Tomás Luis de Victoria: alio modo
Musica Ficta
Raúl Mallavibarrena, Leitung und Schlagwerk
Sara Águeda, Harfe
Lore Agustí, Sopran
Gabriel Días, Contratenor
Beatriz Oleaga, Alt
Javier M. Carmena, Tenor
Íñigo Casali, Tenor
Simón Millán, Bass
CD 45 Min.,8/2015
©& Enchiriadis 2015
EN 2044
EAN 8 437012 545441
Für uns Klosterschüler war es immer eine höchst eindrucksvolle, ja beinahe surreale Wahrnehmung, wenn wir am Bergwandertag unseren Präfekten, anstatt im gewohnten Mönchshabbit, auf einmal in Jeans und Pullover vor uns herlaufen sahen. Wie sehr doch die Kleidung die gesamte Ausstrahlung eines Menschen verändern kann! Ähnlich erging es mir mit der CD des Ensembles Musica ficta, wo der Leiter Raúl Mallavibarrena sich vorgenommen hat, „Victoria from a different perspective“ (deshalb der Titel „alio modo“) darzustellen.
Der überragende spanische Komponist und Jesuitenmönch Tomás Luis de Victoria (1548-1611) hielt sich die meiste Zeit seines aktiven Lebens in Rom als Nachfolger Palestrinas auf. Zurückgekehrt nach Spanien leitete er die Kapelle des kaiserlichen Klosters De las Descalzas de Santa Clara (der barfüßigen Nonnen) und war nebenbei der persönliche Kaplan der verwitweten Kaiserin Maria. Bis jetzt konnte ich mir Victorias Musik, der ausschließlich sakrale Werke komponiert hat, nur in der hallig-feierlichen Akustik eines Kirchenschiffes und „im Weihrauchnimbus“ vorstellen. Hier nun hören wir Victoria „da camera“, sozusagen unplugged, was natürlich nicht stimmt, weil jeder Sänger (ganz im Trend in einfacher Besetzung) sogar ein eigenes Mikrofon hat. Im Booklet-Text, Autor ist der Leiter des Ensembles selbst, erfahren wir, welch großen Eindruck Andrew Parrots Aufnahmen mit dem Taverner Consort auf den Neunzehnjährigen damals gemacht hatten: „The way of interpreting religious polyphony, closer in style to the madrigal, was new to me. It thrilled me. And then I thought: […] Could vocal lines be rescued from choral anonymity, be given back their individuality, be stripped, albeit partially, oft that all-unifying blanket of cathedral reverberation? […] “ Das, was sich Raúl Mallavibarrena für die Produktion dieser Victoria-CD vorgenommen hat („I call them ‚motets with swing‘“), hat er auch verwirklicht. Der Gesang seiner Ensemble-Mitglieder klingt in der Tat eher profan, also durchaus voller Wärme und Emotionalität. Und dabei ist nicht beabsichtigt (und auch nicht nötig), es an Sauberkeit der Intonation mit den Reinheitsfetischisten aufzunehmen, derer es heute genug gibt (vielleicht mehr als zu Victorias Zeiten…). Aber es bleibt zumindest Geschmackssache, ob man Victoria in dieser Weise aufführen soll. Wem dies gefällt, dem gefallen Madrigale beispielsweise von Luca Marenzio vielleicht noch besser.
Das Beiheft ist (bis auf Mallavibarrenas subjektive Anmerkungen) leider sehr dürftig ausgefallen. Jemand, der heute noch (trotz der zahlreich im Netz angebotenen Streaming-Dienste) auf das haptische Vergnügen einer CD nicht verzichten will, der möchte vielleicht auch beim Hören in einem gemütlichen Sessel ein schönes Begleitheftchen dazu lesen (Spitzenreiter sind hier z. B. die cpo-Booklets), obwohl er auch im Netz genug Informationen finden könnte. So habe auch ich mir helfen können: Das spanische Ensemble Musica Ficta wurde 1992 von Raúl Mallavibarrena gegründet und ist nicht zu verwechseln mit einem gleichnamigen, 1988 gegründeten kolumbianischen Trio, das sich ebenfalls mit Alter Musik aus Spanien befasst. Über die Harfe, die Sara Águeda spielt, habe ich erfahren: Es ist eine Arpa de dos órdenes, eine Harfe des spanischen Barock, die mit gekreuzten Saiten bespannt ist. Übrigens sind für mich ihre drei eingestreuten Soli wahre Highlights dieser Produktion. Wer mehr von Sara Águeda hören will, dem empfehle ich die vorzügliche Einspielung Un viaje a Nápoles beim gleichen Label. Auch über Tomás Luis de Victoria erfährt man im Booklet so gut wie nichts, aber Mallavibarrena hat wohl eher an einen Hörer gedacht, der den Komponisten schon gut kennt, ihn aber jetzt einmal anders – „alio modo“ eben – hören möchte. Oder er hatte eine sehr junge Zielgruppe im Auge. Das wäre dann auch eine mögliche Erklärung für die Wahl des Bonustracks Gaudete Christus est natus. Dieses bekannte mittelalterliche (oder ist es wirklich siglo XVI, wie Mallavibarrena angibt?) Weihnachts-Carol, wiederum mit viel Swing dargeboten und mit einem fading out am Ende, sollte die CD vielleicht noch zusätzlich ein wenig aufpeppen. Wer auch etwas sehen will, der kann sich Benedicta sit Sancta Trinitas (mit Kommentar von Mallavibarrena) und das Weihnachts-Carol zudem auf YouTube ansehen. Es ist jedenfalls nicht zu leugnen, dass Musica Ficta hier eine sehr kurzweilige und schwungvolle Interpretation, einen Swinging Victoria kreiert haben. Als Einstieg zum Kennenlernen dieses (vielleicht neben Palestrina, Lasso und Byrd) letzten großen Renaissance-Komponisten ist sie eher nicht geeignet. Das ist aber wohl auch nicht beabsichtigt.
[Hans von Koch, Mai 2016]