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Bei Brehm mit Bach nach Bosnien – Goran Stevanovich in Renthendorf

Im Rahmen der 20. Thüringer Bachwochen unternahm der aus Bosnien-Herzegowina stammende Akkordeonist Goran Stevanovich in diesen Tagen eine Konzerttournee besonderer Art durch Thüringen: Kirchen und Konzerthäuser sind als Spielstätten ausgeschlossen, weswegen die Musik mitunter an Orten erklingt, an denen man nicht unbedingt ein Konzert vermuten würde. Definitiv ein solcher ist der neue Anbau von BREHMS WELT – TIERE UND MENSCHEN, dem interaktiven Museum zu Ehren der Naturforscherfamilie Brehm im ostthüringischen Renthendorf, denn er befindet sich noch im Rohbauzustand. So nahm das zahlreich erschienene Publikum in einem Raum Platz, dessen gläserne Wände erst in ein paar Wochen eingesetzt werden. Die Raumtemperatur entsprach der Außentemperatur von etwa 10° Celsius und man hörte Vogelstimmen von den umstehenden Bäumen herab klingen – durchaus passend zu dem Ort, an dem der „Vogelpastor“ Christian Ludwig Brehm fünf Jahrzehnte lang lebte und forschte.

Stevanovichs Programm bestand ausschließlich aus Transkriptionen und entpuppte sich als musikalische Welt- und Zeitreise, die vom barocken Mitteldeutschland aus in die moderne Welt westlicher Großstädte und schließlich zur urwüchsigen Volkskultur des Balkans führte. Es begann mit der Air aus Johann Sebastian Bachs Orchestersuite BWV 1068 und führte dann mit zwei Konzertetüden von Philip Glass und Astor Piazzollas Libertango nach Nord- und Südamerika. Mit der Sarabande aus Bachs Französischer Suite c-Moll ging es nach Paris, zu Erik Saties Gymnopedie Nr. 1, die Stevanovich unmittelbar in Yann Tiersens Walzer aus der Musik zur Fabelhaften Welt der Amélie übergehen ließ. Der letzte Teil des Konzerts war Stevanovichs Heimat gewidmet. Der Akkordeonist ließ zunächst zwei Stücke aus dem Bereich der Sevdalinka erklingen, einer spezifisch bosnischen Volksmusikgattung, die Stevanovich in seiner Einführung als „bosnischen Fado“ charakterisierte: Musik zur Austreibung der Melancholie mittels leidenschaftlich gesteigerter Melancholie. Ein feuriger Ritualtanz im raschen 11/8-Takt schloss sich an. Mit der Zugabe, dem Andante aus der Solo-Violinsonate BWV 1003, schloss sich der Kreis zum Anfang.

Ein betont vielfältiges Programm, das so recht geeignet war, zu zeigen, welcher Reichtum an Klangfarben und Charakterschattierungen dem Akkordeon entlockt werden kann. Unter Stevanovichs Händen holt das Instrument Luft: nicht wie ein Blasebalg – oder „Heimatluftkompressor“, wie der Interpret zu Beginn witzelte –, sondern wie ein Sänger, der die Kunst des Einatmens vollendet beherrscht. Getragen von einem langen Atem, der nie stockt, gestaltet er das Tempo ist frei, ohne dass indessen das Gefühl eines grundierenden Pulses verloren ginge. Stevanovich kennt die Musik bis in die kleinsten Phrasen genau und kostet sie mit feinen Verzögerungen und Beschleunigungen genüsslich aus. Seine Darbietungen entfalten sich wie spontaner Gesang. Mir scheint, dass er sich besonders in den leisen Tönen wohlfühlt. Jedenfalls kamen Momente besonderer Spannung immer dann auf, wenn er sich ins Pianissimo zurückzog, namentlich in den äußerst leise vorgetragenen Mittelabschnitten des Libertango und des Amélie-Walzers. In den Sevda-Stücken zeigte der Akkordeonist, dass er nicht nur die Register seines Instruments wirkungsvoll einsetzen, sondern den Klangfarben durch Klopfen auf bestimmte Stellen des Korpus eine zusätzliche Schlagwerksektion hinzuzugewinnen in der Lage ist.

