten bildet ein Streichensemble das klangliche Fundament. Krönender Abschluss des Albums ist Paul Büttners Streichquartett g-Moll aus dem Jahr 1916, das mit dieser Aufnahme überhaupt erstmals auf CD gelangt – das Album ist offenbar vor allem wegen dieser Pioniertat Resurrection benannt. Von Christoph Schlüren für Streichorchester eingerichtet, erklang es als Streichersymphonie zum ersten Mal 2017 in Neuß.
Beim Hören dieser CD fällt sofort auf, wie sehr sich der Klang des Streichorchesters im Verlauf des Programms verändert. Die deutlichen stilistischen Unterschiede der Kompositionen finden ihren Widerhall in ihrer klanglichen Umsetzung. So werden die beiden Bach-Stücke sehr leichtfüßig und agil vorgetragen. Mit athletischem Schwung bewegen sich die Sechzehntelketten der Fuge, doch auch dem Gesang der breiteren Gegenstimmen wird Genüge getan. Dieser Bach funkelt wahrlich hell! Unmittelbar anschließend wird der imaginäre Raum in Dunkel gehüllt: In Schwarz-Schillings Da Jesus an dem Kreuze stund geben die Streicher plötzlich Klänge von sich, die in ihrer kernigen Innigkeit an ein altes, hölzernes Orgelpositiv gemahnen. Mit Joel Bardolet und Raquele Magalhães hat Christoph Schlüren zwei Solisten gefunden, die sich wunderbar in dieses Farbenspiel einfügen. Bei Schwarz-Schillings sind sie gewissermaßen die Lichtstrahlen im gotischen Kirchenraum. Bardolet, den man von einer früheren Aldilà-Produktion (German Counterpoint) her bereits als exzellenten Kammermusiker kennt, erfüllt danach in Bachs Violinkonzert seine Stimme mit Anmut und langem Atem. Im Adagio vergisst er nirgends, dass seine Kantilenen von den Orchesterbässen gestützt werden, und in den Ecksätzen ist er dem Orchester ein anspornender primus inter pares. Raquele Magalhães ist eine Ausnahmeflötistin, die man getrost zu den ganz großen Meistern ihres Instruments rechnen darf. Selten hört man die Flöte derart menschlich, mit all den feinen Schattierungen, wie sie der menschlichen Stimme gegeben sind! Ganz auf sich allein gestellt, entfaltet Magalhães in Ghedinis Canto eine fesselnde Klangrede, die durch zahlreiche Atempausen gegliedert, aber nicht unterbrochen wird, wobei sie ihre farbenreiche Tongebung klug einsetzt, um die Spannung zu halten. Ebenso aus dem Vollen schöpft sie in der Darbietung der Lilburnschen Canzona auf der Altflöte, wobei dieses liedhafte Stück – ein Juwel schlichter Schönheit, das durchaus Ohrwurmqualität besitzt – ihrer „sängerischen“ Begabung besonders entgegenkommt. Die Stücke Ghedinis und Lilburns bilden als Monodie und instrumentales Arioso den Ruhepol der CD. Geschickt sind sie hinter ein Werk Mozarts platziert worden, das zu dessen exzessivsten kontrapunktischen Arbeiten gehört. Schlüren lässt das Orchester in der Fantasie KV 608 wuchtiger klingen als in den Bach-Stücken, wie gleich in den Einleitungstakten nach Art französischer Ouvertüren deutlich wird. Die beiden Allegro-Teile zu Beginn und am Schluss werden langsamer gespielt als in allen anderen mir bekannten Aufführungen des Werkes. Bezugspunkte für diese Tempowahl sind offensichtlich die darin enthaltenen Fugen, deren lebhafte Kontrapunkte sorgfältigst phrasiert dargeboten werden. Dadurch verhindert der Dirigent den Eindruck mechanischen Abspulens, der namentlich bei zu hastiger Aufführung des Schlussteils aufkommen kann. Das zentrale Andante, ein Variationssatz, klingt zart und gesanglich – nicht nur in den Violinen, sondern in allen Stimmen: Mozarts herrliche Polyphonie darf auch hier aufblühen.
Mit Paul Büttner ist man am Ende bei einem der großen deutschen Symphoniker des frühen 20. Jahrhunderts angelangt, einem Meister des opulenten Orchesterklangs, der zugleich – als Schüler Felix Draesekes – einer der geistvollsten Kontrapunktiker seiner Generation gewesen ist (man höre diesbezüglich einmal seine ganz aus Kanons bestehende Triosonate für Streichtrio!). Büttners Streichquartett g-Moll dauert etwas mehr als eine halbe Stunde und gliedert sich in fünf Sätze: Ein zentrales Scherzo wird von zwei langsamen Interludien umrahmt, diese wiederum von einem ausgedehnten Allegro-Kopfsatz und einem lebhaften Finale. Letzteres ist eine Art Rondo, das in seinen Zwischenteilen auf Themen der früheren Sätze zurückgreift und auch einen langsamen Doppelkanon über das Thema E-F-A (eine versteckte Widmung an Büttners Ehefrau) enthält. Das Quartett ist durchaus kein verkapptes Orchesterwerk – Büttner wirft nicht mit Doppelgriffen und Tremoli um sich und schreibt kaum homophon-flächig –, doch geht durch das ganze Stück ein Zug ins Große, der es mehr als rechtfertigt, es in chorischer Besetzung aufzuführen. Das Orchestra Simfònica Camera Musicae widmet sich hingebungsvoll der Ausgestaltung jedes einzelnen Moments, und tatsächlich meint man ständig, im Streicherklang versteckte Holzbläser, Hörner, Trompeten, Posaunen zu hören. Wer wissen will, wie man mit einem monochronen Klangkörper ein Maximum an Differenziertheit erzeugen kann, der findet hier ein vorzügliches Beispiel. Zum stillen Höhepunkt des Ganzen gerät das zweite Interludium – es ist keine bloße Floskel, wenn man angesichts dessen von einem Streicherchor spricht.
Ein sehr umfangreicher Einführungstext aus Christoph Schlürens Feder, der nicht nur viele interessante Fakten zur Entstehung der einzelnen Werke, sondern vor allem wertvolle Einsichten bezüglich ihrer Aufführung enthält, rundet diese wunderbare Produktion ab, die jedem Freund kultivierten Musizierens wärmstens empfohlen werden kann.
Mit der Symphonia Momentum hat der Dirigent Christoph Schlüren die CD Quintessence vorgelegt, auf der fünfstimmig angelegte Werke versammelt sind, so die Streichersymphonie Nr. 13 von Felix Mendelssohn Bartholdy, die für Streichorchester eingerichteten Bitten aus Über die Schwelle von Reinhard Schwarz-Schilling, bearbeitet von Lucian Beschiu, sowie das Hauptwerk dieser CD, das Streichquintett von Anton Bruckner, für Streichorchester eingerichtet von Christoph Schlüren.
Der ausgiebige, der CD beigegebenen und vom Dirigenten verfassten Text informiert über alle Aspekte der Werke in einer Tiefe, die weit über das gängige hinausgeht; dies verdient besondere Erwähnung, weil wir zunächst lesen, und später hören, wie umfassend die Einsicht von Christoph Schlüren in die Werke, die Gattung des Streichquintetts sowie die Problematik der Bearbeitungen von Kammermusikwerken für Streichorchester ist.
Der größte Eingriff findet da meist durch die Hinzufügung einer Oktave unterhalb des Cellos durch den Kontrabass statt. Die dadurch entstehende Bassoktave erzeugt durch die veränderte Obertonreihe einen neuen Klangreichtum für die oberen Stimmen, der sorgfältig behandelt werden will. Dies ist auf dieser Aufnahme durchweg gut gelungen, auch wenn die untere Oktave manchmal nicht als Klangeinheit, sondern als zwei parallele Klänge erscheint, was dem Gesamtklang hier und da etwas Wärme, also möglichen Reichtum, nimmt. Ansonsten wurden die Stimmen in ihren üblichen Proportionen zueinander hervorragend besetzt. Letztlich ist dieses Detail jedoch nicht entscheidend für die Beurteilung dieser Aufnahme, da der Klang, wie er eigentlich war, im Nachhinein ohnehin nur unzureichend beurteilt werden kann – eine Aufnahme ist und bleibt eben eine Art Photographie eines musikalischen Ereignisses, das einmal stattgefunden hat.
Wenden wir uns also den wirklich wesentlichen Dingen zu, für die im Booklet mit einem Zitat von Werner Oehlmann zum Werk „Bitten“ anlässlich dessen Uraufführung im Jahr 1975 folgende Worte zu lesen sind:
„Unsere Musik ist säkularisiert, sie beschäftigt sich mit den Realitäten der Erde, den Leiden der Menschheit, den Fragen der Gesellschaft, mit der Not, Angst und Hässlichkeit des Lebens, dem der Tod ein Ende setzt. Hier klingt ein anderer Ton… Diese Musik leistet, was die eigenste … Aufgabe der Musik ist: sie verbürgt die Wirklichkeit der Transzendenz.“
Wenn man die vorliegende Aufnahme im Ganzen mit wenigen Worten charakterisieren möchte, so durch diese. Denn zum Gelingen der Wiedergabe von Musik gehört nach der spezifischen Qualität einer Komposition die entsprechende Ausführung, nenne man sie adaequat, kongenial oder finde man noch eine andere Bezeichnung, es tut nichts zur Sache: diese Aufnahme leistet die Verwirklichung der zu Gehör gebrachten Partituren.
Sie tut dies, gleichwohl, hier und da auf eigenwillige Weise. Der klar strukturierte Kontrapunkt bei Mendelssohn lässt wohl etwas Wärme vermissen, jedoch in keinem Augenblick die Klarheit der Stimmführung, und die Artikulation der Einleitung bedient sich in der Tongebung etwas zu sehr an der Manier der Alte-Musik-Praxis. Die Akustik des Raumes tut ihr Übriges, es durchweht die gesamte Aufnahme eine Kühle, die diese Ästhetik stärker hervortreten lässt als notwendig, da sie die bestechende Eigentlichkeit der Darbietung stellenweise in den Hintergrund treten lässt, obwohl diese eine geistige Präsenz besitzt, wie man sie sich nur wünschen kann.
Das berückend schöne und innerliche Werk Bitten aus Über die Schwelle ist eigentlich ein Chorsatz, eine Motette, deren Tonsatz hier ohne den Text wirken muss, was auch vortrefflich gelingt – oder besser gesagt: zutiefst gelingt angesichts der inneren Ruhe und Tiefe dieses einzigartig-eigentümlichen Werkes und seiner Ausführung. Schwarz-Schilling ist aus dem Kaminski-Kreis der durch innere Schönheit seines Werkes hervorstechende Komponist und ein weiteres der unzähligen beklagenswerten Beispiele für eine musikalische Epoche, die durch die kulturelle Weltkatastrophe der Nazi-Zeit und des 2. Weltkrieges nicht zu ihrer vollen Blüte und Entfaltung kommen konnte.
(Dem Dirigenten Christoph Schlüren ist hier, das sei nebenbei angemerkt, vieles an Wiederentdeckung und Erhellung zu verdanken, er gräbt tief und schaufelt mit viel Elan die jungen Vergessensschichten über Kompositionen hinweg, über die die eiligen Zeiten hinweggestürmt sind; wie dies im Übrigen auch Intendanzen und Dirigenten der institutionalisierten Orchester machen sollten. Es ist zweifellos ein ungeheures Manko im Konzertbetrieb, denn das Publikum unbekannte Werke auf diesem Niveau entdecken zu lassen wäre eine ernstzunehmende Alternative zur fortschreitenden Popularisierung des ewigen Kanons der Symphonik und seiner Protagonistinnen und Protagonisten).
Das Herz dieser Aufnahme ist nun das monumentale Streichquintett von Anton Bruckner. Vorweggenommen, gelingt diese Darstellung des Werkes im Ganzen auf schönste Weise, so dass sich die symphonische Dimension des Werkes entfaltet. Christoph Schlüren wählt im sehr gelungenen ersten Satz ein ruhiges Tempo wie vorgegeben, klanglich transparent und im Ausdruck innig, der Augenblick so schön wie der musikalische ruhig dahinfließende Fluss, und auch wenn er ein eingezeichnetes „Langsam“ einmal übergeht, und auch einmal eine Pausenfermate etwas zu lange hält, ein späteres „Langsamer“ nicht ganz organisch entstehen lässt, ist die Entwicklung des inneren Dramas der Musik konsistent und lässt die Form des Satzes entstehen, getragen von der Schönheit des Augenblicks und von einer nahezu perfekt intonierenden Symphonia Momentum.
Was im ersten Satz noch gut funktioniert, erweist sich im zweiten Satz, dem Scherzo, als nicht so förderlich. Von Bruckner mit „Schnell“ überschrieben, wählt Schlüren ein sehr gemächliches Ländler-Tempo, das an sich seinen Charme hat und hier und da ein wenig Dvorak’sche Farben aufscheinen lässt, die man dort eigentlich nicht vermutet hätte. Der Kontrast zum zweiten Gedanken des Satzes, „quasi Andante“ überschrieben, fällt dadurch weniger stark aus, als dies möglich und wünschenswert wäre – auch in der 5. Symphonie von Bruckner gibt es einen solchen formbildenden Tempokontrast im Scherzo; erscheint er jedoch so zart aus wie bei dieser Aufnahme, bleibt die Musik abermals mehr dem schönen Augenblick verhaftet, anstatt eine symphonische Perspektive, die alle vorgeschriebenen Tempoveränderungen berücksichtigt, in diesem Satz zu fördern. Scherzi dieser Art sind jedoch, wie auch gewisse Menuette von Haydn, durchaus elastisch und verschiedenen Tempoauffassungen zugänglich, wie eine berühmte Anekdote aus dessen Leben belegt, als er eine Gruppe von Wirtshausmusikern in der Frage eines Menuett-Tempos mit den Worten beruhigte: „Wenn man danach tanzen kann, ist es auch gut“. Aber nochmals: die gewählte Tempodisposition steht zwar der Geschlossenheit der Gesamterscheinung des Satzes im Wege, nicht aber der augenblicksverhafteten Schönheit des Musizierens, und das ist auch etwas.
Ist das Streichquintett von Bruckner das Herz dieser Veröffentlichung, so ist das Adagio das Herz des Quintetts. Nicht umsonst ist dieser Satz, der die Kammermusik auf wirklich symphonische Dimensionen hebt, schon immer der gewesen, der aus dem Verbund der anderen Sätze gelöst wurde und als Streichorchesterstück für sich alleine stehen kann.
Was wir von langsamen Sätzen der Symphonien von Bruckner lieben, ist auch in diesem Satz vorhanden. Diese Liebe ist dem Dirigat von Christoph Schlüren anzumerken, sein Sinn für Breite im Tempo, der Wille zu zelebrierter Langsamkeit entfaltet sich hier auf das Schönste, die Geduld, die es braucht, die einzelnen Phrasen und musikalischen Gedanken sich entwickeln zu lassen, ist vorbildhaft, da hier das langsame Tempo sehr natürlich schreitet. Ein wenig ist aber auch hier der Wunsch Vater des Gedankens, als am Beginn der Wille zum langsamen Tempo per se obsiegt über das Wunder, das entstünde, wenn das Tempo am Beginn nur eine Spur fließender wäre. Man möge den Rezensenten des Beckmessertums zeihen, aber es muss darauf hingewiesen werden, dass es keinen musikalischen Grund außer dem der nur zu verständlichen Verliebtheit in die möglichst breite Langsamkeit an sich gibt, das erste Thema bei seinem ersten Erscheinen in einem sehr langsamen Tempo zu spielen und bei der Rückkehr des Themas (könträr zur Angabe „früheres Zeitmaß“) deutlich fließender. Hier gibt es eine fehlende Konsistenz, deren Richtigstellung vielleicht eine Überraschung verbergen würde, nämlich die Einheit der musikalischen Bewegung des ganzen Satzes wie er von Bruckner als Ganzes geschaffen wurde.
Schlüren schafft allerdings das Kunststück, mittels abermals großer Schönheit und Konzentation im musikalischen Moment, und wie in allen anderen Sätzen mittels Klarheit der Stimmführung, über diese kaum merklich fehlende Kohärenz hinwegzuhelfen, wofür ihm ein Kompliment nicht verwehrt werden kann.
Welche leisen Unstimmigkeiten die vorherigen Sätze denn auch gehabt haben mögen, sind von solchen fast keine mehr im Finale zu finden. Die Verhältnisse der Themen und Stimmen zueinander, in Ausdruck und Klarheit, im Atem der Bewegung, im im höchsten Grade einfachen und direkten Musizieren der Stimmen miteinander, erscheinen wie sie kaum logischer und klarer denkbar sind. Warum aber am Ende einer offen bleibenden Phrase aus drei Vierteln Pause eine Kunstpause, ja eine Fermate machen? Es unterbricht den Fluss, der im Finale doch noch selbstverständlicher strömt als in den vorherigen Sätzen, wo man als Hörer ansonsten beglückt daran teilhaben kann, dass Orchester, Dirigent und Komponist in Meisterschaft zu einer vollkommenen Einheit gefunden haben.
Es wäre interessant, wenn ein dirigentischer Kopf vom Niveau von Christoph Schlüren auf diese ganz kleinen persönlichen Freiheiten verzichtete – ob das Ergebnis dann nicht noch schöner und noch richtiger wäre? Denn schön und richtig ist es, was wir auf dieser Aufnahme hören dürfen. Denn hier klingt ein anderer Ton.
Ein reichhaltiges Programm aus bekannten wie unbekannten Werken und eine die kompositorischen Feinheiten der Musik tief ausleuchtende, hingebungsvolle Umsetzung zeichnen die beiden Alben aus, mit denen der Dirigent Christoph Schlüren bislang in Erscheinung getreten ist. Nach Symphonia Momentum/Declamatory Counterpoint (2010) und Die Kunst der Fuge (2020) veröffentlicht Aldilà Records nun drei weitere Alben Schlürens, die zwischen 2019 und 2022 aufgenommen wurden: Resurrection (Johann Sebastian Bach, Reinhard Schwarz-Schilling, Wolfgang Amadeus Mozart, Giorgio Federico Ghedini, Douglas Lilburn, Paul Büttner), Quintessence (Felix Mendelssohn Bartholdy, Reinhard Schwarz-Schilling, Anton Bruckner) und Zodiac (Arvo Pärt, Alessandro Marcello, Martin Scherber). Im Zuge dieser Projekte wurde am 1. Dezember 2019 in Barcelona die 1955 vollendete Dritte Symphonie von Martin Scherber erstmals öffentlich gespielt. The New Listener sprach mit Christoph Schlüren über seine neuen CDs und ihre Hintergründe. Das Interview führte Norbert Florian Schuck.
TNL: An Ihren drei neuen CDs fällt auf, dass sie alle ein Motto haben: Quintessence, Resurrection, Zodiac. Die jeweiligen Programme sind alle musikgeschichtlich und zum Teil auch geographisch weit gespannt. Welche Gedanken leiten Sie bei der Zusammenstellung Ihrer Programme?
CS: Solches Vorgehen liegt natürlich fernab der klassischen Tonträgertradition. Normalerweise wünschen die Händler, dass sie die Tonträger gut in ihren Regalen einsortieren können, und deswegen ist es ihnen recht, wenn die CD nur einem einzelnen Komponisten gewidmet ist, oder wenn sie sich auf ein bestimmtes Genre konzentriert. So kenne ich es natürlich auch von früher. Als Jugendlicher hatte ich Platten mit Tartini oder Vivaldi oder Bach oder Mussorgskij, und es gab Mischungen: italienische Violinkonzerte oder Klaviermusik der Romantik, und so weiter. Ich habe mich dann auch in einem bestimmten Alter sehr für Musik interessiert, die außerhalb des klassischen Bereichs liegt, für Fusion und Progressive Rock, wie man das heute nennt, und da fand ich diese Idee des Konzeptalbums großartig. Das heißt, dass man im ursprünglichen Sinn des Worts „komponieren“ etwas schafft, in dem Sinne, dass es als eine zusammenhängende Sache zusammengestellt ist. Und diese Idee, dass man ein Album vielleicht wie eine Reise konzipiert, mit der Grundidee, dass man von Anfang bis Ende zuhört und eine Gesamtdramaturgie verfolgt, die dann auch das Wiederhören zu einem sinnvollen Akt macht, diese Idee hat mich von Anfang an, schon beim allerersten Album, geleitet, und ebenso bei der Zusammenstellung der Konzertprogramme. Es sollen Bezüge entstehen, es soll Kontraste geben, die die unterschiedlichen Charaktere umso deutlicher hervortreten lassen, und das Ganze soll einen Weg zurücklegen, der auch als Weg interessant ist und nicht nur eine Folge von nacheinander gespielten Stücken darstellt. Es ist ja nie so gedacht gewesen, dass man etwa alle späten Klavierstücke von Brahms hintereinander spielt, oder alle vier Symphonien von Schumann. Natürlich kann man das tun, mich hat es aber mehr interessiert, aus dem Wechselspiel der unterschiedlichen Welten etwas Neues zu schaffen.
Es handelt sich übrigens eigentlich nicht um ein ‚Motto‘, sondern um eine nachträgliche Verbalisierung dessen, was auf der Suche nach den passenden musikalischen Elementen letzten Endes das Ganze am treffendsten umschreibt – so wie Debussy seine Préludes benannte, nachdem er sie komponiert hatte. Da sind dann plötzlich die „Hügel von Anacapri“ daraus geworden, aber sie sind das ja nicht von vornherein gewesen. Genauso bei Schumann, ähnlich bei vielen weiteren großen Komponisten.
Die Titel sind nicht als Programm gedacht. Ich habe einen Namen gesucht, nachdem wir die Stücke in dieses Wechselverhältnis zueinander gebracht hatten. Und der Name ist auf verschiedene Weise entstanden. Am Ende beschreibt er gar nicht das Programm. „Resurrection“ bezieht sich ganz primär auf Paul Büttner, dessen „Auferstehung“ – und so kann man es nur sagen – im deutschsprachigen Raum überfällig ist. In anderen Ländern handelt es sich gar nicht um eine „Resurrection“, sondern überhaupt um die Erweckung dieser Musik, die dort erst entdeckt werden muss. Büttner ist ja ein absoluter Spezialfall. Die beiden Hochs seiner Bekanntheit fielen jeweils in eine Zeit, in der Deutschland isoliert war: Zuerst die große Karriere während des Ersten Weltkriegs, die mit dem Ende des Krieges abbrach, da dann die ganze neue Strömung hoch kam – für viele Komponisten war damals ihre erfolgreiche Zeit zu Ende –; und zum anderen eine Karriere postum in der DDR, vor allen Dingen angeregt durch die intensive Tätigkeit seiner Witwe, aber auch weil die DDR den Komponisten als Repräsentanten haben wollte, obwohl er gar nichts mit der DDR zu tun hatte. In Deutschland ist also „Resurrection“ zutreffend, ansonsten ist Büttner überhaupt erst eine „Discovery“.
Der Titel des Albums Quintessence bezieht sich ganz einfach auf die real vorhandene Fünfstimmigkeit der Stücke, wie sie bei Mendelssohn und bei Bruckner auch maximal ausgenutzt wird. Bei Schwarz-Schilling ist es eher eine Verschmelzung der Stimmen, nicht so viel Kontrapunkt, obwohl er ja ein großer Kontrapunktiker ist. Dafür ist er in der Resurrection mit Da Jesus an dem Kreuze stund dabei. Natürlich hat dieses Stück auch eine Konnotation zur Auferstehung, was auch zur Wahl des Titels dieser CD beigetragen hat. Aber man darf das nicht intellektuell zu ernst nehmen, dann gerät man in die Irre.
Der Titel des dritten Albums Zodiac bezieht sich auf das Hauptwerk, die Dritte Symphonie von Martin Scherber. Wir haben dieses Werk uraufgeführt, aber zweiteingespielt. Bei der ersten Einspielung ist das Programm hinter dieser Musik gar nicht gesehen worden und am Produzenten, am Dirigenten, an allen Mitwirkenden vorbeigegangen. So bezieht sich der Titel auch darauf, dass wir es überhaupt erst als „Zodiak“, als Tierkreis, herausgebracht haben – vorher war es scheinbar nichts weiter als eine einsätzige Symphonie ohne bewusste Untergliederung.
Ja, so erklären sich die die Titel. Als „Mottos“ würde ich sie nicht bezeichnen. Meine Vorliebe zu solchen Titeln hat mit meiner Vergangenheit zu tun, mit einer sehr starken Neigung zu King Crimson, Univers Zero und ähnlichen Gruppen. Es ist ein ganz toller Zug dieser nichtklassischen Musik, die natürlich fürs Album konzipiert ist und nicht fürs Notenheft, dass die Musiker zusehen müssen, den Hörer mitzunehmen und ihn durch ein Programm hindurchzuführen. Sie müssen eine Idee von Anfang bis Ende entwickeln. Den Hörer bloß mit Repertoire zu versorgen, reicht nicht. Das Programm wird als eine schöpferische Aufgabe angesehen, gewissermaßen als lebendiger Zusammenhang, der als solcher von Anfang bis Ende gehört wird.
Nahezu alle Ihre Aufnahmen sind Konzertmitschnitte: Was unterscheidet einen Konzertmitschnitt von einer Studioaufnahme?
„Nahezu alle“ ist eigentlich übertrieben. Beim Scherber haben wir die Studioaufnahme zusammen mit dem Konzertmitschnitt auf zwei CDs herausgebracht. Der Unterschied besteht darin, dass die Studioaufnahme am Tag nach dem Konzert gemacht wurde. Die einzelnen 12 Teile dieser Zodiak-Symphonie wurden alle zweimal durchgespielt und dann an einigen Stellen eine minimale Nachkorrektur vorgenommen. Das ist, was andere „Studio Live“ nennen, was aber meines Erachtens eine gute Art ist, Studioaufnahmen zu machen: eben nicht Stückchen für Stückchen durch das Stück zu pflügen sondern, nachdem man das Stück durchgespielt und eine klare Vorstellung davon entwickelt hat, die Studioaufnahme in möglichst langen Zusammenhängen zu erstellen. Ich will nicht, dass wir Aufnahmen machen, wie das normalerweise üblich ist: Bei Produktionen von unbekanntem Repertoire kommt man meist ins Studio, hat vielleicht eine Probe hinter sich und nimmt dann einfach auf, Stück für Stück, bis man durch ist. Wir wollen, dass jeder versteht, was er da spielt. Wir proben wie für ein Konzert, dann spielen wir ein Konzert, wo alles im Zusammenhang erlebt werden kann, und danach gehen wir ins Studio und machen aufgrund der Erfahrung dieses Konzerts die Aufnahme als musikalisch zusammenhängende Sache, und eben nicht als etwas Stück für Stück aneinander Gereihtes. Wir haben einmal erfahren, wie sich das Ende auf den Anfang bezieht – oder wie auch immer man das ausdrücken kann – und dabei die gesamte Dynamik dieser Form erfahren. Danach nehmen wir auf. So sollten alle diese Aufnahmen sein.
Eine solche Aufnahme kostet viel mehr Geld als eine Studioaufnahme, bei der man sich einfach für zwei oder drei, maximal vier Tage hinsetzt und von Anfang bis Ende in kleinen Abschnitten aufnimmt, bis es eben notenmäßig stimmt. Hier aber ist ein ganz anderer Prozess angestoßen – und natürlich führt er auch zu einem ganz anderen Resultat, das viel mehr in die Tiefe gehen kann, das viel mehr aus dem verstehenden Musizieren heraus entstanden ist. „Verstehend“ meine ich nicht im Sinne von „intellektuellem“ Verstehen, sondern als ein begreifendes, erkennendes Musizieren, aus dem heraus etwas Organisches entsteht. Das ist natürlich etwas ganz anderes als wenn wir beim Aufnehmen Stückchen für Stückchen aneinander reihen würden. Das eine ist rein materialistisch gesprochen in Ordnung, das andere ist eine Sache, angesichts derer man sagen muss: Ja, Kunst ist nicht nur ein Materialanhäufungsprozess, sondern auch ein Prozess der geistigen Durchdringung eines erlebten Ganzen. Das dann in idealstmöglicher Weise zu dokumentieren, ist die Idee. Und das kostet uns dann eben eine Woche an Proben, zumal, wenn es sich um ein komplexes Programm handelt. Dazu suchen wir natürlich auch Menschen – und haben sie auch zum Teil gefunden –, die sagen: Ich möchte das mittragen, ich möchte das unterstützen, das ist mir ein Anliegen, dass Aufnahmen in dieser nicht nur materialmäßigen sondern tatsächlich im tiefen Sinne musikalischen Qualität erscheinen können. Ein Livemitschnitt ist freilich ideal, weil er tatsächlich eine Konzertsituation dokumentiert, aber wenn wir wirklich verstanden haben, was wir musizieren, dann ist für den Hörer der Unterschied zwischen einer Studio-Live-Aufnahme und einem Livemitschnitt gar nicht mehr wahrzunehmen.
Geht man die Liste der von Ihnen bislang aufgenommenen Kompositionen durch, so stößt man öfter auf die Namen bestimmter Komponisten. Sie scheinen sich wie ein roter Faden durch Ihre Alben zu ziehen. Da ist zum Beispiel Johann Sebastian Bach, vor allem aber Reinhard Schwarz-Schilling. Was verbindet Sie mit diesem Komponisten?
Zunächst verbindet Schwarz-Schilling viel mit Bach und der Bezug stellt sich sehr leicht her. Das allererste Werk, das wir damals aufgenommen haben, das Streichquartett als Symphonie für Streicher, bezieht sich mit seiner Fugentechnik, mit seiner im Sinne des 20. Jahrhunderts sehr archaischen Polyphoniebehandlung sehr stark auf Bach. Auch Schwarz-Schillings Da Jesus an dem Kreuze stund ist ein Bach-nahes Stück, auch wenn es viel modaler ist. Reinhard Schwarz-Schilling hat Bach geliebt. Ich selber bin durch eine frühe Aufnahme Sergiu Celibidaches auf Schwarz-Schilling gestoßen. Ich habe 16 Jahre bei Celibidache studiert, und es hat mich nicht nur wahnsinnig interessiert, wer seine Lehrer waren – dadurch stieß ich auf die Musik von Heinz Tiessen, was dann die Begegnung mit den Werken des anderen großen Tiessen-Schülers Eduard Erdmann, wie auch dieser ganzen Expressionistengeneration der 1920er Jahre nach sich zog –, sondern auch das Repertoire, das er dirigiert hat. Und da kam mir irgendwann eine Aufnahme aus der Zeit der sowjetischen Blockade von West-Berlin in die Hände, auf der er die Berliner Philharmoniker in der Uraufführung von Reinhard Schwarz-Schillings Introduktion und Fuge für Streichorchester leitet. Dieses Werk ist nichts anderes als ein Streichorchester-Arrangement des ersten Satzes des Streichquartetts von 1932, und Celibidaches Aufführung ist unglaublich spannungsgeladen und intensiv. Man hört in diesem Mitschnitt aus dem Titania Palast im Hintergrund merkwürdige tiefe Abwärtsglissandi: die landenden Rosinenbomber, die die Stadt Berlin versorgen. Dieses großartige Dokument hat mich fasziniert, sodass ich mir die Partitur des Werkes besorgte – das heißt nicht das Streichquartett, sondern tatsächlich die Introduktion und Fuge, die es als gesonderte Partitur gibt. Als ich aber das Streichquartett kennenlernte, sah ich, dass es drei Sätze hat: zwei ganze Sätze mehr! Dann habe ich Christian Schwarz-Schilling, den Sohn des Komponisten, kennengelernt, und wir haben uns gemeinsam ein Konzertprogramm zum 100. Geburtstag seines Vaters überlegt. Damals dirigierte Konrad von Abel. Christian Schwarz-Schilling hat das Ganze auf großzügigste Weise gefördert und bezahlt. Meinen Vorschlag, nicht allein Werke Schwarz-Schillings aufzuführen – Introduktion und Fuge sowie der Mittelsatz aus der Sinfonia Diatonica – , sondern den Kreis zu erweitern und den Komponisten in einen Kontext zu stellen, befürwortete Christian Schwarz-Schilling sofort. Wir nahmen deshalb noch Heinrich Kaminski, Reinhard Schwarz-Schillings Lehrer, ins Programm, sowie den anderen großen Kaminski-Schüler Heinz Schubert. Dessen Werk Vom Unendlichen, eine Zarathustra-Vertonung für Sopran und drei Streichquintette (mit der ausgezeichneten Solistin Susanne Winter), gab uns den Titel für das Konzertprogramm. Das Hauptwerk war Kaminskis Werk für Streichorchester, eine Bearbeitung von Kaminskis Streichquintett, die Reinhard Schwarz-Schilling während seiner Studienzeit 1928 als Gesellenstück unter Aufsicht des Lehrers gesetzt hatte.
Damit gingen die Musiker dann auf Tournee. Es hat einige sehr enthusiastische Besprechungen gegeben. Ich erinnere mich an Volker Tarnow in der Welt, der vor allem die Wiederentdeckung von Kaminski gepriesen hat. Auf mich hat dieses Erlebnis auf mancherlei Weise anregend gewirkt. Als ich dann zu Christian Schwarz-Schillings 80. Geburtstag im Jahr 2010 ein eigenes Konzert plante, dachte ich mir: jetzt mache ich das, was Reinhard Schwarz-Schilling mit dem Werk Kaminskis getan hat, und arrangierte den zweiten und dritten Satz von Schwarz-Schillings Streichquartett für Streichorchester, sodass sie, zusammen mit Introduktion und Fuge als erstem Satz, als Symphonie für Streichorchester gespielt werden konnten. Auch bei diesem Konzertprogramm hat Christian Schwarz-Schilling wieder alles finanziell getragen. Das Programm enthielt neben Bachs kleiner Fuge in g-Moll (eigentlich für Orgel) auch die Cavatina aus Beethovens Quartett op. 130 und den Kopfsatz aus Mozarts Dissonanzen-Quartett – es wundert mich, dass bislang keiner auf die Idee gekommen war, diese Werke mit Streichorchester aufzuführen –, außerdem das Bach’sche E-Dur-Violinkonzert mit Rebekka Hartmann, Arvo Pärts Orient und Okzident und eine Uraufführung von Peter Michael Hamel: Ulisono, eine Gedenkmusik für den verstorbenen Komponisten Ulrich Stranz. Quasi als „einkomponierte“ Zugabe gab es Anders Eliassons Violinsolo In medias. Dieses Programm hatte keinen Namen, so wählten wir einfach den Namen den Orchesters, das sich eigens dazu zusammengefunden hatte: Symphonia Momentum. Wir haben das Programm dann 2010 in einigen Konzerten gespielt, angefangen in München und Reutlingen, und in der wunderbaren Akustik der Berliner Nalepastraße auf CD aufgenommen. Die CD haben wir dann Declamatory Counterpoint genannt, nach einer spontanen Reaktion von Ivo Csampai, dem Bruder von Attila Csampai, der, als ich den Mitschnitt mit ihm angehört habe, sagte: „Das ist deklamatorisch flammender Kontrapunkt“, und damit war der Titel geboren. Dieses Album steht am Beginn einer Reihe „komponierter“ Alben. Bei Aldilà Records erschienen dann zunächst zwei Klavieralben mit Ottavia Maria Maceratini, die den gleichen Ideen folgten. Der Titel hat sich dabei immer erst im Nachhinein ergeben.
Hat Christian Schwarz-Schilling auch die Alben „Quintessence“ und „Resurrection“ unterstützt, auf denen sich Werke seines Vaters finden?
Ja, Christian Schwarz-Schilling hat auch diese beiden Alben ermöglicht. Natürlich ist wieder Musik seines Vaters dabei. Wie zuvor schon bei der Kunst der Fuge, die ich mit den Salzburg Chamber Soloists aufgenommen habe, finden sich auf Resurrection und Quintessence mehr oder weniger kurze Stücke Reinhard Schwarz-Schillings. Man muss dazu sagen, dass uns ein bisschen das orchestrale Repertoire von Schwarz-Schilling ausgegangen ist, denn inzwischen sind ja alle Orchesterwerke eingespielt worden, durch José Serebrier mit der Staatskapelle Weimar für Naxos. Christian Schwarz-Schilling war diesmal noch konkreter in die künstlerische Planung involviert als bei den vorangegangenen Projekten. Ich bin also immer mehrmals zu ihm hingefahren und habe ihm Vorschläge gemacht. Er hat Wünsche geäußert, und so sind auch seine Vorlieben sehr stark zum Tragen gekommen. Natürlich liebt er die Musik seines Vaters sehr, und die Musik von Bach ist für ihn Alpha und Omega aller Musik. Diese deutliche Betonung auf Bach hat also ganz stark damit zu tun, dass dies Christian Schwarz-Schillings Herzenswunsch war.
Bei anderen Vorhaben stünde von meiner Seite aus ein weit vielfältigeres Spektrum zur Verfügung. Zu vielen Komponisten hege ich eine ganz große Liebe: nordische, italienische, italoamerikanische, englische, slawische… Es gibt sehr viele Dinge, die ich ebenso gerne machen würde. Natürlich gehe ich mit der Person mit, die das Projekt finanziert. Dabei entsteht dann eine Symbiose unserer musikalischen Vorlieben, wie z. B. bei dem Quintessence-Programm: Christian Schwarz-Schilling wollte eine Streichersymphonie von Mendelssohn, mein großer Wunsch war Bruckner, und Reinhard Schwarz-Schilling sollte ebenfalls dabei sein. Bemerkenswert ist, wie sich am Ende alles so unglaublich organisch zusammengefunden hat: Mendelssohn ist praktisch der einzige Komponist, der im Original Streichersymphonien in Quintettbesetzung mit doppelten Bratschen geschrieben hat. Das Streichquintett im Orchester ergibt sich sonst ja immer aufgrund einer individuell geführten Kontrabassstimme, aber diese Besetzung mit zwei Geigen, zwei Bratschen und Violoncello (wo man letzterer dann den Kontrabass colla parte hinzufügt) existiert in der Streicherorchestermusik gar nicht. Mendelssohn ist mit einigen seiner frühen Streichersymphonien die absolute Ausnahme. Dass dann ausgerechnet die letzte dieser Symphonien – die eigentlich keine ist, sondern einfach ein aus Introduktion und Fuge bestehender symphonischer Satz – auch fünfstimmig ist, und von der Länge her genau zum Bruckner passt, ist wirklich ein tiefgründiger Zufall im schönsten Sinne. Es ist uns zugefallen.
Interessanterweise passen die Stücke ja auch harmonisch gut zueinander…
In der Tat! Ich habe nach dem richtigen Schwarz-Schilling-Stück gesucht, das sich gut zwischen Mendelssohn und Bruckner einfügt. Und da stieß ich auf dieses Chorwerk, das nicht nur von der Länge her wunderbar dazwischen passt, sondern auch als spirituelles Zentrum der CD erlebt werden kann. Weil es zu alledem noch die Modulation vom Mendelssohn zum Bruckner beschreibt, ist das Programm damit wirklich durchkomponiert! Das Wunderbare ist ja, dass dadurch die ganze Zusammenarbeit eine Krönung erfahren und uns eine Quintessenz an Erfahrung beschert hat: Christian Schwarz-Schillings Wunsch ist durch das Stück seines Vaters am Ende mit meinem verschmolzen, alles hat gestimmt. Natürlich könnte man jetzt sagen: Der Komponist Schwarz-Schilling kommt dabei zu kurz, der Bruckner ist so lang und der Schwarz-Schilling dauert lediglich 4 Minuten. Gewiss, aber er steht im Zentrum als das Herz dieser ganzen Angelegenheit! Und auf diese Weise wird das Stück vielleicht mehr Verbreitung erfahren als wenn es auf einer Schwarz-Schilling allein gewidmeten CD aufgenommen worden wäre.
Auf „Resurrection“ findet sich mit „Da Jesus an dem Kreuze stund“ ein etwas längeres Werk Schwarz-Schillings. Es ist sehr komplex kanonisch durchgeführt, sodass es eine Herausforderung war, die Musik als wirklich durchsichtige Faktur zu gestalten. Am Ende ist es uns gelungen, aber es hat wirklich Arbeit gekostet! Die Musiker haben wunderbar mitgemacht, und so ist eine sehr schöne Aufführung herausgekommen.
Und bei Resurrection?
Mein Vorschlag, das Streichquartett von Paul Büttner einzuspielen, hat Christian Schwarz-Schilling sehr gefallen. Er hat mich gebeten, Bach hinzuzunehmen, und dann haben wir uns gemeinsam noch auf diese fantastische Fantasie in f-Moll von Mozart geeinigt. So ist auch hier wieder ein gemeinsames Programm entstanden, das dann natürlich in die richtige Abfolge gebracht werden musste. Zwischen den Mozart und den Büttner, die beide Schwergewichte sind ist, tritt dann Raquele Magelhães mit ihrem unglaublich schönen Flötenspiel. Wir hören den dritten Satz aus den drei Solostücken von Giorgio Federico Ghedini und (in einem Arrangement von Lucian Beschiu) eine Canzona aus einer Musik zu Hamlet von Douglas Lilburn, dem großen Neuseeländer, ein Stück von absoluter Einfachheit – einfach wie ein Beatles-Song, einfacher geht es nicht. Das bildet den Entspannungspol zwischen diesen großen Blöcken. Ein Programm nur aus dichtestem Kontrapunkt kann man natürlich auch machen, aber es ist doch sehr gut, wenn sich für ein paar Minuten das Ohr erholen und dann umso besser wieder in eine dicht gearbeitete Faktur einsteigen kann.
Auf zwei Ihrer neuen CDs ist das jeweils umfangreichste Werk eine Streichersymphonie, die aber ursprünglich ein Streichquartett bzw. -quintett ist: zum einen Bruckners Quintett, zum anderen Büttners Quartett. Worin liegt der Reiz der Aufführung eines Kammermusikwerkes in orchestraler Besetzung?
Der ist nicht immer gegeben! Manche Kammermusikwerke werden gerne orchestral aufgeführt, wobei ich meine, dass es sich um keine glücklichen Entscheidungen handelt. Ich finde Beethovens Quartetto serioso für Streichorchester problematisch, das Verdi-Quartett mehr als problematisch. Auch ein Brahms-Quintett ist schwierig. – Vor den Büttner- und Bruckner-Aufführungen hatten wir ja bereits das Streichquartett von Schwarz-Schilling orchestral gespielt, und DieKunst der Fuge ist auch kein genuines Streichorchesterwerk…
DieKunst der Fuge ist übrigens ein gutes Beispiel. Es begann damit, dass ich von einer alten Aufnahme Celibidaches aus Neapel sehr fasziniert war: einem Ricercar und einer Toccata aus den Fiori Musicali von Frescobaldi. Das wurde in der Kritik fälschlicherweise als Bearbeitung bezeichnet. Das ist keine Bearbeitung, sondern eine für vierstimmiges Ensemble ausgesetzte Komposition für Orgel! Frescobaldi hat nämlich genau dasselbe getan wie Bach – der seinen Frescobaldi im Notenschrank stehen hatte – ein Jahrhundert später: Die Fiori Musicali sind ein Orgelwerk, das in partiture a quattro, also in vierstimmig ausgesetzter Fassung, gedruckt wurde. Jetzt kann man sagen: „Das ist ja klar, damit die Organisten einfach besser die Stimmführung verfolgen können.“ Ja, aber die Organisten können die Stimmführung auch weitgehend verfolgen, wenn die Musik nicht in vier Notensystem ausgesetzt ist.