Dankbar für das schöne Konzert nimmt man Abschied von Brehms Welt und wünscht dem Museum, das sich den Anfängen der modernen Verhaltensforschung und des heutigen Umwelt- und Artenschutzes widmet, für sein Bauprojekt gutes Gelingen.

[Norbert Florian Schuck, März 2024]

Farbenspektrum der Minimalistik

conditura records, conrec012; EAN: 4 260401 710199

Unterstützt von Luna Martina Pracht (Klangschalen), Annette Winker (Fagott) und Katharina Uzal (Violoncello) führt Ute Schleich (Blockflöten) auf diesem bei conditura records erschienenen Album die Vielfalt der Minimal Music wie des Blockflötenklangs vor Ohren.

„Colors of Minimal Music“ präsentiert die Blockflötistin Ute Schleich auf ihrer gleichnamigen CD. Der Titel ist trefflich gewählt, lässt er sich doch gleich auf mehrere Aspekte beziehen, die dem Programm und den Darbietungen ihr Gepräge geben. Zunächst einmal zeugt die Auswahl der Kompositionen von Ute Schleichs profunder Kennerschaft des Spezialgebiets Minimal Music. Es finden hier Stücke von insgesamt sieben zeitgenössischen Komponisten verschiedenen Alters zusammen. Zwar sind alle Werke mehr oder weniger von der Idee des reduzierten Tonsatzes und der repetitiven Melodik bestimmt, unterscheiden sich in ihrer jeweiligen individuellen Gestalt jedoch voneinander ziemlich stark. Dieses Programm lädt dazu ein, die Kompositionen vergleichend zu hören, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede nachzudenken. Ein breites Farbspektrum zeigt sich auch in den Besetzungen, die auf der CD zu hören sind. Die zahlreichen kürzeren Stücke sind Soli für Blockflöte, die drei längeren hingegen Duos, die die Blockflöte jeweils mit einem anderen Instrument zusammenbringen: Violoncello, Fagott und Klangschalen. Nicht zuletzt sorgt Ute Schleich mit den von ihr verwendeten Instrumenten für klangfarbliche Abwechslung: So erklingen in den 65 Minuten des vorliegenden Albums nicht weniger als neun verschiedene Blockflöten (1 Sopran, 5 Alt, 2 Tenor, 1 Bass).

Unter den Solowerken erscheinen die beiden Stücke Hin- und Her und Signale aus Frans Geysens Sammlung City of Smile (2001) am strengsten minimalistisch gestaltet. Sie basieren beide auf einfachsten diatonischen, regelmäßig getakteten Motiven, die ständig wiederholt und dabei nach und nach von Verzierungen umrankt werden – was einige reizvolle dialogische Effekte einschließt, die sich zwischen hohen und tiefen Lagen ergeben. Bei Hin- und Her verschiebt sich im Laufe dieses Prozesses auch der metrische Schwerpunkt. Philip Glass, einer der Gründerväter der Minimal Music, ist mit der Arabesque in Memoriam (1988) vertreten, einem kapriziösen Stück, das mit Ausweichungen in Nebenharmonien arbeitet, die die Grundtonalität unterschiedlich beleuchten. Während man hier aus den raschen Figurationen einen akkordischen Satz heraushört, beginnt das Yamamoto Perpetuo Nr. 1 von Michael Nyman mit einer langen Monodie. Es geht über in einen Tanz, der im Yamamoto Perpetuo Nr. 3 wieder aufgegriffen wird. Beide 1993 entstandene Stücke hat Ute Schleich aus der ersten Violinstimme des Vierten Streichquartetts von Nyman für die Blockflöte gewonnen. Nyman und Glass sind Widmungsträger der beiden hier zu hörenden Minimal-Preludes von Karel van Steenhoven (2010). Wer dem schlicht Glass betitelten Stück Vorbild gewesen ist, lässt sich anhand einer Gegenüberstellung mit Glass‘ Arabesque leicht feststellen. Den Bezug unterstreicht Ute Schleich übrigens dadurch, dass sie zum Vortrag dieser beiden Werke Altblockflöten mit einer Stimmung von a=415 hz verwendet, für die übrigen jedoch Instrumente, die auf a=440 hz gestimmt sind. Das Nyman gewidmete Just a Song zeigt sich in der Verarbeitung seines Hauptgedankens durch geschickte Andeutung mehrerer Stimmen barocker Sololiteratur verwandt.