Man streitet sich, ob DieKunst der Fuge für Cembalo oder für Orgel geschrieben ist. Ich glaube, dieser Streit ist absurd! Das Cembalo kann hier nur als Notbehelf dienen, weil die kurze Dauer, die der Cembaloton hält, für diese langen Themen völlig ungeeignet ist. Das Klavier ist schon besser geeignet, noch mehr aber die Orgel. Die Orgel kann aber nicht wirklich phrasieren, sie kann also dynamisch im Moment nichts hervorheben. Das geht nur agogisch, und das ist schwierig in solcher Musik, die so streng kontrapunktisch ist. Man muss äußerst feinsinnig agieren, und dann bleibt es immer noch schwierig. Also ist die Alternative, wie schon bei Frescobaldi, im Grunde vorgesehen: Natürlich konnte man das damals schon mit einem Ensemble zu vier Stimmen spielen. Und man hat die Musik auch sicherlich so gespielt. Selbstverständlich kann man das auch mit Bach machen, und deswegen ist das keine Bearbeitung, sondern nur der umgekehrte Vorgang zu einer Tabulatur. Man hat damals große Werke für Chor in Lautentabulatur gesetzt, damit man sie auch alleine für sich spielen konnte. Genauso kann man ein Werk, das für die Orgel geschrieben ist, individuell verteilt in vierstimmigem Satz spielen. Da gibt es keine Tabus! Nicht umsonst sagt man, Die Kunst der Fuge ist Musik für ein unbestimmtes Instrumentarium. Ich würde sagen: Sie ist ein Orgelwerk, das aber von einem vierstimmigen Ensemble jeglicher Art gespielt werden kann. Auch dazu gibt es Auseinandersetzungen. Man sagt, der Klang sollte möglichst trennscharf sein, man sollte auf möglichst verschiedenen Instrumenten spielen, damit die Polyphonie herauskommt. Das ist ein Irrtum! Die Vokalpolyphonie braucht auch nicht völlig verschieden gebaute Typen von Sängern. Es reichen vier Stimmen gleicher Art. Das funktioniert wunderbar, und deswegen ist es natürlich auch im Instrumentalsatz so, dass die Polyphonie am besten herauskommt, wenn der Klang von möglichst gleichartigen oder ähnlichen Instrumenten erzeugt wird. Die Polyphonie wird durch die Phrasierung hervorgehoben und nicht durch die Klangfarbe. Wenn zu viele verschiedenartig klingende Stimmen spielen, bewirkt das eine Dissoziierung des Eindrucks, wobei man natürlich das Einzelne heraushören kann – aber es geht ja darum, dass das Einzelne im Dienst eines Gesamten steht. Das heißt, dass es sowohl Transparenz als auch Verschmelzung gibt.
Und jetzt kommen wir zurück zu den Streichorchester-Fassungen. Vom Streichorchester gespielt kann das Symphonische in der Anlage, das heißt die großen Kontraste, die machtvollen Entfaltungen, aber auch das Lyrische, in seinen Extremen eine Verstärkung erfahren. Es gibt bestimmte Werke, die für Streichquartett oder -quintett geschrieben sind und im Streichorchester besser wirken. Zwei extreme Beispiele haben wir bei Beethoven, nämlich die Cavatina aus dem Quartett op. 130 und die Große Fuge op. 133 – ursprünglich Sätze desselben Werkes. Die Cavatina kann im Streichorchester noch viel elegischer werden als im Quartett, da man in der Gruppe viel leiser spielen kann und der Ton trotzdem nicht abreißt. Man kann sozusagen alles noch mehr nach innen gewandt musizieren. Die Große Fuge lässt sich in ihren machtvollen Entfaltungen, in ihrem über das Quartett-Potenzial eigentlich hinausgehenden Anspruch natürlich im Streichorchester besser verwirklichen. Ein typisches Beispiel, in dem das Streichorchester besser funktioniert, ist das Adagio von Barber. Das kann man in einem Streichquartett wunderschön machen, aber im Streichorchester trägt der Klang noch ganz anders, bekommt das Werk eine ganz andere Dimension. Es gibt noch manche anregenden Fälle, in denen das auffällt: Kaminski hat sein Streichquintett von Schwarz-Schilling als Werk für Streichorchester setzen lassen. Wenn das wirklich gut aufgeführt wird, besitzt es noch eine ganz andere Spannweite als das ursprüngliche Quintett!
So ging es mir dann mit Schwarz-Schillings Quartett. Der Komponist hat selbst den ersten Satz für Streichorchester gesetzt. Warum hat er das gemacht? Weil die Kontraste viel größer werden, das Symphonische mehr zum Tragen kommt. Also haben wir das auf alle drei Sätze des Quartetts erweitert. Das hat wunderbar funktioniert, das Werk ist symphonischer geworden. Die gleiche Idee liegt dem Bruckner-Arrangement zugrunde. Bei Büttner ist es ein bisschen schwieriger. Auch dieses Werk ist sehr symphonisch konzipiert. Jetzt gibt es Komponisten, die etwas liefern, das sich leicht übertragen lässt – das ist bei Beethoven zum Teil der Fall, das ist bei Bruckner der Fall, das ist auch bei Schwarz-Schilling der Fall. Bei ihnen ist es sehr klar, wo man, als einzigen Unterschied in der Instrumentation, den Kontrabass mit dem Cello mitspielen lässt und wo er schweigt. Ihn durchweg mitspielen zu lassen, wirkt nivellierend, das wäre eine willkürliche Monochromisierung.
Bei Bruckner sind die Stellen, an denen man den Kontrabass hinzunehmen kann, von den übrigen wunderbar klar zu unterscheiden. Auch bei Kaminski, bei Schwarz-Schilling geht das sehr gut, bei Brahms hingegen ist es ein großes Problem, weil sich dort das Cello immer wieder zwischen Stellen, an denen eine Kontrabassverstärkung passend wäre, und solchen, die das nicht vertragen, hin und her bewegt. Es gibt keine klaren Trennlinien, also muss man wahnsinnig vorsichtig verfahren, wo man den Kontrabass einsteigen und wo man ihn aussteigen lässt, ohne dass sich der Moment bemerken lässt, in dem das passiert. Diese Trennung soll hier, der Musik angemessen, nicht unterstrichen werden, sondern undeutlich verlaufen. Der Hörer soll nicht merken, wo der Kontrabass dazu kommt und wo er wieder aussteigt, weil die Linie beständig fortgeführt wird. Und das ist auch bei Büttner oft der Fall. Es ist schon eine delikate Aufgabe, an den richtigen Stellen den Kontrabass hinzuzunehmen und wieder wegzulassen. Natürlich gibt es auch Stellen, die eindeutig sind, doch es gibt eben viele Stellen, an denen er sich einschleicht und wieder hinausschleicht. Dieses Werk gewinnt dadurch, vor allem im Kopfsatz und im Finale, aber auch im Scherzo, eine sehr symphonische Dimension, die es als Quartett nicht hat. In dem langsamen Intermezzo-Satz vor dem Finale und in dem ins Finale eingeschobenen Doppelkanon-Fugato ist die chorische Besetzung gleichfalls ein großer Gewinn. Der einzige Satz, der sie nicht bräuchte, ist der zweite Satz, der eine Art romantische Palestrina-Polyphonie darstellt. Folgerichtig haben wir diesen Satz ohne Kontrabass aufgeführt, was auch im Ganzen einen sehr feinen Kontrast erzeugt hat.
Was sind allgemein Ihre Aufgaben als Dirigent?
Zu meinen Aufgaben als Dirigent verweise ich auf das französische Orchester Les Dissonances. Seit es dieses Orchester gibt, das so unglaubliche Aufnahmen ins Netz gestellt hat wie die zweite Daphnis-und-Cloé-Suite von Ravel und die Suite aus dem Wunderbaren Mandarin von Bartók, kann man sehen, dass es in einem Orchester, wenn wirklich alle wollen und alle immer dabei sind, keinen Dirigenten braucht. Er ist eigentlich nicht nötig, wenn es im Orchester jemanden gibt, der das Ganze zusammenhält – in diesem Fall David Grimal vom ersten Konzertmeisterpult aus.
Für die Koordination in dem Sinne, wie es traditionell notwendig war, braucht es den Dirigenten nicht mehr, wenn das Orchester bereit ist, das von selbst zu leisten. Die Orchester sind heute gut genug individuell besetzt. Für diese Polizistenrolle – Einsätze geben, koordinieren und so weiter – braucht es den Dirigenten heute nur noch in beschränkter Weise. Früher war das anders, damals hat man ihn in der Regel gebraucht, als die Orchester von der individuellen Qualität der Spieler her nicht auf diesem Niveau waren, wie das heute allgemein gegeben ist. Jeder Dirigent sollte sich heute Les Dissonances anschauen, um zu wissen, wozu man ihn nicht braucht.
Die Rolle eines Dirigenten hat sich verändert: Von einem dominierenden Mitspieler hin zu einem Trainer, der, wie im Fußball, das Spiel von der Seite noch befeuern kann, im Übrigen aber bereits dafür gesorgt hat, dass die Mannschaft von selbst spielen kann. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass sich auch sonst vieles verändert hat. Hand in Hand mit diesen Veränderungen geht, dass das Dirigieren nicht mehr so autoritär in dem Sinne funktioniert, wie es bisher war. Jedenfalls glaube ich nicht, dass wirklich gute Resultate auf Dauer zu erzielen sind, indem man als Dirigent diktatorisch durchgreift. Stattdessen sollte es so sein, dass die Musiker selbst als tatsächlich im besten Sinne aktiv Mitwirkende dabei sind. Insofern stelle ich mir vor, mit dem Orchester so zu arbeiten, dass das Orchester die Musik von selbst realisiert und man als Dirigent am Ende so überflüssig wie möglich ist, eigentlich nur noch eingreift, wenn es unbedingt sein muss. Dadurch, dass man selbst nicht mit dem Spiel eines Instruments okkupiert ist und man dort steht, wo man alle gut hören kann, hat man natürlich genau diese Freiheit und diesen Überblick, den der einzelne Musiker, der mitwirkt, durch Position und Tätigkeit bedingt gar nicht in dem ausgeglichenen Maße haben kann.
Sie haben jetzt mit dem Album Zodiac Ihr erstes Orchesteralbum vorgelegt, nachdem Sie bislang nur Aufnahmen mit Streichorchester gemacht hatten. Wie unterscheiden sich, aus Sicht des Dirigenten, Streichorchester und großes Orchester in ihren Anforderungen als Klangkörper?
Ja, ich habe zum ersten Mal überhaupt ein großes Orchester dirigiert, als wir Scherbers Dritte Symphonie uraufgeführt haben. Das war natürlich eine riskante Entscheidung, gleich an die Aufnahme eines so komplexen Werkes zu gehen. Aber das Orchestra Simfònica Camera Musicae war phänomenal, ein bisschen wie Les Dissonances: Jeder wollte; es gab den Tropfen Zitrone nicht, der die Milch zum Kippen gebracht hätte. Niemand hat das Kollektiv gestört, und das Orchester war unglaublich selbstsicher, wach und empfänglich zugleich. Das Stück stellt ganz spezifische Anforderungen. Scherber verlangt vor allen Dingen ein ganz weit disponiertes Gestalten, extrem weittragende Steigerungen, ohne zu frühes Verausgaben. Alles ist in großen Strecken gedacht. Das Orchester hat wunderbar mitgewirkt.
Ein gutes Streichorchester ist schwieriger zu bekommen als ein gutes Orchester. Das hat auch damit zu tun, dass das Orchester bereits die konkreten Klangfarben bereitstellt, die vom Komponisten durch die Instrumentation vorgeschrieben sind. Im Streichorchester, wenn es nicht eine langweilige und monochrome Angelegenheit sein soll – womöglich noch ganz massiv von der Oberstimme dominiert und vielleicht noch vom Bass, mit Mittelstimmen, die irgendwo dazwischen herumschwimmen –, da muss man beim Arbeiten die Farben überhaupt erst herstellen. Die Instrumentation erfolgt also erst durch die Arbeit mit dem Streichorchester: Dass etwas klingt wie Trompeten, etwas anderes wie Posaunen, wie eine Flöte und so weiter, alles das kann erst im Probenprozess geschaffen werden, und dann kann ein wunderbarer, vielfältiger Streichorchesterklang herauskommen.
Die Arbeit mit dem Streichorchester wird auch dadurch erschwert, dass, weil die Farben der anderen Instrumente wegfallen, die Intonation für die ersten Geigen viel heikler wird. Bei einer so homogenen Besetzung ist insgesamt viel mehr klangliche Verschmelzung gefragt. Das große Orchester ist nicht so homogen besetzt, so fällt es auch nicht so auf, wenn das Verhältnis zwischen den Instrumenten im Einzelnen nicht so homogen ist. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass ein gutes Orchester, wenn man die Bläser weglässt, auch ein gutes Streichorchester ist – es sei denn der Dirigent hat mit diesem Orchester schon daran gearbeitet, dass die Streicher sich allein als homogener Klangkörper erfahren können.
Ein Laie mag übrigens den Eindruck haben, dass in einem guten Streichorchester fast ausschließlich die ersten Geigen gelegentlich dazu neigen, unsauber zu spielen. Das ist natürlich nicht richtig. Tatsächlich verhält es sich so, dass, wenn die Bassregion total sauber intoniert, jede kleine Unsauberkeit in den darüber liegenden Registern sofort auffällt. Die Lage ist sofort ganz anders, wenn der Bass nicht wirklich sauber ist, z. B. wenn man mit zwei Kontrabässen besetzt, was die Sache immer intonationsmäßig besonders anfällig macht — es ist ja nichts so schwer zu intonieren wie zwei Sänger oder zwei Instrumente, die unisono zusammen singen, dann sind die Schwebungen durch die minimalen Tondifferenzen, die auf jeden Fall immer da sind, am meisten verstärkt. Sobald ein dritter dazu kommt, gleicht sich das schon wieder ein bisschen aus, und wenn es eine größere Gruppe ist, dann fällt es nicht mehr so auf, wenn etwas darin ein bisschen abweicht. Außerdem: nirgends ist so schwer sauber zu spielen wie im Bassregister, und wenn wir jetzt zwei Kontrabässe haben, die nicht für sich alleine spielen, sondern in einem Orchester, dann ist es gar nicht immer so einfach, dass die beiden hören, ob sie wirklich miteinander komplett im Einklang sind. Tatsächlich kann man dann unsaubere höhere Register dank eines unsauberen Basses einigermaßen kaschieren – dann ist alles relativ unrein, und innerhalb dessen ist es tendenziell unklar, wer mehr oder weniger dazu beiträgt. Auf wackligem Fundament lässt sich kein solides Gebäude errichten. Folglich brauche ich einen einzigen Kontrabass, oder drei oder mehr, dann kann ich erreichen – wenn Kontrabass und Cello sehr sauber zusammen spielen – dass sich ein richtig sauberer Grund bildet, wodurch dann das, was drüber liegt, total deutlich durchhörbar wird. Sobald hingegen die Intonation in der Tiefe nicht mehr ganz sauber ist, ist das, wie wenn wir einen See haben, wo das Wasser in Bewegung gesetzt wird: man kann nicht mehr klar auf den Grund blicken, es ist nicht mehr deutlich.
Um zu den ersten Geigen zurück zu kommen: Wenn es aber ganz sauber ist, ist es wie ein stilles Wasser, wo man bis zum Grund schauen kann, und entsprechend hört man jede kleine Abweichung nach oben, und am meisten fällt eben auf, was ganz oben ist: Das hört jeder sofort! Was dazwischen liegt, ist viel schwerer zu unterscheiden und präsentiert sich dem Ohr undeutlicher. Im Vergleich mit Bratschen oder zweiten Geigen werden die ersten Geigen daher meist unverhältnismäßig höher geschätzt oder unnachsichtiger getadelt.
Von Ihrer praktischen Tätigkeit als Musiker zeugen nicht nur die CDs, auf denen Sie dirigieren, sondern auch Kammermusikalben, die Sie als Produzent betreut haben. Auf dem YouTube-Kanal von Aldilà Records sieht man Sie mit einem Kammerensemble, in dem Fall dem Trio Monsterrat, proben. Verdeutlicht das diesen fließenden Übergang vom Dirigenten zum musikalischen Trainer?
Ja, und man kann natürlich mit einem Streichtrio, das selbstständig spielt, noch ganz anders arbeiten – auch gestisch – als mit einem Orchester. Im Kammerensemble sind die Musiker bereits mit ihrer Stimme innerlich verbunden, und sie sind als Trio schon da. Da kann man sozusagen sehr frei gestikulierend Dinge einbringen, die bei der Arbeit mit einem Orchester nicht funktionieren würden. Im Orchester herrscht immer noch eine Mentalität, dass der Dirigent mir als Musiker beständig zeigen soll, wie es geht. Ich wünsche mir weniger von dieser Mentalität – ein waches Aufnehmen der Impulse, die vom Dirigenten kommen, ist natürlich gut, aber die Musiker sollten selbstständiger sein!
Die Streichtrio-CD German Counterpoint ist die einzige, an der ich in der Weise mitgewirkt habe, wie es in den Videos zu sehen ist. Eigentlich wollten wir damals auch wieder ein Streichorchester-Projekt realisieren, aber dann kamen die Corona-Maßnahmen dazwischen. In dieser Situation konnten wir, auch gegenüber Christian Schwarz-Schilling, der auch hier wieder unser Sponsor war, das Risiko nicht eingehen, ein Streichorchester zu organisieren – was wäre gewesen, wenn das Ganze hätte abgesagt werden müssen, aber die zugesicherten Honorare trotzdem fällig gewesen wären! So haben wir uns dann entschlossen, mit drei hervorragenden katalanischen Musikern ein Kammermusikalbum einzuspielen.
Das Programm war horrend schwer, vor allem wegen der Kammersonate Heinz Schuberts, die überhaupt alle Grenzen dessen überschreitet, was man vom Streichtrio an Komplexität gewohnt ist – ein unglaubliches Stück, in seiner kontrapunktischen Kunst ein absoluter Gipfel der Streichtrioliteratur! Ich hoffe sehr, dass wir auf Dauer mit dieser Aufnahme dazu beitragen, dass dieser Komponist, der ein absolutes Genie war und in diesem Werk auch wirklich ein überragendes Meisterwerk hinterlassen hat, angemessen geschätzt wird. Das späte Schwarz-Schilling-Trio ist von einer unglaublich feinen, verinnerlichten Haltung. Interessanterweise haben die Musiker über den zweiten Satz dieses Werkes gesagt: „Das ähnelt sehr unserer katalanischen Musik!“ Sie haben das Stück wie ein Heimspiel empfunden. Paul Büttners Trio besteht aus sieben kurzen Sätzen. Eigentlich sollte dieses Werk ein absolutes Repertoirestück sein. Es ist nämlich nicht so schwer wie der Heinz Schubert, den ja die allerwenigsten überhaupt so gut spielen könnten, dass die Polyphonie richtig herauskommt. In dem Stück geht es wirklich über Stock und Stein, „halsbrecherisch“ ist das richtige Wort. Das kann man von Büttners Werk nicht sagen. Es ist aber durchaus virtuos und effektvoll und, wie gesagt, als Repertoirestück für jedes Streichtrioensemble geeignet.
Im Grunde ist German Counterpoint eine „Schrittmacherplatte“ fürs ganze Repertoire. Alle drei Werke sind wunderbar gespielt. Ich war dabei für das Strukturelle zuständig. Das ist ja keine Sache, die in sich existiert, sondern die verwirklicht werden muss. Auch habe ich dem Ganzen den Rahmen gegeben, aber die wirkliche Leistung kommt von den drei Musikern, die allesamt ganz wunderbar gespielt haben – auch die Position, die manchmal ein bisschen schwächer belichtet ist, die Bratsche, ist hier ganz wunderbar besetzt. Alles ist hier außergewöhnlich schön realisiert, sodass ich sagen muss: dieses Album ist mindestens so stark und wesentlich wie die Orchesteralben.
Kommen wir zum Hauptwerk der Zodiac-CD, zu Martin Scherbers Dritter Symphonie! Scherber ist zum einen ein sehr an der Tradition, vor allem an Bruckner, orientierter Komponist, zum anderen aber schreibt er Musik in Formen, die historisch keinerlei Vorbilder haben. Sie haben die Symphonie 2019 in Barcelona uraufgeführt, doch wurde sie vor vielen Jahren schon einmal eingespielt, sodass Ihre Aufnahme bereits die zweite ist. Was ist das Besondere an Scherbers Musik und wie kam es zu dieser Zweit-Aufnahme?
Der Fall Martin Scherber ist sehr speziell – er stand zum einen unter sehr unglücklichen, zum andern aber auch unter sehr glücklichen Vorzeichen. Scherber wurde 1907 in Nürnberg geboren, hat dann in München an der Akademie für Tonkunst bei Gustav Geierhaas studiert, einem Vertreter der deutschen kontrapunktischen Tradition, bei dem auch einige andere wichtige Leute studiert haben. Es spricht sehr für Geierhaas – auch er ein Komponist, um den wir uns gerne kümmern würden –, dass diese Komponisten sich sehr individuell entwickelt haben. Heinrich Sutermeister beispielsweise ist ein komplett anderer Komponist als Scherber. Man kann daran sehen, dass der Lehrer diesen Schülern das exzellente Handwerk, das er selbst hatte, mitgegeben, sie aber stilistisch nicht auf seine Bahn gezwungen hat. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den man nicht unterschätzen sollte, und das macht einen guten Lehrer aus. Auch Heinz Tiessen und Boris Blacher sind solche ausgezeichneten Lehrer gewesen, die ihren Schülern ebendiese Freiheit gelassen haben. Als ich einmal mit Günter Bialas, der genau derselbe Jahrgang ist wie Scherber, ein Interview gemacht habe, sagte auch er mir, dass es ihm ein zentrales Anliegen ist, dass jeder Student sich auf seiner ganz eigenen intuitiven Fährte entwickeln kann. Nach seinem Studium hat Scherber ein Engagement in Aussig angenommen, dem heutigen Ústí nad Labem in Tschechien, und dort als Kapellmeister das Provinzleben kennengelernt: mit ganz viel Operette. Es hat ihm dann sehr schnell gegraust davor. Er hatte aber zu dieser Zeit auch schon Goethes Metamorphosenlehre und Rudolf Steiners Anthroposophie kennengelernt, die ihn immens in seiner allgemeinen Kunstanschauung, in der Weltanschauung und natürlich auch in Bezug auf sein Komponieren beeinflusst haben. Er hat dann in Aussig gekündigt. Man wollte ihn dort behalten, aber er hatte genug von diesem trivialen und, wie er es empfand, auch frivolen Musikleben. Er ging wieder zurück nach Nürnberg und hat sich mit sich selbst darauf geeinigt, jetzt von einem Privatlehrereinkommen zu leben. Durch Steiners Schriften angeregt, suchte er die Nähe zur Anthroposophischen Gesellschaft und zur Waldorfschule. Damit ging aber auch ein Problem los, das ich gleich beschreiben will. Er hat dann vor allem Lieder komponiert, aber irgendwann sein gesamtes Frühwerk vernichtet. Erst die danach entstandenen Werke betrachtete er als gültig. 1938 schrieb er seine erste Symphonie, ein einsätziges Werk zu einer Zeit, als einsätzige Symphonien noch recht neu waren. Natürlich fällt mir Heinz Tiessens Symphonie Stirb und werde! ein, und die Erste Kammersymphonie von Schönberg, die ihrerseits eine Tradition begründet hat, und Sibelius‘ Siebte! Es gibt also durchaus einige Vorläufer. Man muss freilich auch berücksichtigen, dass daneben einsätzige Werke existieren, die vielleicht nicht „Symphonie“ heißen, aber symphonisch komponiert sind, und dass es viele sogenannten Symphonien gibt, die keine Symphonien im eigentlichen Sinne sind.