Ute Schleich stellt in all diesen Stücken im wahrsten Sinne des Worten unter Beweis, über welch langen Atem sie verfügt. Man hört hier nicht bloße Abfolgen kurzer Motive in variierten und nicht variierten Wiederholungen, sondern Melodien, die sich auf minimalistische Weise entfalten. Schleichs Gespür für melodischen Zusammenhang, melodische Entwicklung erfüllt jede dieser Miniaturen mit Leben.

Dies kommt auch den drei Duos zugute, die sämtlich Ute Schleich die Anregung zu ihrer Entstehung verdanken. Klanglich von besonderem Reiz sind dabei Ulli Göttes images (2012) für die höchst seltene, wenn nicht einmalige, Besetzung Blockflöte und Klangschalen. In den beiden äußeren Abschnitten spielt die Flötistin eine Tenorblockflöte, wohingegen die beiden Mittelsätze eine Bass- bzw. Altblockflöte verlangen. Auch kommen im Verlauf des Stückes verschiedene Klangschalen zum Einsatz. Wie Luna Martina Pracht es versteht, die Tonerzeugung auf diesen Instrumenten stets spannungsvoll zu gestalten, verdient besondere Erwähnung. Die vier Sätze wirken sämtlich ritualhaft, doch hat Götte jedem durch melodische und rhythmische Eigenheiten ein charakteristisches Profil gegeben und den Dialog zwischen dem Blasinstrument und den Klangschalen abwechslungsreich zu gestalten gewusst. Im dritten Satz, einem zuerst verhalten, dann ausgelassen tänzerischen Stück, gibt es zudem eine Passage, in der die Blockflöte vom Klatschen der Hände begleitet wird.

Auch in seinen dialogen für Blockflöte und Violoncello (2016) komponiert Götte mit sehr schlichtem melodischem Material, nutzt aber die Möglichkeiten zur polyphonen Gestaltung, die ihm zwei Melodieinstrumente bieten, sehr wohl aus. Zwei rhythmisch pulsierende Tanzsätze, in denen die beiden Instrumente durchaus auch „aufstampfen“ dürfen, rahmen zwei langsamere, aber nicht unbedingt ruhigere Sätze ein. Gerade der dritte Satz, in dem Blockflöte und Violoncello in freien Imitationen ein in sich kreisendes Motiv durchführen, steckt voller Nervosität. Katharina Uzal am Violoncello ist Ute Schleich bei der Aufführung eine zuverlässige Partnerin, die dem Klang der Blockflöte gerade in den leiseren Passagen genügend Raum zur Entfaltung lässt. Als Duo sind beide trefflich aufeinander eingespielt.