Ich meine, wenn wir „das Symphonische“ als etwas wirklich Zusammenhängendes, Organisches begreifen, dann ist die Symphonie Fantastique von Berlioz zwar dem Namen nach eine Symphonie, wie auch z. B. die Strawinsky-Symphonien, diese Werke sind aber nicht sehr symphonisch konzipiert, sondern entweder Programmmusik oder eine Art Ballettmusik. Andererseits findet sich symphonische Entwicklung in vielen Konzertouvertüren und anderen Orchesterstücken. Insofern könnte man nach dem heutigen Stand auch Mendelssohns Sommernachtstraum-Ouvertüre eine Symphonie nennen. Und definitiv hätte Debussy La Mer und Bartók sein Konzert für Orchester als Symphonie bezeichnen können. Wir müssen schon verstehen, wie idiotisch es eigentlich ist, sich am bloßen Wort orientieren zu wollen! Viele große symphonische Dichtungen sind eher Symphonien, andere eben nicht. Auf jeden Fall hat Scherber zu dieser Form der einsätzigen Symphonie ganz bewusst gegriffen. Die Erste dauert eine gute halbe Stunde und ist aus einem Themenkern entwickelt. Ziemlich deutlich lassen die Abschnitte noch die traditionellen vier Sätze durchscheinen, also auch einen langsamen Mittelsatz und ein Scherzo. Diese Symphonie wurde erst nach dem Kriege in den 1950er Jahren aufgeführt. Scherber hat den Krieg als Soldat mitmachen müssen, kam dann aus der Gefangenschaft zurück, und dann hat er sich eingeschwungen auf die großen Metamorphosen-Symphonien, die er schreiben wollte. Als Vorübung erstellte er Klavierauszüge der Symphonien Nr. 3–9 von Bruckner. Er schickte sie Furtwängler zur Begutachtung, der sie ausgezeichnet fand. In der ersten Hälfte der 1950er Jahre entstand zuerst Scherbers Zweite, dann seine Dritte Symphonie, auch diese beiden einsätzige Werke. Der Komponist gab an, dass die Zweite eine Stunde dauert, die Dritte etwas länger. Er hat alle drei Symphonien für zwei Klaviere transkribiert und sie zusammen mit seinem Schüler Willi Held im Wohnzimmer aufgenommen. Die Aufnahmen sind erhalten. Die Stücke dauern hier wesentlich kürzer als angegeben: die zweite eine Dreiviertelstunde, die Dritte 53 Minuten. Das liegt daran, dass sie auf Klavieren gespielt werden. Scherbers eigene Angaben beziehen sich aber auf orchestrale Aufführungen, von denen er deutlich längere Spieldauern erwartet hat. Sein Freund Fred Thürmer hat die Erste Symphonie uraufgeführt und auch mehrere Male wiederaufgeführt. Auch die Zweite Symphonie hat er als Erster dirigiert. Als die Dritte vollendet war, hatte Türmer aber nicht mehr eine solche Position inne, in der er über ein so gutes großes Orchester verfügte, das für dieses Werk notwendig gewesen wäre. So kam keine Aufführung mehr zustande, auch keine weitere der Zweiten. Scherber hat in den eineinhalb Jahrzehnten danach beinahe nichts mehr komponiert. Dann wurde er 1970 von einem betrunkenen Autofahrer über den Haufen gefahren und hat schwer verkrüppelt noch drei Jahre gelebt. Mit dem Komponieren war es endgültig vorbei. Seine Dritte Symphonie hat er nie gehört.
Aber noch zu seinen Lebzeiten wurde in Krefeld um Fred Thürmer ein Bruckner-Kreis gegründet, der sich auch der Werke Scherbers annahm. Und als er bereits durch den Unfall unheilbar gezeichnet darniederlag, überredeten ihn die Schüler, seine Symphonien, deren Veröffentlichung zu seinen Lebzeiten er nicht beabsichtigt hatte, als Manuskriptpartituren zu publizieren. So sind sie alle drei zum Dürer-Jahr 1971 in schwarzen Kunstledereinbänden gedruckt und an alle möglichen Bibliotheken verschickt worden. Auf diese Weise hoffte man, auf Resonanz für die Werke zu stoßen. Es kam aber keine einzige Aufführung zustande. Immerhin waren nun die Partituren da und hatten sich einigermaßen verbreitet. Vor allem wurde die Erste Symphonie überall hingeschickt, sodass von diesem Bestand heute kein Exemplar mehr beim Bruckner-Kreis vorhanden ist.
Dann verging eine lange Zeit. Mittlerweile hatte sich eine anthroposophische Exegesetradition um Scherber entsponnen. Man muss dazu sagen, dass aus dem anthroposophischen Kreis sowohl für, als auch gegen ihn starke Impulse kamen. Allerdings haben sich führende anthroposophische Musiker ganz aggressiv gegen Scherber ausgesprochen. Das ging soweit, dass Hans Börnsen forderte, man müsse diese Musik verbieten. Scherber war zwar enttäuscht von der Haltung der Anthroposophen zu seiner Symphonik, hat aber trotzdem testamentarisch die Originalhandschriften seiner Partituren dem Goetheanum in Dornach vermacht, wo sie heute im Archiv vor sich hin schlummern. Für mich ist es ganz klar, dass die Ablehnung, auf die Scherber hier stieß, ihre Gründe auch darin hat, dass mit Scherber ein so großer Fisch in einem doch relativ kleinen Teich herumschwamm. Das wäre für die anderen Komponisten schwierig geworden, auch wollten sie moderner sein. Jürgen Schriefer und so weiter wollten lieber wie Stockhausen klingen als wie Bruckner. Das muss man einfach verstehen.
Ganz klar hört man Brucknersche Stilelemente in Scherbers Musik. Man hört auch, zum Teil ganz deutlich, etwa auf dem Höhepunkt des „Wassermann“-Satzes der Zodiak-Symphonie, Wagner heraus. Die Musik kommt eindeutig aus dieser Tradition, aber die Physiognomie, die Psychologie ist eine komplett andere. Scherber schafft wirklich alles aus einem Thema! Es ist eine sehr deutsche, radikale Idee, alles aus einem Themenkern abzuleiten wie in der Kunst der Fuge. Dem Werk Bachs liegt bekanntermaßen ein handwerklich-kontrapunktischer Gedanke zugrunde. Scherber ist aber kein kontrapunktischer Handwerker in diesem Sinne. Er ist überhaupt kein konservativer Kontrapunktiker: Es gibt, wie bei Sibelius, keine Fugen in seinem Schaffen und nur wenige Kanons. Ausgerechnet der erwähnte Satz allerdings, in dem sich dieser wagnerische Höhepunkt findet, der sehr an den Höhepunkt des Tristan-Vorspiels erinnert, beginnt mit kanonischer Führung. Dieser „Wassermann“-Satz ist übrigens der einzige Abschnitt des Werkes, vor dem sich eine deutliche Atempause findet.
Konventionelle Kontrapunktik gibt es bei Scherber ebenso wenig wie bei Sibelius, wie ja auch Bruckner sehr freie Fugen schreibt, wenn sie denn einmal bei ihm vorkommen. Ansonsten hat sich Bruckners Musik von den hergebrachten kontrapunktischen Formen komplett abgelöst, bezieht aber alle Stimmen als kontrapunktische Elemente ein – das Streichquintett ist ein gutes Beispiel. Sibelius hat sich von den traditionellen kontrapunktischen Formen komplett verabschiedet – er ist ein kontrapunktischer Komponist, aber ein ganz freier! Deshalb gibt es bei ihm auch keine starke Betonung des Kontrapunktischen. Scherbers Musik ist schon deutlicher kontrapunktisch. Es finden sich Techniken, die aus dem Proportionskanon übernommen sind, also verschiedenene Tempi, die gleichzeitig ablaufen. Aber sie werden frei angewendet. Als Kontrapunktiker erweist sich Scherber außerdem durch eine ganz andere Eigenschaft: Er will keine Begleitstimmen. In der Symphonie sind alle Stimmen für die Musiker dankbar geschrieben, da sie alle für sich selbst einen Sinn ergeben. Das ist eine ganz wichtige Sache! Er wollte, dass das Orchester aus gleichberechtigten Individuen besteht, die in einem großen Organismus zusammenwirken. Überhaupt ist das Ganze eigentlich eine einzige Verwebung, auch formal. Die einzelnen Abschnitte der dritten Symphonie sind oft nicht eindeutig voneinander abgegrenzt. Es könnten auch andere Einschnitte vermutet werden, wenn nicht alles so klar hingeschrieben wäre. Die Glieder des Werkes, wie Scherber selbst sie nennt, verdeutlicht er durch die Tierkreis-Symbole in der Partitur. Und es ist auch hinten in der gedruckten Partitur vermerkt, wo die 12 Glieder der Symphonie beginnen. Das ist in der Zweiten Symphonie nicht so. Zwar hat Scherber die Bemerkung hinterlassen, dass sie siebenteilig sei, auch gibt es drei Abschnitte, die ganz klar abgegrenzt sind, aber wo genau die anderen vier beginnen und enden, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Wenn ich jetzt nur anhand der Noten schauen müsste, wo die Abschnitte in der Dritten beginnen, dann würde mir das teilweise ebenfalls unklar bleiben müssen und ich würde vielleicht andere Stellen ausmachen als der Komponist selbst. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass es bei Scherber nie schematisch zugeht. Es gibt keinen mechanischen, von außen her regulierenden Zugriff auf die Form. Das ist ganz wichtig: Das Werk ist organisch gewachsen!
Als Scherber gestorben war, hat sich erst einmal nicht viel getan für seine Musik. Es gab aber Menschen, die daran gearbeitet haben, dass sich etwas tut. Und es ist ihnen schließlich gelungen, lange nach dem tragischen Tod des großen Scherber-Dirigenten und Bruckner-Kreis-Initiators Fred Thürmer, genügend Geld zu akkumulieren, um 1999 in Ludwigshafen die Dritte Symphonie aufnehmen zu lassen. Dirigent war der Komponist Elmar Lampson, selbst ein Anthroposoph. Allerdings hat man damals einfach übersehen, dass Scherber durch die Tierkreis-Symbole die Symphonie in 12 Abschnitte gegliedert hat, und deshalb gar nicht gemerkt, wie sich diese Einsätzigkeit unterteilt. Man kommt sich, hört man die Aufnahme aus Ludwigshafen, ein bisschen so vor wie bei manchen Allan-Pettersson-Aufnahmen: Das ist sozusagen, als würde die Musik durch einen Tunnel fahren, um am Ende dann wieder herauszukommen. Ja, es hat in gewisser Weise etwas Überwältigendes, aber nach meinem Empfinden erscheinen dadurch auch ziemlich monotone Längen. Die Musik wurde damals recht heftig von der Kritik abgelehnt. Reinhard Schulz hat ganz böse von einer „Schimäre der Zeitlosigkeit“ geschrieben, die allenfalls lästig sei; die Metamorphose würde auf der Stelle treten. Mein Freund Til Köster, der ein sehr guter Musiker und sehr gelehrter Musikwissenschaftler war, hat das Werk auch abgelehnt, als völlig formlos und so weiter.
Dann wurde die Zweite Symphonie eingespielt. Diese Aufführung in Moskau unter Samuel Friedmann ist insgesamt auf jeden Fall besser! Beide Aufführungen, die der Dritten und die der Zweiten, haben sich aber an den Tempi der privat von Scherber aufgenommenen Fassungen für zwei Klaviere orientiert, die ja nicht mit dem übereinstimmen, was Scherber von Aufführungen der originalen Orchesterfassungen erwartet hat. Sie sind einfach viel schneller, und dadurch, wenn man das einfach ins Orchester übernimmt wie in beiden Fällen, leidet die Aufführung deutlich unter sehr stressigen Tempi. Ein Freund von mir sagte, als er die Aufnahme der Zweiten hörte, das klinge wie russische Ballettmusik. Sehr lustig! Die Zweite Symphonie enthält ganz lange Temposteigerungen, wie wir sie eigentlich nur aus einem Werk wie dem Kopfsatz der Fünften Symphonie von Sibelius kennen. Es braucht also eine besonders behutsame Art, das Tempo psychologisch zu steigern, damit der Eindruck des ständigen Tempozuwachses über 30, 40 Partiturseiten erhalten bleibt. Das ist noch eine ganz andere Herausforderung in Bezug auf den Anspruch, Steigerungen zu bauen, als eine bloße dynamische Steigerung. Es gibt aber dafür durchaus Hebel und Mittel! In Bezug auf die kontinuierliche Temposteigerung ist es natürlich hilfreich, auf gar keinen Fall das Tempo dort zu entspannen, wo die Struktur gleich bleibt. Jede Form von Strukturänderung, überhaupt der Eintritt von etwas Neuem als Primärerscheinung, lässt eine unauffällige Entspannung des Tempos zu, weil die Aufmerksamkeit der Hörer anderswohin gelenkt wird. In diesem Moment kann das Tempo nachlassen, ohne dass wir spüren, dass das Tempo wirklich langsamer würde. Dadurch kann der Eindruck einer ständigen Auffrischung des Tempos erhalten bleiben. Aber das ist eine Arbeit, die für uns noch zu tun ist! So Gott will, werden wir das Werk im Juli 2024 mit dem gleichen Orchester wie in der Dritten in Barcelona aufführen können.
Die Erste Symphonie ist von Adriano in Bratislava aufgenommen worden. Adriano hat dabei, wie immer, alles an Identifikation gegeben, was möglich war. Für diese CD bat man mich, den Booklettext zu schreiben. Über diese Arbeit kam ich mit den Scherberianern in Berührung. Der Mann, der mir damals den Auftrag für den Einführungstext erteilt hat, Friedwart Kurras, ist bald darauf gestorben, und der gesamte Scherber-Nachlass, der noch da war, ging an Friedemann Grau, einen pensionierten Lehrer, über. Ihn habe ich dann getroffen. Er ist ein absolut liebenswürdiger und bescheidener Mensch und ein sehr feiner Musikkenner, auch selbst praktizierender Musiker. Wir haben uns sehr gut verstanden, und er hat mir viele Materialien über Scherber zukommen lassen. Auch war er froh, dass mein Text nicht aus der so stark anthroposophisch gefärbten Richtung kam, sondern die Sache von einer anderen Warte aus betrachtete. Es geht mir nicht darum, negativ über diese anthroposophischen Texte zu sprechen, aber das war sicher eine neue Perspektive. Und es ist schon so, dass eine gewisse Form der Allgemeinverständlichkeit mit der anthroposophischen Sprachstilistik schon eher schwierig war. Es sind nicht alle Menschen gewohnt, Steiner zu lesen. Auch Schriften wie die von Schwers über Bruckner sind einfach für viele Menschen schwer lesbar. Es wird eine Terminologie vorausgesetzt, die nicht zum allgemeinen Repertoire der Menschheit gehört, die man darum nicht als selbstverständlich erachten kann, auch nicht bei fachspezifisch gebildeten Menschen. Irgendwann haben Herr Grau und ich über die Erstaufnahme der Dritten Symphonie gesprochen, und ich habe gesagt: Das ist noch nicht wirklich das, was es sein könnte! Er fragte mich daraufhin: „Wollen Sie es noch einmal machen?“ Da habe ich „Ja“ gesagt! Friedemann Grau hat dann alles ermöglicht und bezahlt. Es ist unglaublich, was er getan hat. Als ehemaliger Lehrer an einer staatlichen Schule ist er sicherlich mit einer ausreichenden Pension ausgestattet, aber dass hier ein Mensch tatsächlich aus eigener Tasche die Mittel bereitgestellt hat, diesen unglaublichen Aufwand zu bezahlen, ohne dass irgendwelche sonstigen Förderungen hinzugekommen sind, das ist ein Zeichen von absoluter Widmung und Liebe für diese Sache, in seinem Fall auch von tiefstem Verständnis! Dass er jetzt auch die Aufnahme der Zweiten Symphonie und weitere Scherber-Projekte finanziert, ist wunderbar! Ottavia Maria Maceratini wird die Erstaufnahme des ABC-Zyklus für Klavier vorlegen. Sie hat ihn vor wenigen Tagen ganz großartig eingespielt! Dann werden die zwei kleinen Trios für zwei Geigen und Klavier von Rémy Ballot, Iris Ballot und Masha Dimitrieva aufgenommen, zusammen mit Heinrich Kaminskis hochkomplexer Musik für zwei Geigen und Cembalo (auf dem Klavier gespielt), Hugo Distlers Trio für zwei Geigen und Klavier – ein wunderbares Werk, auch von einem Nürnberger, der nur ein Jahr jünger war als Scherber –, dem symphonisch angelegten Violinduo op. 86 von Felix Draeseke und sechs Duo-Miniaturen für zwei Violinen von Heinz Tiessen. Auf jeden Fall hat Herr Grau seinen Dienst für die Ewigkeit schon getan! Und ich hoffe, dass wir es ihm in unserer Funktion gleichtun können, indem wir seinen Wunsch auch umsetzen und angemessen Realität werden lassen.
Besonders bemerkenswert erscheint mir, dass der Komponist dieses Werk, diese mehr als einstündige Dritte Symphonie, in Partitur und Stimmen ohne einen einzigen Fehler niedergeschrieben hat. Wir haben aus Stimmen gespielt, die noch nie benutzt wurden, handschriftlichen Stimmen vom Komponisten, der das Werk nie gehört hat – und wir mussten nicht eine einzige Korrektur vornehmen. Das spricht eben auch für ihn! Dieser verkannte Künstler war zugleich ein unglaublich präziser Handwerker. Unglücklicherweise hat er damals die Partitur der Dritten Symphonie an Bruno Walter geschickt, der dann schrieb, er könne in dem Werk keinen Funken von Schöpferkraft erkennen. Walter mochte natürlich Bruckner, wobei man damals Bruckner immer noch generell als mit Formschwächen behaftet ansah. Aber Walter war vor allem Mahlerianer, und Gustav Mahler ist der äußerste Gegensatz, den man sich zu Scherber vorstellen kann. Wenn Mahler sagte, die Musik solle wie die Welt sein und alles umfassen, so kann man seine Musik als zentrifugal bezeichnen. Es ist wirklich wie in einer Achterbahn! Die Musik ist episodisch, voller unglaublicher Einfälle. Sie lebt auch ganz stark eine Diskontinuität, eine Zerrissenheit aus. Aber das ist das Gegenteil von Bruckner! Mahler mag auf Schubert und Bruckner fußen, auch vielleicht auf Bach, aber Bruckner, Schubert und Bach schrieben zentripetale Musik: eine Musik, die sich total in die Innenwelt hinein bewegt, die primär den inneren Kosmos erforscht, nicht die Außenwelt. Scherbers Musik musste Walter fremd bleiben. Anderen ist sie nicht fremd geblieben, namentlich Fred Thürmer. Thürmer war wirklich ein großartiger Dirigent, was man aus seiner erhaltenen Aufführung der Ersten Symphonie mit einem sehr unzureichenden Orchester hören kann. So großartig wie die Erste hätte er auch die Dritte gemacht! Leider bekam er dazu nicht die Gelegenheit. Auch von der Zweiten gab es einen Aufführungsmitschnitt, doch hat er sich leider nicht erhalten. Da hätte man hören können, wie der Dirigent das Werk in enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten realisiert hat.
Interessanterweise sind Sie wie Fred Thürmer Schüler von Sergiu Celibidache. Inwiefern kann Celibidache für heutige Musiker ein Vorbild sein?
Thürmer war drei Jahrzehnte vor mir am Berliner Musikinstitut Student von Celibidache. 1949 hat er dort seinen Abschluss gemacht, mit Auszeichnung und einem ganz superben Zeugnis Celibidaches, wie das fast niemand sonst je vorweisen konnte. Celibidache schrieb darin, dass er Thürmer eigentlich nur eines wünsche: ein Orchester, das adäquat umsetzen kann, was er an Potenzial bereitzustellen vermag.
Die Frage, inwiefern Celibidache für heutige Musiker ein Vorbild sein kann, ist gar nicht so einfach zu beantworten, da er sich sehr kontrovers zum Musikleben verhalten hat. Die Strukturen des Musiklebens, die für ihn offensichtlich fehlgeleitet waren, hat er offen bekämpft. Er hat sich offen gegen die Kommerzialisierung gewandt, er hat sich offen gegen die ästhetische Dogmatisierung gewandt. Seine Haltung lässt sich gut mit einem Zitat von Artur Schnabel beschreiben. Bei der Londoner Erstaufführung von Artur Schnabels Erster Symphonie hat Norman Del Mar den Einführungstext geschrieben, worin stand, das Werk sei in Zwölftontechnik komponiert – was nicht der Fall ist, es ist dissonant-freitonal. Del Mar ließ dabei seine Ansicht durchscheinen, dass bei der Zwölftontechnik keine wirkliche Musik herauskomme. Gegen beides hat sich Schnabel gewehrt und erklärt: „Ich brauche keine Angeschirrung, kein Gefängnis, keinen Führer, keine Kirche.“ Das würde Celibidache auch sagen! Seine sehr kritische Haltung zur Dodekaphonie erklärt sich daraus, dass sie nicht hergibt, was sie sich vorgenommen hat. Das heißt nicht, dass die Dodekaphonie abzulehnen ist, sondern dass sie phänomenologisch ganz natürliche Konsequenzen hat. Da kommen wir jetzt zur Phänomenologie.