Jens Josefs Duettino für Blockflöte und Fagott (2017/18) kann man als das konstruktivistischste Stück dieser Anthologie bezeichnen. Bereits zu Beginn wird deutlich, dass der Kontrapunkt hier eine deutlich größere Rolle spielt als in Göttes dialogen. Die Instrumente scheinen zunächst völlig unabhängig voneinander zu spielen. Im weiteren Verlauf ist es, als würden sie nach und nach einander bemerken und auf unterschiedliche Weise aufeinander reagieren. Teils gibt das Fagott, teils die Flöte die Impulse. Unter klanglichen Gesichtspunkten wirken diejenigen Passagen problematisch, in denen die Blockflöte in ihren tiefen Registern spielt, da sie hier kaum aus dem Schatten des tonstärkeren Fagotts zu treten vermag. Der Effekt mag allerdings beabsichtigt sein, um den Kontrast zum Schlussteil zu verstärken, in dem durchweg die oberen Register der Blockflöte zu hören sind. Den technischen Herausforderungen des Duettinos sind Schleich und ihre Partnerin am Fagott, Annette Winker, jedenfalls völlig gewachsen.

Ute Schleich beschließt dieses Programm aus Soli und Duos mit Louis Andriessens Ende (1981), das sie gleichzeitig auf zwei Altblockflöten spielt. Gleichermaßen Solo wie Duo ist dies der effektvolle Abschluss einer geglückten CD.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2021]

Das beste Glass-Album seit der Erfindung der Minimal Music

Philip Glass – ‚Prophecies’: Music from ‚Einstein on the Beach’ and ‚Koyanisquatsi’, arranged for piano solo by Anton Batagov
Anton Batagov, Klavier

Orange Mountain Music CD 0110 (EAN: 801837011029)

Anton Batagov, geboren 1965 in Moskau, ist seit Anfang der 1990er Jahre Kennern bekannt als einer der interessantesten Musiker seiner Generation. Er ist nicht nur ein hochorigineller und phänomenaler Pianist, sondern auch ein singulärer Komponist sogenannter Minimal Music, der auch plakativ als „russischer Terry Riley’ angepriesen wurde. Alben wie das bei Arbiter Records in New York erschienene ‚The New Ravel’ oder seine auf einer Art präpariertem Klavier gespielte ‚Kunst der Fuge’ sind längst zeitlose Klassiker. Mehr über ihn ist hier zu erfahren: en.wikipedia.org/wiki/Anton_Batagov.

Nun präsentiert er uns seine eigenen Klavierfassungen von Musik aus Philip Glass’ New Age-Heiligtümern ‚Einstein on the Beach’ und ‚Koyanisquatsi’, und so sehr viel ist gar nicht darüber zu sagen. Es ist eine Minimal-Darbietung in schlichter Vollendung, von einem Pianisten gespielt, der ebenso mit späten Beethoven-Sonaten, Scriabin oder Debussy begeistern könnte, mit einer unglaublich feinen Durchformung und Abschattierung der Monochromie vorgetragen, nie ins rhythmisch Mechanische oder melodisch Plätschernde abgleitend, auch nie oberflächlich gefällig, sondern mit einer stoischen Spontaneität der Empfindung vorgetragen, die jenseits auch nur der geringsten Willkürlichkeiten jeden Moment aus dem großen Fluss heraus gestaltet. Das ist schlicht das musikalisch beste Glass-Album seit der Erfindung der Minimal Music. So funktioniert es und erfreut sowohl den anspruchsvollen Hörer als auch den, der einfach nur etwas zum Träumen haben möchte.

Batagov trägt im spartanischen Booklet einen lesenswerten Essay ‚On the Term Minimalism’ bei, wo er unter anderem schreibt: „Nichts ist absolut tragisch, nichts ist absolut fröhlich. Alles ist fröhlich und tragisch zur gleichen Zeit. Alles existiert in immerzu unteilbarer Einheit.

Minimalismus ist nicht ein Stil oder eine Technik, die in den 1960ern erfunden wurde und vorüber ging. Tatsächlich können wir uns kaum vorstellen, vor wie vielen tausend Jahren der ‚Minimalismus’ entstanden ist.“

Wer also wissen will, was Minimalismus im besten Fall sein kann, sollte nicht zögern, sich Glass in Batagovs Fassung anzuhören.

[Annabelle Leskov, September 2016]