Phänomenologie ist keine Philosophie – das ist ein ganz großer Irrtum! –, Phänomenologie hat keinen Inhalt, Phänomenologie ist eine Methode: eine Methode, die, soweit es geht, unsere Willkür der Interpretation ausschließen soll. Natürlich interpretieren wir, was wir sehen und hören, wenn wir darüber sprechen, was wir erleben. Wenn wir etwas sehen, ist das keine Interpretation, es sei denn wir laden es mit persönlichen Gefühlen auf. Wenn wir also in den Sonnenuntergang schauen und dieses wunderbare Rot erblicken, und wir dann daran denken, wie schön es doch war damals, als man mit seiner Liebsten im Federbett lag und Tee getrunken hat, dann sind wir natürlich Interpreten dieser Situation. Denn der Sonnenuntergang hat nichts mit dem leckeren Tee zu tun, und nichts mit dem schönen Sex, der dem Tee vorangegangen ist. Wir tragen unsere Gedanken und Sehnsüchte in diesen Sonnenuntergang. Die Phänomenologie geht zurück zu den Phänomenen, den Dingen selbst. Dieses „zurück“ wurde von Husserl geprägt. Man kann auch einfach sagen: Beziehe dich auf das, was da ist und nicht auf das, was du hinzufügst! Dadurch, dass du selbst etwas dazu bringst, nämlich deine Interpretation, interpretierst du zwangsläufig. Aber der Sinn der Sache besteht darin, so wenig wie möglich zu interpretieren. Tun wir das, wird uns ganz viel bereitgestellt, vor allen Dingen die grundsätzliche Erkenntnis, worauf die Wirkung der Harmonik auf den menschlichen Affekt beruht, nämlich auf der Quintgebundenheit, und zwar der Quintgebundenheit in beiden Richtungen: Die Abwärtsquint führt in die introvertierte Region, die Aufwärtsquint in die extravertierte Region; und alle Intervalle lassen sich auf Quinten zurückführen, die entweder in die eine oder die andere Richtung weisen – bis hin zum Tritonus, wo die Entfernung in beiden Richtungen die gleiche und damit diese Eindeutigkeit nicht mehr gegeben ist. Das alles hat Celibidache systematisch begriffen und weitergegeben, was bis heute von der Musikwissenschaft nicht erkannt ist, und auch nicht anerkannt. Im Gegenteil denken sehr viele Menschen aufgrund der etwas dümmlichen Behauptung einiger Musikkritiker, die, da ihnen die musikalische Ausbildung fehlt, gar nicht verstehen würden, von was da die Rede ist, es handele sich um eine sogenannte ‚Privatphilosophie‘ – ungefähr wie man von Philosophen spricht, die von der akademischen Philosophie nicht anerkannt werden. Dabei gibt die Phänomenologie eine Grundlage, wie sie von nichts anderem in Bezug auf Musik bereitgestellt werden kann. Das war für mich entscheidend, als ich damals mit dem Studium begonnen habe. Ich merkte: Das gilt für alle Musik, nicht nur für bestimmte Stilrichtungen, nicht nur für bestimmte ethnische Varianten, nicht nur für Klassik alleine! Was da verstanden wird, das versteht man für jede Art von musikalischer Betätigung. Heinz Tiessen, Celibidaches großer Lehrer, hatte in den 1920er Jahren noch die Hoffnung geäußert, dass vielleicht eines Tages jemand komme und all diese damals als so divergierend erscheinenden Dinge – traditionelle Harmonik, freie Tonalität, „Atonalität“ – in einer Synthese zusammenführen würde, der etwas herausfinden könne, was für all das als Grundlage gilt. Und genau dazu steht die Phänomenologie bereit!
Ich kam 1981 durch glückliche Umstände zu Celibidache. Damals habe ich dilettantisch komponiert, vor allem spielte ich in einer Art Prog-Rock-Band, die aus Geige, Bass und Schlagzeug bestand. Wir waren eine rein instrumentale Gruppe und ließen uns von Univers Zero inspirieren, von diesen absolut diabolischen Ganoven der feinsten Art aus Belgien und ihren abgründigen Sachen. Ich war aber zugleich ein ganz großer Bewunderer von King Crimson und von Oregon, dieser amerikanischen Gruppe, die sich ganz stark mit indischer Musik und mit Weltmusik im Allgemeinen auseinandergesetzt hat. Damals kam ich auf die Idee, dass man eine Fusion aus allen Stilen der Welt versuchen sollte! Ich hatte das Glück, ein Jahr bevor ich Celibidache kennenlernte, auf dem Flughafen in Karachi, wohin unsere Maschine, die eigentlich nach Delhi gehen sollte, wegen eines Sandsturms abdrehen musste, Ravi Shankar kennenzulernen. Shankar hat mir damals gesagt, ich sollte meine Erkundungen in der Musik dieser Welt weiter verfolgen, aber ich solle auch beginnen zu verstehen, dass man nicht alles mit allem fusionieren kann. Wo Gewinn ist, ist auch Verlust, sagte er. Das war ein ganz wichtiger Schlüsselsatz! Und er gilt für die ganze Musikgeschichte. Beispielsweise führt die chromatische Ausdeutung eines Monteverdi, Marenzio oder Gesualdo dazu, dass der Kontrapunkt auf ein Minimum reduziert wird. Egal was man tut, es kostet etwas! In dem Moment, in dem die Polyphonie auftauchte, verloren die Modi ihre tatsächliche Bedeutung und verschwand die Mikrotonalität. Mit dem Aufkommen der Modulation gingen die Modi endgültig verloren, da man nun die eindeutige dominantische Kraft benötigte, um neue Tonarten zu bekräftigen. Wir verstehen heute die indische Musik nicht. Für uns klassische Musiker ist es unmöglich, die Mikrotonalität bewusst zu hören, da wir uns daran gewöhnt haben, mit einem Klavier oder mit einer Orgel einverstanden zu sein. Aber auch in Indien hat man mit solchen Instrumenten die Mikrotonalität weitgehend ruiniert. John Foulds hat in den 1930er Jahren gegen die Verwendung des Harmoniums in der Volksmusik Partei ergriffen. Interessanterweise hat Ravi Shankar damals die Radiosendungen von Foulds West Meets East gehört, und wurde dann selbst der Pionier eines wirklich die Welt umspannenden und sich durchsetzenden „West Meets East“.
Bei Celibidache habe ich dann studiert, bis er 1996 gestorben ist. Mein musikalischer Anspruch war damals immens, aber meine Praxis war gleich null. Da ich Kinder hatte und dringend irgendwie Geld verdienen musste, gab mir ein Freund den Rat, mich als Journalist zu betätigen. So habe ich mein Geld mit Musikjournalismus verdient. Ich fing dann an, mit einzelnen Musikern zu arbeiten, wobei wir wunderbare Resultate erzielten, weil das eben auch wunderbare Musiker waren. Auf diesem Umweg kam ich zum Dirigieren und habe 2010, mit 49 Jahren, zum ersten Mal ein Programm dirigiert, das wir damals auch gleich aufgenommen haben – das neugegründete Streichorchester Symphonia Momentum mit dem Debüt-Album Declamatory Counterpoint. Im Grunde ist es für mich immer ein fließender Übergang von allem zu allem: vom Arbeiten mit Solisten über Kammermusik zum Dirigieren und Schreiben. Die Forschertätigkeit, die mich leitet, begleitet mich dabei stets. Ich liebe es nach wie vor, neue Dinge zu entdecken und glaube überhaupt nicht auch nur im Mindesten an das, was mir über den „Kanon der großen Kultur“ erzählt wird. Das ist total uninteressant! Natürlich gibt es ganz große anerkannte Komponisten, die nicht zu übertreffen sind – Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Bruckner, Tschaikowsky, Bartók etc. Aber dann komme ich etwa zu einem Martin Scherber. Am Anfang war ich auch skeptisch, da ich nur die alte Aufnahme der Dritten Symphonie kannte. Ich habe gedacht: Ob das funktioniert, ist eine andere Sache, aber dass dieser Komponist tolle Sachen machen kann, ist klar. Ich musste mich ihm wirklich annähern. Aber wie hat das Orchester diese Musik geliebt, als wir sie dann gemeinsam erkundeten: jeder Musiker im Orchester! Natürlich gab es auch psychologische Hilfsmittel in der Probe: „Wer von euch ist ein Fisch? Wer von euch ist eine Jungfrau?“, und so weiter. Für jeden war ein Satz dabei, das stimmt, aber es lag nicht daran. Tatsächlich sind die Stimmen für alle Musiker so wunderbar geschrieben, dass wir innerhalb dieser kurzen Zeit von vier Proben ein so unglaublich gutes Resultat erzielen konnten. Wie großartig ist es, ein Orchester mit einer so unglaublichen Agilität, Aufmerksamkeit und Demut gegenüber der Musik zu erleben! Freunde haben mir zwar gesagt, das sei zum Glück das beste Orchester in Spanien, es würde mir aus der Hand fressen, aber so gesagt trifft das nicht den Kern der Sache: Das Orchester war von selbst schon so aktiv, alle haben aufeinander gehört.
Wie man lange Steigerungen aufbaut, habe ich natürlich bei Celibidache „inhaliert“, und das hat mir, wie auch das intuitive Erfassen der Balance, sehr geholfen. Mir ist weitgehend klar, was ich ihm verdanke. Die Phänomenologie übrigens entwickelt sich unvorhersehbar weiter. Viele Dinge habe ich im Detail näher ausgekundschaftet, gerade was die Frage nach der Herkunft der Molltonleiter, aber auch viele andere Dinge betrifft. Keineswegs hat die Phänomenologie der Musik mit Celibidache ihr Ende gefunden, er war ihr grandioser Anfang! Woran also sollen sich Musiker heute orientieren? Das lässt sich schwer in wenigen Worten sagen. Jeder kann sich bei mir oder den anderen, die bei ihm gelernt haben, melden. Es kann sehr viel weitergegeben werden. Zur Zeit bin ich dabei, ein Buch über diese Grundlagen zu schreiben. Aber allein aus einem Buch werden diese sich nicht vermitteln lassen. Wir Musiker brauchen ein direktes Feedback zu dem, was wir gerade erleben, tun und denken und sagen. Das ist wichtig, denn Musik soll ja aus dem Lebendigen heraus entstehen. Das Buch wird viel zur Klärung der Fragen beitragen können, aber man muss bedenken, dass es nur einen Teil der Arbeit leisten kann. Es werden Menschen ja auch nicht zwangsläufig spirituell, nur weil sie spirituelle Bücher lesen, und seien diese noch so großartig. Wichtig ist auf jeden Fall, dass man nichts glauben soll, was man nicht selbst nachvollziehen kann, und absolut nichts einfach so zu übernehmen! Ich habe in meinem Leben als junger Mensch mehrfach den Fehler gemacht, dass ich mich nach irgendetwas gerichtet und dann auch arrogant dumme Dinge nachgeredet habe, weil ich dachte, damit auf der richtigen Seite zu sein und klug zu erscheinen. Und dann hat mir irgendwann gedämmert, dass das grundsätzlich dumm und oft genug auch falsch ist. Glaube nichts, was Du nicht erkannt hast! Es geht nicht um Skeptizismus, es geht nicht um ein intellektuelles Misstrauen, um eine scheinbare innere Unabhängigkeit damit zu gewinnen. Es geht darum, nur das, was man wirklich komplett verdauen kann, anzunehmen.
Welche Projekte würden Sie gerne in der Zukunft realisieren?
Da gibt es sehr, sehr viel, was ich unbedingt machen möchte. Müsste ich einzelne Komponisten nennen, so fällt mir etwa sofort Giorgio Federico Ghedini ein, der große Norditaliener, für mich der bedeutendste italienische Komponist des 20. Jahrhunderts. Oder diese beiden phänomenalen Italoamerikaner Vittorio Giannini und Nicolas Flagello, die großen Belcanto-Komponisten des 20. Jahrhunderts. Flagello ist für mich der Tschaikowskij seiner Zeit. Natürlich ist das eine andere Musik, aber diese unglaubliche Direktheit seiner emotionalen Welt, die er dem Hörer schenkt, hat Flagello mit Tschaikowskij gemeinsam. Sie trägt ebenfalls ein großes Leidenspotential. Ein anderer Amerikaner, zufälligerweise auch italienischer Abstammung, ist Peter Mennin, der ganz große amerikanische Symphoniker. Und dann natürlich der Russe Gabriel Popov, aber auch sein jüngerer Landsmann Revol Bunin.
Und dann haben wir die ganzen vergessenen Meister des deutschen Expressionismus: Heinz Tiessen, sein Schüler Eduard Erdmann, Philipp Jarnach, Max Butting, Heinz Schubert, Edmund von Borck. Da gibt es große Leute in Deutschland! Natürlich auch in den vorangegangenen Generationen! Da sind die phänomenalen Dresdner Komponisten wie Jean Louis Nicodé, der ganz große Programmsymphoniker auf einer Stufe mit Strauss und Hausegger, auch ein großer Meister der Anverwandlung, dem, wenn er wie Beethoven oder Schumann schreiben will, das auf dieser Qualitätsstufe auch gelingt. Das schaffen die meisten anderen nicht, die so etwas versuchen! In Dresden finden wir auch Felix Draeseke und seine Schüler Paul Büttner und Paul Scheinpflug. Aus England muss natürlich John Foulds genannt werden, aber auch Bernard Stevens, Peter Racine Fricker, Arnold Cooke, Christian Darnton. Es gibt so verschiedene Komponisten, die einen sind mehr konservativ, die anderen öffnen völlig neue Fenster. Der Franzose Jean-Louis Florentz ist für mich einer der ganz großen Komponisten der abendländischen Musik überhaupt, die Krönung der französischen Orchestermusik auf der Grundlage von Debussy, Ravel und Florent Schmitt; ein moderner Meister, Schüler von Messiaen, aber weit über den Lehrer hinausgegangen, mit einer Lebendigkeit, einem Sinn für Geschlossenheit der Form und einer ganz anderen Neuerungskraft als wie die akademische Moderne sie sich vorstellt. Auch Anders Eliasson aus Schweden ist solch ein ganz großer moderner Meister abseits dessen, was man als modern versteht. Oder der große Improvisator Pehr Henrik Nordgren, ein Komponist von einer unglaublichen Authentizität. Ja, da gibt es ganz viel phänomenale Musik!
Celibidache verdanke ich auch hier wichtige Anregungen. Erst einmal bin ich durchgegangen, was er alles an neuer Musik dirigiert hat. Natürlich sind das nicht alles große Werke gewesen. Es finden sich auch Stücke darunter, die wurden aufgeführt, weil ein Auftrag vergeben worden war und Celibidache eben zu der Zeit dort dirigiert hat. Die Partita für Streichorchester von Franco Margola beispielsweise ist kein bedeutendes Werk. Aber was er von Ghedini dirigiert hat, etwa die Contrappunti per tre archi ed orchestra, von denen es eine fantastische Aufnahme Celibidaches gibt, hat mir, wie man so schön sagt, den Boden unter den Füßen weggezogen. Oder die Erste Symphonie von Egon Wellesz, oder Paul Höffer – er hat Werke als erster aufgeführt, die ganz großartig sind! Und das hat mich angeregt. Dann habe ich das Feld noch viel weiter erforscht – ich war ja bis 2010 nicht als Dirigent tätig. Meine Tätigkeit als Journalist habe ich genutzt, um jeden mir erreichbaren Winkel auszuforschen, mir die Partituren zu besorgen, mich mit der Musik zu beschäftigen und im Unbekannten nach dem zu suchen, was wirklich Substanz hat. Und da ist viel!
In Spanien ist gerade Conrado del Campo, ein ganz großer Streichquartettkomponist, im Kommen, weil die Spanier selbst gemerkt haben, wie wertvoll seine Musik ist. Ja, so geht das Stück für Stück, man findet immer wieder die unglaublichste Musik: jetzt eben erst ein Violinkonzert von Mario Guarino, ein Meisterwerk der Post-Puccini-Musik, instrumentaler Verismo vom Allerbesten – und von Aldo Ferraresi auch so aufgeführt, dass man verstehen kann, dass das ganz große Musik ist. Es gibt meiner Meinung nach noch unglaublich viele große Komponisten, die noch nicht entdeckt sind, und natürlich unglaublich viele unbedeutende. Selbstverständlich muss man seine Nase schulen! Bei der Suche kommen mitunter glückliche Fügungen zu Hilfe. Ich bin natürlich in sehr vielen Antiquariaten unterwegs gewesen. Als es das Knobloch-Antiquariat in München noch gab, lag da einmal eine Partitur von Heinz Schubert, Präludium und Toccata für doppeltes Streichorchester. Und darin lag als Schreibmaschinendurchschlag ein Brief von Heinz Schubert mit Aufführungsanweisungen an den Dirigenten Wilhelm Sieben, der das Werk damals mit den Berliner Philharmonikern aufführte. In Barcelona stieß ich auf Conrado del Campos Caprichos Románticos für Streichquartett: Plötzlich liegt so eine Musik vor dir und du siehst, dass das wirklich Substanz, wirklich etwas zu sagen hat! So habe ich auch eines Tages die drei Scherber-Symphonien in dem erwähnten Münchner Antiquariat gefunden: jede für 10 €!
Ja, so geht das, und plötzlich stößt man auf ein Wunder wie John Foulds, der eine solch lichte Welt in diese Moderne hineingebracht hat, ganz gegen den herrschenden Zeitgeist der Destruktion. Natürlich ist sein Werk mittlerweile erschlossen, aber noch nicht eigentlich entdeckt. In jedem Land finden sich große Komponisten, man kannst durch alle Gegenden gehen. In Tschechien habe ich jetzt Viktor Kalabis für mich entdeckt, aus dem Kosovo Rexho Mulliqi. Und kaum habe ich da wieder etwas gefunden, tauchen auch schon wieder am Horizont die nächsten ein, zwei, drei Leute auf. Der eine oder andere darunter stellt sich dann als sich relativ schnell abnutzend heraus: Man merkt sehr bald, dass eine Masche vorliegt. Der andere wird umso größer, je besser man ihn kennenlernt. Ghedini, der so unglaublich vielseitig war und doch immer seine eigene Stimme hat, ist es in einmaliger Weise gelungen, das alte Italien heraufzubeschwören und mit einer neuen Sprache zu verschmelzen. Daraus entstand eine wirklich italienische Musik im schönsten Sinne für das 20 Jahrhundert. Vittorio Giannini, der einer Opera Company entstammt, sozusagen in der Oper aufgewachsen ist, hat dann einfach in dieses Italienische in die Neue Welt hineingeschrieben. Amerikanische Elemente haben dabei auch Einzug in seinen Stil gehalten, wobei aber eine tiefe Musik entstanden ist, ganz im Widerspruch zu allem, was man vielleicht von einer solchen Verschmelzung erwartet hätte. Sein Schüler Nicolas Flagello mit seinem verzweifelten inneren Wesen hat diesem Idiom dann zu einer existenziellen Dimension verholfen und letztlich damit Giannini wieder rückbeeinflusst.
Es geschehen in der Musikwelt Dinge, von denen die Allgemeinheit keine Ahnung hat, abgesehen von ein paar Leuten, die damit speziell vertraut sind, die dann aber wieder Anderes nicht kennen. Es ist unglaublich, was alles da ist, und was davon wirklich in eine breite Öffentlichkeit gehört! Deswegen ist es für uns so wichtig, dass wir nicht einfach drei Tage ins Studio gehen und dann Flagello aufnehmen. Wir wollen die Musik nicht konservatorisch behandeln. Wir wollen keine museale Repertoireerschließung, wie sie heutzutage zu oft betrieben wird. Etwas einzuspielen, nur damit es auf Tonträger vorliegt und ins Archiv gestellt werden kann, ist nicht Sinn der Sache! Wir wollen so nahe wie möglich zum Kern vorstoßen und im Prozess gemeinsamer Arbeit die Musik so einstudieren, dass sie jedermanns innerer Besitz werden kann, dass wir sie in einem oder mehreren Konzerten, am besten auf einer Tournee, in der Öffentlichkeit spielen, sie auf diese Weise mit den Konzertbesuchern und schließlich durch eine Aufnahme mit der Welt teilen können. Dazu suchen wir Geldgeber, Menschen, die diese Idee genauso mittragen wollen und sagen: „Das ist es wert, damit die Kultur wirklich lebendig wird!“
Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985), Komponist der von Gott und Mensch, Mysterium, Passion und Gebet handelnden Kantate Die Botschaft, der Missa In Terra Pax, einer der großen A-cappella-Messen des 20. Jahrhunderts, sowie zahlreicher kleinerer kirchenmusikalischer Werke, war ein sakraler Künstler durch und durch. Wie Anton Bruckner, dem er größte Verehrung entgegenbrachte, und Heinrich Kaminski, der sein wichtigster Lehrmeister war, zählt er zu jenen musikalischen Schöpfernaturen, die sich auch dann in einer geistlichen Sphäre bewegen, wenn sie nicht explizit für kirchliche Anlässe komponieren oder einen religiösen Text vertonen. Ein feierlicher Grundton prägt sein gesamtes Schaffen, verdichtet sich zu innigster mystischer Versenkung oder steigert sich in hymnisch-ekstatische Verkündigung hinein; stets auf Grundlage einer Polyphonie, die keine akademische Handwerksarbeit ist, sondern ein von blühendstem Leben durchdrungenes gegenseitiges Umranken selbstständig geführter Stimmen, die immer singen, das Werk sei vokal oder instrumental.
Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass Schwarz-Schilling im Laufe seines Lebens auch wiederholt Musik mit Bezug zum Weihnachtsfest geschrieben hat. Der gemeinsamen Thematik zum Trotz handelt es sich bei den entsprechenden Kompositionen um Werke sehr unterschiedlichen Charakters. Das Thema „Weihnachten“ wird von Schwarz-Schilling musikalisch gleichsam aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.
Aus dem Jahr 1947 stammt eine schlicht Weihnachtsmusik (WV 79) betitelte Sammlung aus zwölf Choral- und Liedsätzen. Sie enthält folgende Titel:
Ave Maria zart
Ein Kind geborn zu Bethlehem
Gott sei Dank durch alle Welt
Herbei o ihr Gläubigen
In dulci jubilo
Kommet ihr Hirten
Kommt und lasst uns Christum ehren
Mein Herz will ich Dir schenken
Singet frisch und wohlgemut
Vom Himmel hoch o Englein kommt
Was ist für neue Freud
Wie schön leuchtet der Morgenstern
Diese zwei- und dreistimmigen Sätze, die gleichermaßen von Singstimmen wie von Instrumenten ausgeführt werden können, sind wunderbare Beispiele edler Einfachheit. Die Spieler und Sänger finden hier handwerklich feinstgearbeitete weihnachtliche Miniaturen vor, ohne vor unüberwindliche Herausforderungen gestellt zu werden. Ohne Weiteres können die Stücke zum häuslichen Musizieren oder als gottesdienstliche Musik verwendet werden.
Eine Schallplattenaufahme aus dem Jahr 1960 (Cantate, T 72719 K/1960) zeigt sehr schön das Potential der vielfältigen Besetzungsmöglichkeiten. Unter der Leitung von Wilhelm Ehmann musizieren hier Maria Friesenhausen und Rotraut Pax (Sopran), Frauke Haasemann (Alt), Rosemarie Lahrs (Violine), Hanni Hennig (Violine und Viola), Heinrich Haferland (Violoncello) und Arno Schönstedt (Orgel) eine Auswahl von acht Stücken der Sammlung, die teils a cappella, teils rein instrumental, teils gemischt erklingen und in der gewählten Anordnung wie eine kleine Kantate klingen. Die Weihnachtsmusik, die der Komponist 1977 einer Revision unterzog, ist in der Edition Merseburger erschienen.
1958 komponierte Schwarz Schilling im Auftrag des RIAS eine Adventskantate für Sopran oder Tenor, zweistimmigen Frauen- oder Männerchor, Violine, Viola und Orgel über das Lied O Heiland reiß die Himmel auf (WV 61). Die Melodie aus dem Rheinfelßischen Gesangbuch von 1666 wird in sämtlichen neun Teilen des etwa zehnminütigen Werkes streng als Grundlage festgehalten, sodaß in rein musikalischer Hinsicht eine Art Variationszyklus entsteht. Dem kleinen Ensemble entlockt der Komponist durch Wechsel in der Besetzung und Satztechnik, nicht zuletzt durch kontrastreiche Charakterisierung der einzelnen Liedstrophen ein Maximum klanglicher Vielfalt.
In einem kurzen Vorspiel für die Orgel allein wird die Melodie des Liedes angedeutet, bevor sie in Orgel und Streichinstrumenten vollständig erklingt. Bereits hier werden ihre einzelnen Abschnitte imitatorisch verarbeitet. Anschließend singt der Chor, dezent von den Instrumenten begleitet, die erste Strophe. Die zweite Strophe wird vom Solosopran vorgetragen, wobei die Streichinstrumente leise bebende, rezitierend anmutende Tonwiederholungen spielen. Der sehr sanfte Charakter dieses Abschnitts korrespondiert mit dem „Tau“, den Gott in dieser Strophe aufgefordert wird vom Himmel zu gießen. In belebterem Rhythmus verdeutlicht der Chor das Ausschlagen der „Blümlein“ aus der Erde. Die Fragen und Bitten der nächsten Strophe („Wo bleibst Du, Trost der ganzen Welt?“, „O komm, ach komm vom höchsten Saal“) lässt Schwarz-Schilling echoartig versetzt vom Chor vortragen. Dem sorgenvollen Ton dieses Teiles antwortet der Sopran in höchster Lage, unterstrichen vom Strahlen der Violine: „O klare Sonn, du schöner Stern.“ In imitatorischem Satz klagt der Chor ein letztes Mal: „Hier leiden wir die größte Not.“ Dann wird das Stück von einer Choralbearbeitung nach traditioneller Art beschlossen, die das innere Gleichgewicht wieder herstellt und dem Ganzen ein zuversichtliches Ende gibt: „Da wollen wir all danken Dir, unserm Erlöser für und für.“ O Heiland reiß die Himmel auf ist wie die Weihnachtsmusik bei Merseburger erschienen und wurde auf derselben Schallplatte aufgenommen wie diese. Beide Aufnahmen erschienen nach dem Tode des Komponisten in einer 5 CDs umfassenden Privatedition der Familie Schwarz-Schilling, die nicht für den Handel bestimmt war, sich aber in einigen Musikhochschulbibliotheken finden lässt.
Bereits unter Schwarz-Schillings Jugendwerken findet sich ein weihnachtlich konnotiertes Stück. Es handelt sich um die Variationen über ein Weihnachtslied, die im Januar und Februar 1920 entstanden, als der Komponist im 16. Lebensjahr stand und noch seinen ursprünglichen Namen Reinhard Schwarz trug. Ihnen liegt das Lied „Menschen, die ihr wart verloren“ zugrunde. Zwar sind sie für Klavier gedacht, dürften sich aber auch für die Orgel eignen und in weihnachtlichen Aufführungen verwenden lassen. Mit der komplexen Polyphonie der späteren Werke Schwarz-Schillings wartet diese frühe Arbeit noch nicht auf, zeugt aber bereits von der Phantasie des Komponisten als Harmoniker und von seinem Sinn für tonale Entwicklungen: Die letzte Variation steht in Des-Dur, bevor die Coda zum C-Dur des Themas zurückkehrt. Mit zwei weiteren frühen Klavierstücken zu einem Band vereinigt, sind diese Variationen in der Reihe Beyond the Waves bei Musikproduktion Jürgen Höflich erschienen.
Am 28. August 2021 spielte das Streichorchester Symphonia Momentum unter Leitung von Christoph Schlüren im Kornspeicher des Hotels Dorfmühle in Lehrberg die Streichersymphonie Nr. 13 c-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy, Bitten, den von Lucian Beschiu für Streicher gesetzten Schlussteil der Motette Über die Schwelle von Reinhard Schwarz-Schilling, und das Streichquintett F-Dur von Anton Bruckner als Streichersymphonie.
Mit dem Kornspeicher der ehemaligen Dorfmühle, deren Gebäude nunmehr das Hotel Dorfmühle beherbergen, verfügt Lehrberg, ein Markt in Mittelfranken nahe Ansbach, über eine Spielstätte besonderer Art. Der mit einer Orgel ausgerüstete Konzertsaal dient seit seiner Einweihung im Jahr 2017 als Veranstaltungsort der Lehrberger Mühlenkonzerte, in deren Rahmen es bereits zu einer stattlichen Anzahl an Aufführungen von Chor-, Orgel-, Kammer- und auch Orchestermusik gekommen ist. Die Ereignisse des Jahres 2020 hatten zu einer vorübergehenden Unterbrechung der erfolgreichen Reihe geführt, sodass im Kornspeicher insgesamt 20 Monate lang keine Konzerte stattfinden konnten. Nicht nur aus diesem Grund konnte man höchst gespannt sein auf das Konzert, das die erzwungene Stille am 28. August 2021 beendete und damit hoffentlich den Auftakt zu einem neuen Kontinuum musikalischer Veranstaltungen in Lehrberg gegeben hat.
Das 19-köpfige Streichorchester Symphonia Momentum (fünf erste und vier zweite Violinen, je drei erste und zweite Bratschen, drei Violoncelli und eine Kontrabassistin, die die ihr zugeteilten Stellen profund stützte) brachte unter der Leitung seines Gründers Christoph Schlüren drei Kompositionen zur Aufführung, die nicht nur verschiedenen Epochen angehören, sondern auch ursprünglich verschiedenen Besetzungen zugedacht waren: Die 1823 begonnene und nach dem ersten Satz nicht weiterführte Streichersymphonie Nr. 13 c-Moll des 14-jährigen Felix Mendelssohn Bartholdy, die den Abend eröffnete, wurde als einziges Werk des Programms original für Streichorchester komponiert. Mit Reinhard Schwarz-Schillings Bitten folgte ein Stück instrumental ausgeführter Vokalmusik: Es handelt sich um den Schlussteil der A-cappella-Motette Über die Schwelle op. 76 aus dem Jahr 1975, den der Komponist Lucian Beschiu der Streicherliteratur hinzugewonnenen hat. Das weitaus umfangreichste Stück bildete den Abschluss: Anton Bruckners Streichquintett F-Dur von 1879 war in chorischer Aufführung zu hören, und damit als zweite Streichsymphonie in diesem Konzert. Diese Werke mögen zeitlich weit auseinanderliegen – Mendelssohns Symphoniesatz entstand im Jahr vor Bruckners Geburt, Bruckners Quintett ein knappes Jahrhundert vor Schwarz-Schillings Motette –, und in ganz verschiedenen Schaffensphasen der jeweiligen Komponisten entstanden sein – ein Jugendwerk steht den Kompositionen eines 55- und eines 71-Jährigen gegenüber –, dennoch kam in dieser Vortragsfolge das ihnen Gemeinsame, sie miteinander Verbindende außerordentlich deutlich zum Ausdruck, während das, was sie historisch-stilistisch voneinander trennen mag, in den Hintergrund trat. Neben der formalen Abrundung, der Natürlichkeit, mit welcher sich die Verläufe der Stücke entfalten, als könnte es nicht anders sein, haben sie vor allem den fünfstimmigen Satz als Grundlage gemeinsam. Alle drei Werke entfalten die in ihnen niedergelegten musikalischen Gedanken in meisterhafter Polyphonie.
Dieses Zusammenwirken voneinander unabhängiger Stimmen hörbar zu machen, ist Christoph Schlüren der rechte Mann. Die Konzerte, die er in den letzten Jahren gegeben hat, sind sämtlich Feste der Polyphonie gewesen. Wie sehr er sich in die Struktur der Werke vertieft hat, zeigte sich in Lehrberg nicht nur an den Aufführungen selbst, sondern auch bei dem Einführungsvortrag, den er vor dem Konzert hielt. Mit knappen, auf den Punkt gebrachten Sätzen umriss er die Thematik des polyphonen Hörens im Allgemeinen und ging dann auf die besonderen Merkmale der Kompositionen ein, wobei ihm zur Verdeutlichung des Gesagten die Stimmführer der Orchestergruppen zur Seite standen.
Polyphonie ist melodische Musik, entwickelt sich aus der Linie heraus. Im Konzert zeigte sich, wie intensiv sie erlebbar wird, wenn die Melodielinien nach den ihnen innewohnenden tonalen Verhältnissen entwickelt und gut artikuliert vorgetragen werden. Die Einleitung des Mendelssohnsschen Symphoniesatzes bereitete angemessen darauf vor: Da hörte man nicht ein bloßes Hintereinander punktierter Motive, sondern einen großen melodischen Verlauf, der kontinuierlich Spannung aufstaute, welche sich dann blitzartig im ersten Thema des Allegros in Bewegungsenergie verwandelte. In der damit beginnenden Doppelfuge, deren Ereignisfolge wesentliche Eigenschaften eines Sonatensatzes aufweist – eine völlig organische Verschmelzung klassischer und barocker Formungsprinzipien gelingt dem jugendlichen Komponisten hier! –, hörte man jeden Einsatz der Themen genau. Alle Stimmen verstanden sich darauf, deutlich das Wort zu ergreifen, wenn es verlangt wurde, und vereinten sich zu einem veritablen kontrapunktischen Sturmwind. Die Themenkombinationen wurden in ihrer Eigenschaft als Momente gesteigerter Aktivität trefflich erfasst, was gerade dem Schlussteil des Satzes zugutekam. Der Energie, mit der das Orchester zu Werke ging, entsprach seine Fertigkeit im Spiel. Die Brillanz, mit der die Musiker Mendelssohns rasantes Allegro meisterten, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass man es hier mit einem höchsten technischen Ansprüchen genügenden Klangkörper zu tun hatte.
Schwarz-Schillings Motettensatz evoziert mit seinen subdominantischen Harmoniefolgen eine Stimmung der Introspektion und Rückschau. Aus dieser entsteht gleichsam ein vorbarocker Stil auf Grundlage einer dem frühen 20. Jahrhundert entstammenden Harmonik. Die Musiker lösten in dieser sehr ruhig und verhalten vorzutragenden Musik die Aufgabe, auf ihren Instrumenten zu „singen“ und einen vollen Chorklang zu erzeugen, aus welchem keine Stimme über Gebühr heraussticht, durchweg überzeugend.
Bruckners Streichquintett teilt mit den Symphonien seines Komponisten die expansive Anlage und weitgehend auch den formalen Grundriss. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass alle Themen des Quintetts aus dem Geiste der Streichinstrumente erfunden sind. Besonders fällt dies im Kopfsatz auf, dem lyrischsten und zartesten, den Bruckner geschrieben hat, und seinem einzigen, der im Dreiertakt steht. Nichtsdestoweniger verzichtet der Komponist auch in diesem Werk nicht auf großangelegte Steigerungen, lautstarke Höhepunkte und abrupte Wechsel zwischen forte und piano, sprich: auf prägende Stilmittel seiner symphonischen Tonsprache. Eine Darbietung des Quintetts als Symphonie für Streichorchester liegt nicht zuletzt deshalb nahe. Mit rund einer Stunde war Schlürens Aufführung die längste, die ich je von dem Werke hörte, aber sie war auch die spannungsreichste. Der Dirigent nahm sich die Zeit, die zahlreichen Schönheiten des Werkes präzise herauszuarbeiten. Das kontrapunktische Miteinander, namentlich Bruckners bevorzugtes Tonsatzmodell mit einer tragenden Stimme als Hintergrund, um die sich die anderen Stimmen ranken, wurde in all seinen Varianten erlebbar gemacht. Dabei behielt Schlüren immer den Überblick über den Verlauf der Musik, war sich an jeder Stelle sicher, wie er diesen Moment als Teil des Gesamtgeschehens darzustellen habe – eine Sicherheit, die sich hörbar auf die Musiker übertrug und ihnen ermöglichte, stimmige Rubati auszuführen, in denen der Grundpuls der Musik bei aller Freiheit im Tempo noch vernehmbar nachklang. So entfalteten die Violinen und Bratschen wunderbar ihre breit gezogenen, durch den Raum schwebenden Achtelfolgen zu Beginn der Durchführung im ersten Satz und führten in der ähnlich gestalteten Rückleitung zur Reprise ebenso sicher wieder ins Hauptzeitmaß zurück. Schlürens umsichtige Tempogestaltung kam besonders dem Finale zu gute, dessen Anfang und Schluss eine selten zu hörende melodische Geschlossenheit ausstrahlten und nicht, wie leider in zu vielen Aufführungen, übereilt wirkten – lebhaft bewegt muss nicht gehetzt heißen. Die ungewöhnliche Bogenform des Satzes erfasste Schlüren als ein allmähliches Vordringen zum Kern, nämlich dem wuchtigen Fugato in der Mitte, nach dessen beruhigtem Abklingen die Musik in umgekehrter Reihenfolge zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Der gleiche Prozess einer Intensivierung mit anschließender Entspannung wurde im Scherzo deutlich gemacht, das sich ebenfalls in seiner Mitte verlangsamt. Zum Höhepunkt des ganzen Konzerts geriet das Adagio des Quintetts, das sich voll innerer Ruhe in großen Bögen entfaltete. Der Beschaffenheit dieser Bögen konnten die Zuhörer bis in die kleinsten Phrasen nachspüren: Man hörte genau, wie die Melodien die metrischen Schwerpunkte berührten, sich von ihnen lösten und sich sammelten, um auf die jeweils nächsten zuzusteuern. Der wahre Takt dieser Musik wurde vernehmlich: nicht das metronomische Klopfen, wohl aber das musikalische Atmen.
Das Trio Montserrat, bestehend aus Joel Bardolet (Violine), Miquel Córdoba (Viola) und Bruno Hurtado (Violoncello), hat für Aldilà Records eine Anthologie kontrapunktischer Meisterwerke für Streichtrio eingespielt. Es erklingen drei Fugen aus Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Clavier, arrangiert und mit Einleitungen versehen von Wolfgang Amadé Mozart, Paul Büttners Triosonate in sieben kanonischen Sätzen, die Kammersonate von Heinz Schubert und das Streichtrio von Reinhard Schwarz-Schilling.
Wer die Veröffentlichungen von Aldilà Records aufmerksam verfolgt hat, wird gemerkt haben, daß das Werk Johann Sebastian Bachs ebenso zu den Schwerpunkten der verdienten Münchner Musikproduktion gehört wie die Erkundung der Spuren, die die Beschäftigung mit Bach im Schaffen späterer Komponisten hinterlassen hat. Letztere hat erfreulicherweise zu einer Anzahl Einspielungen (z. T. Ersteinspielungen) von Werken Heinrich Kaminskis (1886–1946) und seiner beiden wichtigsten Schüler Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985) und Heinz Schubert (1908–1945) geführt, und auf diese Weise einen nicht zu unterschätzenden Beitrag dazu geleistet, der musikalischen Öffentlichkeit den Wert dieser drei hochbedeutenden Komponisten und ihrer expressiv-kontrapunktischen Musik ins Gedächtnis zurückzurufen. So erschien 2018 Hugo Schulers Einspielung der Goldberg-Variationen gekoppelt mit Klavierwerken Kaminskis und Schwarz-Schillings. Christoph Schlürens 2019 mit den Salzburg Chamber Soloists entstandene Aufnahme der Kunst der Fuge enthielt auch Schwarz-Schillings dreistimmige Studie über B-A-C-H. 2020 wurde das Solo-Album Gateway Into the Beyond des Geigers Lucas Brunnert veröffentlicht, auf welchem Bachs a-Moll-Sonate BWV 1003 von Werken des 20. Jahrhunderts umrahmt wird, darunter Heinz Schuberts Phantasie für Geige allein. Die nun vom katalanischen Trio Montserrat vorgelegte Streichtrio-Anthologie German Counterpoint schließt nahtlos an diese Reihe an: Wieder bildet Bach den Ausgangspunkt der Programmgestaltung, und wieder ist, mit Heinz Schubert und Reinhard Schwarz-Schilling, der Kaminski-Kreis vertreten (von Kaminski selbst existiert kein Streichtrio); hinzu kommt mit Paul Büttner ein Meister aus einer anderen deutschen Kontrapunktiker-Tradition, der Schule Felix Draesekes.
Joel Bardolet (Violine), Miquel Córdoba (Viola) und Bruno Hurtado (Violoncello) beginnen die Vortragsfolge mit drei der Fugen aus dem Wohltemperierten Clavier (I: es-Moll, II: Fis-Dur und fis-Moll), die von Wolfgang Amadé Mozart für Streichtrio gesetzt und mit langsamen Einleitungen versehen wurden. Mozart, der die Fugen aus einer Auswahl-Abschrift kannte, die die originalen Präludien nicht enthielt, ging seine Aufgabe gewissenhaft an, bemüht den Meisterstücken Bachs jeweils ein ihnen würdiges Vorspiel voranzustellen. Das Resultat ist höchst reizvoll, denn Mozart ist selbst eine so in sich gefestigte Künstlerpersönlichkeit, dazu auch zu sehr von anderen Ausgangsbedingungen geprägt, als dass ihm eine völlige stilistische Angleichung an Bach gelingen würde. So stehen hier zwei Meister verschiedener Epochen einander Auge in Auge gegenüber, ihre Zuhörer zu aufmerksamem, stilvergleichendem Hören einladend.
Dass der nächste Programmpunkt Paul Büttner gewidmet ist, dessen Geburtstag sich im Dezember 2020, wenige Tage vor dem Beethoven-Jubiläum, zum 150. Male jährte, ist zunächst schon allein deswegen erfreulich, da Büttner bislang auf CD nur durch eine einzige Veröffentlichung mit historischen Aufnahmen seiner Vierten Symphonie und der Heroischen Ouvertüre (Sterling) repräsentiert war. Mit der Einspielung seiner Triosonate wurde nun nicht nur zum ersten Mal eines seiner Kammermusikwerke auf Tonträger vorgelegt, sondern überhaupt erstmals eine Komposition Büttners direkt für die CD aufgenommen. Man kann nur wünschen, dass dies ein Anfang ist, denn die geringe Anzahl der bisherigen Veröffentlichungen steht in eklatantem Missverhältnis nicht nur zur Qualität der Büttnerschen Musik, sondern auch zu dem Ansehen, dass der Komponist zu Lebzeiten nachweislich genoss: Zwischen 1915 und 1933 waren seine vier Symphonien in ganz Deutschland regelmäßig zu hören, berühmte Dirigenten wie Arthur Nikisch, Paul Scheinpflug, Carl Schuricht, Fritz Busch und Paul van Kempen setzten sich für ihn ein. Dass diese Rezeption jäh abbrach, hat politische Gründe: Als Sozialdemokrat und Ehemann der jüdischen SPD- bzw. ASPS-Politikerin Eva Büttner wurde Paul Büttner nach jahrelanger Tätigkeit als künstlerischer Direktor des Dresdner Konservatoriums, Kompositionslehrer, Musikkritiker und Arbeiterchorleiter von den Nationalsozialisten aus allen Ämtern gedrängt. In erzwungener innerer Emigration starb er 1943. Nach dem Krieg bewahrte ihm die DDR zwar ein ehrendes Andenken, seine Werke wurden noch gelegentlich in Ostdeutschland aufgeführt, doch galt er als altmodischer Spätromantiker, als nicht mehr „zeitgemäß“; auch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Leben und Werk des Komponisten setzte damals nicht ein.
Wer Büttner von der Sterling-CD her als hervorragenden Gestalter groß dimensionierter symphonischer Architektur kennt, wird vielleicht angenehm überrascht sein, ihn in der Triosonate von einer ganz anderen Seite kennen zu lernen, nämlich als ebenso meisterlichen Miniaturisten. Es handelt sich weder um ein barockisierendes oder bachisierendes Stück, noch um eines in traditioneller Sonatenform, sondern um „Kanons mit Umkehrungen im doppelten Kontrapunkt der Duodezime“, wie der Komponist im Untertitel vermerkt. Die Bezeichnung „Sonate“ ist dahingehend zu verstehen, dass die sieben kurzen Sätze (sie dauern zwischen 39 Sekunden und 3 ¾ Minuten) keine Sammlung darstellen, sondern einen Zyklus bilden – was durch dezente Anspielungen untereinander ebenso bestätigt wird wie durch die tonale Gruppierung um das Zentrum G. Mit diesem Werk demonstriert Büttner, welch souveränes kontrapunktisches Handwerk er sich als Meisterschüler Felix Draesekes erworben hat, und legt ein Kabinettstück vor, dem man durchaus in der Geschichte des „deutschen Kontrapunkts“ einen Ehrenplatz zugestehen darf. Allen Sätzen liegt das gleiche Prinzip zugrunde: Zwei Stimmen spielen im Kanon, die dritte ergänzt freie Töne. Aber es herrscht nicht akademische Prinzipienreiterei in diesem Werk, sondern die Phantasie eines großen Künstlers. Zunächst zeigt sich diese in den verschiedenen Charakteren der einzelnen Sätze und der geschickten Ausnutzung der klanglichen Möglichkeiten der Streichinstrumente. Für Abwechslung sorgen weiterhin technische Kunstgriffe wie Stimmentausch oder Änderung des Einsatzintervalls. Noch wichtiger erscheint jedoch, dass Büttner die Sätze unterschiedlich streng anlegt. Stellt etwa in Nr. 2 und Nr. 4, worin die Imitation im Abstand eines Taktes erfolgt, die kanonische Konstruktion den entscheidenden musikalischen Gedanken dar, so erscheint sie in den beiden langsamen Sätzen Nr. 3 und Nr. 5 beinahe zu einem bloßen Wandern der sich über mehrere Takte erstreckenden Melodien von Stimme zu Stimme gemildert und tritt an Bedeutung gegenüber dem „vollen Gesangston“ (Vortragsanweisung im dritten Satz) zurück. Auch tragen die nicht-kanonischen Takte und die freie dritte Stimme Wesentliches zum Gesamteindruck bei.
Wenige Jahre trennen Büttners wahrscheinlich um 1930 entstandene Triosonate von der zwischen 1934 und 1937 komponierten Kammersonate des eine Generation jüngeren Heinz Schubert. Formal und stilistisch unterscheiden sich beide Werke stark. Lässt sich Büttners Stück insgesamt als heiter und extravertiert charakterisieren (der Freund des werktätigen Volkes lässt es sich auch im strengen Stil nicht nehmen, gelegentlich volkstümliche Töne anzuschlagen), so wirkt in Schuberts Sonate jeder Ton von der Welt abgewandt. „Ach Gott, vom Himmel sieh darein“ bildet in chromatischer Verschärfung die Grundlage für den chaconneartigen Mittelsatz. Ob es sich um einen Kommentar zu den gesellschaftlichen Verhältnissen der Entstehungszeit des Werkes handelt? Es fällt jedenfalls auf, dass Schubert später in seinem zu Beginn des Zweiten Weltkriegs komponierten Hymnischen Konzert ausgerechnet die „Heerscharen“ (Sabaoth) des Te-Deum-Textes nicht vertont und seinem Ambrosianischen Konzert für Klavier und Orchester, dem letzten Werk, das er vor seinem Kriegstod vollendete, der Choral „Verleih‘ uns Frieden gnädiglich“ zugrunde liegt.
Am Anfang der Kammersonate steht ein Stück, das wie eine Improvisation anhebt, präludierende Figurationen wechseln mit Tonrepetitionen ab, wie sie auch Schuberts Vorbild Heinrich Kaminski häufig verwendet. Während sie allerdings bei Kaminski in der Regel an das ehrfürchtige Stammeln eines verzückten Beters erinnern, stellt sich dieser Eindruck hier nicht ein; eher möchte man an das Atemholen eines zutiefst Erschütterten denken. Wie Schubert in diesem Satz, ohne irgendwelchen vorgefertigten Schemata zu folgen, mittels polyphoner Interaktion der Stimmen das Geschehen immer weiter verdichtet und der Musik zunehmende Stringenz verleiht, ist schlicht faszinierend. Eine strenge, unablässig vorangetriebene Introspektion scheint hier Musik geworden zu sein. Am Schluss des Werkes steht eine Fuge, deren Thema während des Verlaufs variiert wird, wobei das Tempo allmählich zunimmt. Der Schluss berstet schier vor Ausdruckskraft. Schuberts Harmonik basiert auf einfachen tonalen Grundverhältnissen, er erkundet in seinem Schaffen jedoch ausgiebig die Möglichkeiten dissonanter Linienführung. Eine diesbezüglich besonders aufschlussreiche Passage aus der finalen Steigerung wurde zur genaueren Veranschaulichung noch einmal separat und und in Zeitlupentempo aufgenommen und dem eigentlichen CD-Programm als Anhang beigegeben. Auch wurden die entsprechenden Noten im Beiheft abgedruckt.
Im Gegensatz zu Heinz Schubert war es Reinhard Schwarz-Schilling vergönnt, ein Spätwerk schaffen zu können, zu welchem sein 1983, zwei Jahre vor seinem Tod, komponiertes Streichtrio gehört. Es besteht nur aus zwei Sätzen, einer mäßig bewegten Rhapsodie und einem langsamen Notturno, die zusammen etwa 10 Minuten dauern. Sie gehören zum Edelsten und Abgeklärtesten, das sich in der Kammermusik des 20. Jahrhunderts finden lässt. Kein Ton ist zuviel, keiner zu wenig. Alles klingt hier entrückt, als ob das Stück sich gar nicht darum zu kümmern schiene, ob jemand zuhört oder nicht. Gelassen und vollkommen in sich ruhend entfaltet es seine klingenden Phänomene. Die stilistischen Grundlagen sind ganz ähnliche wie in Schuberts Kammersonate, doch wie anders klingt diese späte Musik Schwarz-Schillings!
Die drei Musiker des Trio Montserrat sind einander perfekte Partner. Technisch ist ihnen nichts zu schwer, wie man etwa an der makellosen Ausführung der raschen Flageoletts im Vierten Satz des Büttner-Trios hören kann. Zugleich ist sich jeder der Bedeutung seiner Stimme völlig bewusst, was gerade für das Streichtriospiel von essentieller Wichtigkeit ist, kommt es ja hier noch stärker auf jeden einzelnen Ton an als beim Musizieren in Quartett- und größeren Besetzungen, in denen die Vielstimmigkeit von den Ausführenden zwangsläufig erfordert, zwischen „Vordergrund“- und „Hintergrund“-Geschehen zu unterscheiden. Dieses Gespür für das Zusammenwirken der Stimmen ermöglicht dem Trio Montserrat nicht nur ein tadelloses Zusammenspiel, die Musiker bedenken offenbar auch in jedem Moment den Gesamtverlauf der einzelnen Stücke. Sie entwickeln zielstrebig die Phrasen auf die tonalen Schwerpunkte hin – besonders schön zu hören in den Mozart-Präludien –, wodurch sich die jeweilige musikalische Handlung ganz ungezwungen, wie von selbst entfaltet. Keiner der hier zu hörenden Komponisten betrachtete Kontrapunkt als bloße akademische Disziplin. Er war ihnen allen Stilmittel poetischen Ausdrucks, etwas Natürliches, das selbstverständlich zur Kunst dazu gehört. Das Trio Montserrat bringt diese Natürlichkeit zum Klingen.
Ausgehend von der polyphonen Kunst von Altmeister Johann Sebastian Bach in einer Bearbeitung von Wolfgang Amadeus Mozart (KV 404a) von 1782 spielen die drei katalanischen Musiker Joel Bardolet (Violine), Miquel Córdoba (Viola) und Bruno Hurtado (Violoncello) Stücke dreier deutscher, ziemlich unbekannter Meister des 20. Jahrhunderts:
Eine Trio-Sonate des Dresdner Komponisten Paul Büttner (1870–1943) von 1930,
Eine Kammersonate in drei Sätzen von Heinz Schubert (1908–1945), 1934-1937 geschrieben,
und ein Streichtrio von Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985) aus dem Jahr 1983.
Das Programmheft von Christoph Schlüren weist mit Recht darauf hin, dass gerade diese Besetzung dem Komponisten ein Höchstmaß an Können und Intuition abverlangt, steht doch außer den drei verschiedenen Tönen eines Akkords kein vierter zur Verfügung, wenn die Dreistimmigkeit als gegeben vorausgesetzt wird. Dass dabei die Polyphonie dennoch ein gegebenes Kompositions-Mittel der Wahl ist, demonstriert das Trio Monserrat auf hervorragende Weise.
Für mich am leichtesten zugänglich – abgesehen von den drei Kompositonen von Bach/Mozart, die der „normalen“ Tonalität am verbundensten sind – ist die Musik von Paul Büttner, an dem mich immer wieder sein unerschöpflicher melodischer Erfindungsreichtum begeistert. Obwohl doch die Melodie im 20. Jahrhundert ausgedient zu haben schien. Nicht nur bei diesen Stücken, in denen Büttner mit der Form des Kanons spielt, auch bei seinen Symphonien ist die melodische Komponente verblüffend und faszinierend. Auch die Tonalität hat, bei aller Polyphonie, noch lange nicht ausgedient, was natürlich im damaligen Mainstream nicht zum Ansehen der Büttner’schen Musik betrug. Namhafte Dirigenten wie Arthur Nikisch oder Fritz Busch, die sich seiner Werke annahmen, konnten daran nur wenig ändern. So ist und bleibt Paul Büttner einer, dessen Musik noch immer zu entdecken ist. Wozu diese CD ihren dankenswerten Beitrag leistet.
Heinz Schubert, leider viel zu jung gestorben, ist sicher der, dessen Musik am weitesten und kompromisslosesten in die Zukunft wies. Auch wenn sein Nachname sich bis heute als eine allzu schwere Bürde erweist, ist sein Genie unbestreitbar, was auch bei dieser Kammersonate zu hören ist. Gerade bei der „Begrenzung“ auf das Streichtrio ist es verblüffend, welche neuartige Musik und neue Energien Violine, Viola und Violoncello hervorbringen. Vor allem dann, wenn diese von drei Meistern ihres Instruments „in statu nascendi“ gespielt werden. Beeindruckend die Intensität und das Zusammenspiel auch bei schwierigsten rhythmischen und harmonischen Verbindungen.
Heinrich Kaminski (1886–1946), der Lehrer von Reinhard Schwarz-Schilling, sah sich in seiner Musik sicher auch als legitimer Nachfahre des großen Bach. Diese Wertschätzung übertrug sich auf seinen Schüler, was im Streichtrio aus dessen vorletztem Lebensjahr deutlich zu hören ist. Insofern ist der Titel der CD „Deutscher Kontrapunkt“ mehr als gerechtfertigt. Alle drei Komponisten berufen sich in ihren Werken auf den großen Vorgänger Bach, der natürlich die Musik des ganzen 20. Jahrhunderts beeinflusste, direkt oder später auch via Cross-Over in den verschiedensten Formen.
Abgesehen von den merkwürdigen Strömungen der sogenannten 12-Ton Musik nach Schönberg, denen ja auch eine große Anzahl „ausgedachter“ Musik angehörte und noch immer angehört, ist die tonale oder auch die freitonale Musik z. B. eines Anders Eliasson (1947–2013) oder heute eines Robert Groslot (geb. 1951) allen „Seilschaften“ der „Neuen Musik“ zum Trotz eine nie versiegende Quelle der Musenkunst MUSIK. Quod erat demonstrandum.
Eine CD mit drei phänomenalen Streichtrios, zwei davon als Erstaufnahme, hat das Label Aldilà zu seinem zehnjährigen Bestehen herausgebracht: Die Triosonate von Paul Büttner, die Kammersonate von Heinz Schubert sowie den späten Gattungsbeitrag von Reinhard Schwarz-Schilling. Als Ausgangspunkt solcher kontrapunktischen Meisterschaft muss natürlich Bach gelten: Drei Bearbeitungen von Fugen aus dessen Wohltemperiertem Klavier durch Mozart (KV 404a) erweisen ihm anfangs die Referenz. Es spielt das Trio Montserrat.
Höchste Konzentration von den Ausführenden verlangen die beiden hier als Ersteinspielungen vorgestellten Streichtrios: die Triosonate des notorischen Sammlern allenfalls als Symphoniker bekannten Dresdner Komponisten Paul Büttner (1870–1943) sowie die Kammersonate des Kaminski-Schülers Heinz Schubert (1908–1945). Um es gleich vorwegzunehmen: Obwohl sich die drei spanischen Streicher Joel Bardolet (Violine), Miquel Córdoba (Viola) und Bruno Hurtado (Cello) für diese Entdeckungsreise mehr oder weniger spontan als Trio Montserrat zusammengefunden haben, kann man ihre Leistung nicht hoch genug loben. Bei dieser zwar tonalen, dabei kontrapunktisch enorm komplexen Musik benötigt allein die richtige Intonation ein derart perfektes Verständnis des momentanen harmonischen Geschehens, dass man nur staunen kann, wie vollkommen natürlich hier alles gelingt, wie man sich in Sekundenbruchteilen entsprechend anpasst, aber auch insgesamt die Übersicht für die großen Zusammenhänge und die innere Logik behält, und wie dezidiert die drei Musiker mit Hingabe zu einem sprechenden Ausdruck finden, der jeden Hörer berühren muss.
Büttner war der bedeutendste Schüler Felix Draesekes, kam erst relativ spät – ab ca. 1915 – als Symphoniker zu durchschlagendem Erfolg, war aber nach 1933 als bekennender Sozialist faktisch mit einem Berufsverbot belegt. Seine Musik wurde in der DDR zwar ein wenig gepflegt – die einzige derzeit greifbare CD-Aufnahme einer seiner Symphonien auf Sterling stammt von 1967; auf YouTube findet man zum Glück etwas mehr. Wie bei vielen Komponisten, deren rein tonale Musik vielleicht schon vor dem Zweiten Weltkrieg als ein wenig aus der Zeit gefallen erschien, liegt sein Werk heute zu Unrecht im Dornröschenschlaf. Die um 1930 entstandene Triosonate, bestehend aus sieben Miniaturen von insgesamt nur 16 Minuten Dauer, konnte also erst posthum gedruckt werden. Hier werden – oberflächlich betrachtet – vor allem kontrapunktische Finessen des frühen 19. Jahrhunderts wiederbelebt; sozusagen unter der Motorhaube werkelt jedoch elaboriertes Kunsthandwerk vom Feinsten. Zugleich gelingen Büttner hinreißend direkte Charakterstudien, die dann gar nicht so untypisch für die Zeit zwischen den Weltkriegen sind – jede für sich eine kleine Preziose! Faszinierend etwa, wie im gerade mal halbminütigen 4. Satz eine Glasharmonika imitiert wird.
Die eigentliche Überraschung der Veröffentlichung ist ohne jeden Zweifel die Kammersonate des viel zu jung 1945 im Oderbruch gefallenen Heinz Schubert. Der Dessauer studierte 1926–29 in München bei Siegmund von Hausegger und Joseph Haas und brachte es als Dirigent bis zum Rostocker Musikdirektor – was die Nazis nicht hinderte, ihn im „Volkssturm“ zu opfern. Seine offensichtliche Inspirationsquelle war jedoch die hochverdichtete Linearität Heinrich Kaminskis. Wer dessen Chorwerke kennt, weiß, dass diese einen absoluten Höhepunkt einer langen historischen Entwicklung tonalen Kontrapunkts markieren. Heinz Schuberts Kammersonate von 1934/37 setzt hier aber fast noch eins drauf und erweist sich als echtes Meisterwerk: „Die Dichte der essenziellen Ausdruckskraft, die energetische Aufladung von Struktur und Ausdruck drängt beständig danach, die Grenzen des Fasslichen zu überschreiten“ schreibt Christoph Schlüren, dem wir auch als Produzent diese staunenswerte Wiederentdeckung zu verdanken haben, in seinem vorzüglichen Booklettext. Was für eine starke Musik, die das Trio Montserrat auch emotional absolut überzeugend herüberbringt!
Als Alterswerk des engsten Schülers Kaminskis muss sich das Streichtrio (1983) von Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985) naturgemäß nichts mehr beweisen. Abgeklärtheit und eine überragende Klangvorstellung kennzeichnen ein Stück, das nochmal die Hochphase großartiger Kammermusik des Komponisten in Erinnerung ruft.
Schlüren begründet zwar, warum zu Beginn des Programms drei Bearbeitungen von Fugen aus Bachs Wohltemperierten Klavierdurch Mozart 1782 stehen: quasi als Visitenkarte. Dafür komponierte dieser statt der zugehörigen Präludien jeweils langsame Einleitungen. Der Rezensent hätte sich vielleicht eher ein Stück gewünscht, das die deutsche Kontrapunkttradition weise ironisiert: z.B. die in Theresienstadt entstandene Passacaglia und Fuge von Hans Krása – der in Schlürens Aufzählung zahlreicher Komponisten, die für Streichtrio geschrieben haben, keineswegs vergessen wurde.
Gerade, weil sich hier wohl für die meisten gänzlich Unbekanntes als musikalischer Hochgenuss herausstellen dürfte, bekommt dieses frühe Kammermusik-Highlight des Jahres 2021 sofort einen Extraplatz im Regal. Die CD wird nicht nur der Rezensent ganz sicher noch öfters hören: eindeutige Empfehlung!
Orchesterkonzert: Salzburg, 25. Oktober 2019, Salzburg
Chamber Soloists, Christoph Schlüren
Wer sich am 25. Oktober 2019 im Odeion des Salzburger Waldorfcampus eingefunden hatte, hatte das Glück, einer außergewöhnlichen Demonstration kammerorchestralen Musizierens beiwohnen zu können. Die Salzburg Chamber Soloists, jeweils fünf erste und zweite Violinen (darunter der Konzertmeister Lavard Skou Larsen), vier Bratschen, drei Violoncelli und ein Kontrabaß, spielten unter der Leitung von Christoph Schlüren Die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach. Man verzichtete auf ein Arrangement der Kanons und präsentierte Contrapunctus XIV zweimal: am Ende der ersten Konzerthälfte, nach den Contrapuncti I–XI, in der von Bach unvollendet hinterlassenen Gestalt, der sich jener Choral anschloss, mit welchem die Herausgeber des Erstdrucks ihr Publikum „schadlos halten“ wollten; zum zweiten Male, am Ende des Konzerts, mit der sehr geglückten Ergänzung des finnischen Symphonikers Kalevi Aho, die damit ihre österreichische Erstaufführung erlebte. Zuvor erklangen in der zweiten Konzerthälfte nach den Spiegelfugen zwei im wahrsten Sinne des Wortes auf Bach bezogene Stücke aus späterer Zeit: Robert Schumanns Fuge über BACH op. 60/3, für Streichorchester transkribiert von Dan Țurcanu, und Reinhard Schwarz-Schillings Studie über BACH für drei Stimmen, das letzte Werk dieses Komponisten polyphoner Meisterstücke, dessen gesamtes Schaffen im Grunde eine große Hommage an Bach darstellt.
Ein ganzes Konzert mit Stücken, in denen jeder Musiker in
regelmäßigen Abständen das Hauptthema zu spielen hat und auch die Übersicht
behalten muss, wenn gerade „nur“ ein Kontrapunkt in der Stimme steht, ist für
ein Orchester eine besondere Herausforderung. Die Salzburg Chamber Soloists haben es bei der
Bewältigung dieser Aufgabe nicht an Einsatzbereitschaft und Begeisterung fehlen
lassen und folgten hochkonzentriert den Vorgaben ihres Dirigenten.
Schlürens Präsentation der Werke lebte vor allem von der
sorgfältigen Artikulation jeder Stimme. Kein Themeneinsatz ging im Gesamtklang
unter, die kontrapunktischen Verflechtungen wurden fein abgestuft nach dem
Gewicht dargeboten, das den beteiligten Stimmen im jeweiligen Moment zukam,
sodass die Interaktion der Instrumentengruppen trefflich zur Wirkung gelangte.
Mit seinem feinen Gespür für Bachs Formung der musikalischen Verläufe aus dem
Gegeneinander der melodischen Linien legte der Dirigent vorbildlich bloß, wie
einfalls- und abwechslungsreich diese Sammlung aus Stücken in d-Moll ist, die
alle über das gleiche Thema geschrieben sind. So wurde der Abend zu einem
Triumph der Bachschen Kompositionskunst.
Das Konzert wurde mitgeschnitten und man kann nur wünschen,
dass die geplante Veröffentlichung auf CD bald folgen möge.
Freitag, 25. Oktober 2019 in Salzburg, Campus der Rudolf Steiner-Schule, Dorothea Porsche Saal – Konzert „Kunst der Fuge“ ; Christoph Schlüren, Dirigent; Salzburg Chamber Soloists (Leitung: Lavard Skou-Larsen); Werke von Bach, Schwarz-Schilling, Schumann und Aho
Johann Sebastian Bach: Die Kunst der Fuge – Contrapunctus I – XI; Finale, Quadrupelfuge, unvollendet; Choral, Vor Deinen Thron trete ich hiermit; Spiegelungen I und II a 4; Robert Schumann (1810-1856) Orgelfuge g-Moll über BACH Op.60/3 a 4 2019 transkribiert von Dan Turcanu; Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985) Studie über BACH a 3; Finale Quadrupelfuge, 2012 vollendet von Kalevi Aho (geb.1949)
Er ist und bleibt das A&O der
Musik, Johann Sebastian Bach. Das ist die ganz einfache (?) Feststellung nach
dem gestrigen Konzert im Dorothea Porsche Saal im Salzburger Odeion.
Nach einer Einführung mit dem Dirigenten des Abends, Christoph Schlüren, begann um 19 Uhr mit dem Contrapunctus 1 ein Abend der überwältigenden Musik. Die Salzburger Chamber Soloists mit ihrem Konzertmeister Lavard Skou-Larsen musizierten unter der Leitung des Münchener Dirigenten Christoph Schlüren ein intensives Programm mit ausgewählten Stücken aus dem letzten Meisterwerk Bachs, der „Kunst der Fuge“. Und was für eine Kunst sich da entfaltetete! Immer neue und unvermutete Aspekte des Eingangs-Themas wurden aufgeblättert und im Entstehen aus der Taufe gehoben. Geleitet vom gelassenen und dennoch energischen Dirigieren wurde dieser Riesen-Kosmos aus Klängen, Rhythmen, Harmonien und Stimmführungen von den mit intensivstem geistig-seelisch-musikalisch spielenden Musikerinnen und Musikern zum hörgewaltigen Erleben. Was waren in den vertracktesten Kombinationen, den ausgefeiltesten Zusammenklängen, den kraftvollsten Durchdringungen der einzelnen Stimmen für Offenbarungen vor unsere Ohren, Augen und Herzen gestellt.
Alle 11 Contapuncti – jeder
einzelne eine eigene Welt – offenbarten nicht nur die unglaubliche und immer
wieder aufs Neue faszinierende Meisterschaft des „Alten Bach“, sie gaben im
zweiten Teil auch den Nährboden für zwei Kompositionen von Robert Schumann und Reinhard
Schwarz-Schilling und regten eben auch den finnischen Komponisten Kalevi Aho
2012 zu der Vollendung der letzten Fuge
an. Welche Steigerung auch oder gerade heute möglich ist, zeigte dieser
Komponist und mit ihm die auf allerhöchstem Niveau Spielenden. Die schier bis zu
einer unmöglich scheinenden Ausbreitung der Kontrapunktik und der musikalischen
Energie ließ einen denkwürdigen Abend ausklingen, der sicher zum allertiefsten
gehört, was ich bisher in meinem Leben erleben durfte.
Der argentinische Pianist Hugo Schuler präsentiert am 3. Februar 2018 zwei Ausschnitte aus seiner frisch erschienenen CD „Goldberg+“ und andere Werke im Freien Musikzentrum München. Auf dem Programm stehen Bachs Präludien und Fugen Fis-Dur BWV 858 und fis-Moll BWV 859, Reinhard Schwarz-Schillings Klavier-Sonate, „Soñé que tú me Ilevebas“ von René Vargas Vera, ein Impromptu von Santiago Santero, Heinrich Kaminskis Präludium und Fuge f-Moll und Johann Sebastian Bachs Chaconne d-Moll in Brahms‘ Transkription für Klavier linke Hand.
In den letzten Wochen und Monaten kam ich in den Genuss mehrerer überzeugender Konzerte, doch was am 3. Februar 2018 im Freien Musikzentrum München zu hören ist, übertrifft all die anderen um Längen. Die spärlich besetzte kleine Halle reißt Hugo Schuler von den ersten Tönen an in seinen Bann und entlässt sie erst nach dem ohne Pause gespielten Mammutprogramm. Schuler lässt keine Zeit für Applaus zwischen den Stücken, zu wichtig ist ihm der große Bogen, den er über den gesamten Abend spannt. Die Reise beginnt mit Bach (Präludien und Fugen Fis-Dur BWV 858 und fis-Moll 859), setzt sich mit Schwarz-Schillings Klavier-Sonate von 1968 als „Bachs Widerhall im 20. Jahrhundert“, wie Schuler es titulierte, fort und reicht bis zu zeitgenössischer Musik aus Argentinien, René Vargas Veras „Soñé que tú me Ilevebas“. Hier ist der Wendepunkt und es geht in rückläufiger Reihenfolge von Argentinischem (Santiago Santeros Impromptu von 2006) über eine grandios freie Bach-Hommage (Kaminskis Präludium und Fuge f-Moll aus dem Klavierbuch III von 1935) zurück zu Bach, oder zumindest einer Transkription seiner Musik, zu Brahms‘ Version der Violinsolo-Chaconne d-Moll für die linke Hand.
Über Schwarz-Schilling und Kaminski wurde bereits in der Rezension zu Schulers CD berichtet, René Vargas Veras „Soñé que tú me Ilevebas“ ist ein folkloristisches, sanftes Stück in himmlischer Harmonie, Santeros Impromptu nutzt Cluster und scharfe Dissonanzen auf eine ruhige und innige Weise. Trotz einer leichten Überlänge erreicht der Komponist eine innerlich aufbegehrende und dabei fokussierte, schwebende Wirkung, die Eigenständigkeit und Charakter besitzt.
Hugo Schuler tritt menschlich, offen und souverän auf, ist sogar vom Applaus der nur etwa 15 Zuhörer überwältigt, strahlt große Sympathie aus. Pianistisch ist er überragend, besser noch als bei seinen letzten – nicht minder bravourösen – Auftritten und vielleicht (womöglich wegen des Live-Effekts) noch offenkundiger die Musik erspürend als auf seiner CD. Die Vielstimmigkeit in den kontrapunktischen Werken realisiert er auf unerhörte Art und Weise, selbst die Chaconne-Transkription für die linke Hand klingt, als spiele er sie mit zumindest drei Händen und drei Gehirnen. Dieser Effekt gelingt ihm dadurch, dass er jeder Stimme eine besondere Klang-Nuance verleiht und sie so von den anderen abhebt, wenngleich er sie stets in Beziehung zueinander setzt. Die einzelnen Stimmen gestaltet er detailreich differenziert in ihrer Phrasierung und Artikulation, einzelne Noten hebt er aus der Reihe fallend durch gegensätzlichen Anschlag ab, was so unerwartete wie stimmige Effekte erzeugt und die Konzentration hochhält. Die Fugen-Sujets sind ausnahmslos hervortretend vernehmbar, selbst die stark variierten und metamorphosierenden Einsätze bei Kaminski. Schwarz-Schillings Klavier-Sonate besticht auch durch ihre rhythmischen Prägnanz und beinahe rockige Akkorde, und und fesselt mit ihrem überirdischen Mittelsatz, der sich von der Ein- zur Vierstimmigkeit aufschwingt. Die argentinischen Stücke nimmt Schuler in meditativer Konzentration, schafft dabei wirkungsvolle Kontraste zum restlichen Programm. Die Chaconne ertönt unprätentiös und ohne jeglichen veräußerlichenden Effekt, eine Reduktion auf das Wesentliche und der Musik Dienliche, die so gar nichts Asketisches hat. So beendet Hugo Schuler einen Abend, der seines Gleichen sucht.
Hugo Schuler spielt auf zwei CDs Werke mit Ausgangspunkt bei den Goldbergvariationen Bachs. Wir hören Johann Jacob Frobergers Toccata in G FbWV 103, Bachs Präludien und Fugen b-Moll BWV 867 (WTK I), es-Moll BWV 853 (WTK I) und gis-Moll BWV 887 (WTK II), Preludio cantando e Fuga, die Klavier-Sonate und Studie über BACH von Reinhard Schwarz-Schilling sowie den dritten Teil des Klavierbuchs von Heinrich Kaminski, bestehend aus Präludium & Fuge f-Moll und Präludium & Sarabande d-Moll.
Dass die kleinsten die größten sein können, beweist kaum ein Label deutlicher als Aldilà Records. Vorliegende CD ist erst das sechste veröffentlichte Album des Unternehmens und nicht weniger eine meisterliche Leistung als die vorherigen. Aldilà setzt auf Qualität statt Quantität, und das wird deutlich. Die ersten beiden Veröffentlichungen sind Klavieraufnahmen der italienischen Pianistin Ottavia Maria Maceratini, ein gemischtes Programm von Scarlatti bis Foulds und Tiessen sowie eines, das sich um Robert Schumann dreht, darauf folgte eine historische Doppel-CD mit Sergio Fiorentino, aufwändig neu remastered. Die bislang einzige Orchester-Aufnahme mit Werken von Schwarz-Schilling, Mozart, Hamel, Eliasson, Pärt und Beethoven stammt von Christoph Schlüren und Symphonia Momentum, danach führte Beth Levin uns wieder zurück zur Klaviermusik, spielte Schumann, Schubert und Eliasson. Noch nicht erschienen ist die bereits Ende 2014 aufgenommene und lang ersehnte Solo-CD des Violinisten Lucas Brunnert, den ich vor über vier Jahren als einen der talentiertesten aufstrebenden Musiker seines Instruments kennenlernen durfte.
Nun folgt eine weitere Veröffentlichung, die den gewaltigen Maßstäben des Labels mehr als nur gerecht wird. Hugo Schuler spielt Werke von Froberger, Bach, Kaminski und Schwarz-Schilling. Über Froberger und noch mehr über die epochalen Meisterwerke Bachs ist mehr als genug geschrieben worden, weitgehend unbekannt ruhen Kaminski und Schwarz-Schilling jedoch noch in der Versenkung: Zwei ausgezeichnete Musiker und Individualisten des 20. Jahrhunderts, welche die Brücke zwischen traditionell und fortschrittlich schlagen und jahrhundertelange westliche Musiktradition in ihrem Schaffen mit dem Hier und Jetzt einen konnten. Heinrich Kaminskis Stil ist dicht und kontrapunktisch, aber nicht weniger expressiv und zutiefst menschlich. Seine Bewunderung galt der Stilistik der Barockzeit, allem voran Bach, aber auch dem Weiterleben der großformalen kontrapunktischen Meisterschaft bei Beethoven und Bruckner. Auf unerhörte Weise griff Kaminski alte Stilformen auf und integrierte sie in den Kontext einer expressionistischen Realität. Die ergreifende Wirkung dieser Musik hat eine immense Ausstrahlung. und so scharte Kaminski einen großen Anhängerkreis um sich und war auch im Dritten Reich ein geduldeter, nicht als „Neutöner“ abgestempelter Künstler – wo er jedoch zuerst als Halb-, dann als Vierteljude eingestuft wurde und sich zurückziehen musste. Der bekannteste Schüler Kaminskis ist Carl Orff, noch bedeutender dürften jedoch wohl Heinz Schubert und Reinhard Schwarz-Schilling gewesen sein. Schubert starb in den letzten Kriegswochen, ohne nur ein Klaviermusikwerk geschrieben zu haben, Schwarz-Schilling lebte mit seiner jüdischen Frau, welche gefälschte Papiere erhielt, glücklicherweise unbehelligt weiter und verstarb erst 1985. Auch für Schwarz-Schilling war Bach zentraler Referenzpunkt, ihm widmete er noch sein allerletztes Werk, die Studie über BACH. Wie auch Kaminski bereicherte er die seines Erachtens noch lange nicht ausgeschöpfte Tonalität weiterhin durch kühne Dissonanzen und extreme Registrierungen, blieb jedoch innerhalb ihrer wahrnehmbaren und unmittelbar mitverfolgbaren Grenzen. So schuf er abstrakte und eigenwillige, zeitgleich aber auch verständliche und nachvollziehbare Werke. Weder Kaminski noch Schwarz-Schilling komponierten viel Musik für das Klavier, alle hier zu hörenden Stücke sind kommerzielle Ersteinspielungen.
Charakteristisch ist das Spiel Hugo Schulers in erster Linie durch seinen ausgeprägten Sinn für Mehrstimmigkeit. Bis hin zu fünf Stimmen verlangt Bach in seinem Wohltemperierten Klavier, und tatsächlich werden all diese als eigenständige Individuen wahrnehmbar. Schuler gibt den Stimmen bestimmte Eigenheiten, so als spielte er sie auf unterschiedlichen Klaviaturen wie bei einem zeitgenössischen Cembalo. Jedes Detail ist minutiös durchdacht, von der fein zwischen Legato, Non-Legato über flötenhaftes Detachée hin zu klingendem Staccato changierenden Artikulation bis zum bewussten Gebrauch der Pedale. Besonders das linke Pedal sorgt bei manchen der Goldbergvariationen sowie im es-Moll-Präludium für hinreißende Magie. Hugo Schulers Darbietung ist äußerst persönlich, überträgt sich auch auf den Hörer, verleugnet aber nicht weniger die Zeit der Komposition, verfällt nie in Romantizismus. Der Gesamtkontext steht im Fokus des Pianisten, er betrachtet die Stücke als großen Bogen, unter welchem jede Phrase ein sinnvolles Glied innerhalb der Fortschreitung von der ersten zur letzten Note ist. Und so hält er die Spannung sogar über die 80-minütigen Goldbergvariationen (in denen er einige wenige Wiederholungen bewusst ausließ, um die Gesamtform noch bezwingender zu gestalten). Die tonal fordernden Werke Kaminskis und Schwarz-Schillings verwirklicht er ebenso zielsicher und reflektiert in innerer Ruhe und orchestral in der mehrstimmigen Ausführung, dass oft kaum zu glauben ist, dass hier nur ein einziges Klavier erklingt. Den Ohren ganz besonders schmeichelnd kommt der sanfte und voluminöse Klang des Fazioli-Flügels hinzu, der wie maßgeschneidert ist für die musikalischen Ansprüche Hugo Schulers.
[Oliver Fraenzke, Januar 2018]
Folgende Termine:
03. Februar 2018: Freies Musikzentrum München
HUGO SCHULER, Piano: Johann Jakob Froberger (1616-1667), Johann Sebastian Bach (1685-1750), Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985), Heinrich Kaminski (1886-1946)
Aldila Records ARCD 007; EAN: 9 003643 980075
Nachfolger und Vorläufer von Johann Sebastian Bach neben dem eigentlichen Hauptwerk, den Goldberg-Variationen, sind auf dieser Doppel-CD versammelt. Natürlich hatte Bach Vorläufer, einer davon, der große Klavierkomponist Johann Jakob Froberger (1616-67), ist mit seiner Toccata in G FbWV 103 vertreten, ein famoser Einstieg in die Welt der Polyphonie, die ihren Reiz und ihre Potenz ja bis heute unvermindert bewahrt hat. Dann kommt Bach selbst zum ersten Mal zu Wort mit dem Präludium und der Fuge in b-moll BWV 867 aus dem Wohltemperierten Klavier I. Sofort wird der Tonfall der Musik vertrauter, wie bei den anderen Bach’schen Kompositionen auf der ersten CD auch. Denn an dritter Stelle stehen zwei Kompositionen des „Nachfolgers“ Reinhard Schwarz-Schilling (1904-85), der wie selbstverständlich und unüberhörbar an den alten Meister anknüpft. Sein Preludio cantando e fuga und seine ‚Studie über B-A-C-H’ von 1985 – eines seiner letzten und zugleich tiefsten Werke – verbinden die Bach’sche Polyphonie mit der Klangsprache des 20. Jahrhunderts, wie die Stücke von Schwarz-Schillings Lehrmeister Heinrich Kamiski (1886-1946) ebenso. Beide sind Großmeister sich weit entfaltender Polyphonie im 20. Jahrhundert, und hier mit insgesamt drei Ersteinspielungen vertreten. Natürlich ist der tonale Raum inzwischen bis fast ins „Übertonale“ ausgeweitet, die strengen Formen der auch aus der Renaissance- und Barockzeit entlehnten Tänze und Strukturen zusammen mit der intensivsten Polyphonie geben den Stücken die selbe bezwingende Klanglichkeit wie in den Kompositionen des alten Meisters. Allerdings gehört natürlich dazu: die Fähigkeit und die Möglichkeit, über die Hugo Schuler auf dem Fazioli-Flügel verfügt, all diese Musik fast wie bei einer Erstaufführung erlebbar zu machen. Sein sehr erhellender Kommentar im ausführlichen Booklet über Struktur und Werden dieser Doppel-CD ist bemerkenswert. Dass ein Pianist so genau über diese Musik und den Zugang dazu Auskunft gibt, ist selten und nicht das kleinste Verdienst dieser Neuerscheinung.
Zu den „Goldberg-Variationen“, die eben nicht auf einem „normalen“ Steinway oder Bösendorfer, sondern auf einem dafür sicher besonders gut geeigneten Fazioli-Flügel erklingen, möchte ich nur sagen: So innig, so ungeheuer musikalisch, so souverän habe ich diesen „Gold-Zyklus“ noch nie auf CD gehört, nein, ohnehin nicht von Martin Stadtfeld auf seiner damals so hochgepriesenen Sony-CD, nein, auch nicht von Glenn Gould, dessen Einspielung sicher auf ihre Art Referenz-Charakter hat und behalten wird, aber so, wie Hugo Schuler diesen Kosmos sich entfalten lässt, mit welcher Ruhe und inneren Gelassenheit sich Thema und Variationen entfalten, wie sowohl Melodik als auch Klang und Struktur hör- und erlebbar werden, das ist einfach nur staunenswert.
Bei seinem Debütkonzert vor einigen Jahren in Deutschland, das ich erleben durfte, fiel mir damals schon auf, wie unprätentiös und hingebungsvoll, ohne irgendwelche falsche Allüre dieser junge argentinische Pianist diese 80 Minuten in einem riesengroßen Bogen nicht nur bewältigte, sondern in aller Klarheit und Emphase gestaltete. Auch auf dieser CD ist davon soviel eingefangen, wie vielleicht überhaut möglich ist, und natürlich freue ich mich schon heute auf Hugo Schulers nächstes Konzert, wo ich diesen wunderbaren Musiker wieder einmal live und leibhaftig hören und erleben darf.
Ulrich Hermann, Januar 2018
Folgende Termine:
03. Februar 2018: Freies Musikzentrum München
Hugo Schuler spielt am 31. Januar 2016 im FMZ Bach, Kaminski, Schwarz-Schilling, Canepa und Ginastera
Stellen Sie sich vor: Sie sind ein wirklich überragender Pianist, berühmt im eigenen Land vor allem auch als Bach-Spieler – nämlich ihrem Geburtsland Argentinien, wie Daniel Barenboim oder Martha Argerich eben – und fliegen nach München, um hier ein Konzert zu geben. Und Sie geben dieses Konzert nicht etwa in der Philharmonie oder wenigstens im Herkulessaal, nein, sie spielen im sog. „Festsaal“ des FMZ = Freies Musikzentrum in der Ismaningerstrasse vor wieder einmal einer Handvoll Zuhörerinnen und Zuhörer. Noch dazu ist den meisten Münchnern erst gar nicht bekannt, wo das FMZ überhaupt liegt, jedenfalls ernte ich oft ein Kopfschütteln, wenn ich jemanden danach frage.
Am Fall des Freien Musikzentrums kann man sehen, wie schwer es ist, einen neuen Klassikstandort zu etablieren in einer Stadt, die dem etablierten Starkult frönt und sich selbst genug ist. Da brauchen auch so ausgezeichnete Reihen wie ‚Backstage on Stage’ Jahre, um größere Publikumskreise zu erreichen. Nun, wir werden sehen, ob die Münchner aufwachen…
Doch genug der Klage, da bin ich sicher nicht allein. Zum Konzert selber:
In den vergangenen Jahren hat Hugo Schuler die Goldberg-Variationen oft gespielt, diesmal im ersten Teil ohne die üblichen Wiederholungen, was eine Spieldauer von ca. 40 Minuten bedeutet und eben ermöglichte, eine Pause einzulegen und danach noch ein Kontrastprogram zu bieten. Bei Schulers erstem Auftreten hier in Deutschland 2014 schrieb ich im alten, leider online nicht mehr verfügbaren „The Listener“:
„Völlig uneitel, versunken, intensivst und gleichzeitig mit größter Gelassenheit entfaltete Schuler die einleitende (und abschließende) Aria mit den folgenden 30 „Veränderungen“, wie sie Bach für den Grafen Keyserlink und dessen Cembalisten Goldberg (einen Schüler Bachs und seines Sohnes Friedemann) komponierte.“
Dem ist auch nach der „verkürzten“ Fassung nichts hinzuzufügen, es sei denn, dass Hugo Schuler noch durchdringender, selbstverständlicher – im besten Sinn des Wortes – und durchaus auch noch horchender, singender und entfaltender diesen Kosmos vor uns ausbreitet, dessen Kühnheit – es gibt doch nur diese 88 Tasten, bei Bach noch nicht mal alle – mich jedes Mal aufs Neue überrascht und mitnimmt. Es kommt eben in diesem Universum alles vor vom Leisesten, Melodiösen bis zum Abstrakten, fast Freitonalen. Besonders in der 25. Variation, einem Adagio, glaube ich die Bach’sche Tonsprache auch beim wiederholten Hören nicht zu fassen, so unvermittelt kommen da – gegen jede Erwartung – die Melodietöne in der rechten Hand. Es ist immer wieder unfassbar, welche harmonischen und melodischen Kühnheiten der alte Johann Sebastian aus der Kompositionstasche zieht, auf welche „Irrwege“ er uns dann und wann lockt, die ja für ihn überhaupt keine sind oder waren.
Nach der Pause dann die Fortsetzung mit zwei Kompositionen von Heinrich Kaminski (1886-1946) – Präludium und Fuge, erschienen 1935 – und seinem einstigen Schüler Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985), die Klaviersonate von 1968.
In beiden Kompositionen wird das polyphone Erbe Bachs deutlich und erkennbar, neben einem strömenden musikalischen Fließen, wo natürlich die Errungenschaften der Musik des 20. Jahrhunderts im Ausdruck und im Charakter hinzukommen. Auch diese Musik ließ Hugo Schuler in all ihrer Größe und klanglichen Farbigkeit entstehen – es wird auch bald bei Aldilà Records Schulers Debüt-CD mit den Goldberg-Variationen und diesen Werken erscheinen.
Zum Abschluss zwei Stücke argentinischer Komponisten. Der erste Julio Canepa, ein Zeitgenosse, geboren 1940, schrieb drei Klavierstücke nach einem Bilderzyklus mit einem Boot, die sehr impulsiv und expressiv waren, besonders den unteren Teil der Klaviatur betonend.
Die „Danzas argentinas“ von 1937 – drei Tänze des großen argentinischen Komponisten Alberto Ginastera (1916-1983) – bildeten den temperamentvollen Abschluss und zeigten Hugo Schuler von seiner anderen Seite, die nicht nur dem Publikum, sondern auch ihm selber ersichtlichen Spaß machte. So bleibt nur zu hoffen, dass die Karriere des jungen argentinischen Pianisten ihn auch hier in München bald wieder einmal in einem repräsentativeren Rahmen dem großen Publikum erlebbar macht. Drücken wir ihm und uns die Daumen!