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Jakub Hrůša erobert München

In drei Konzerten innerhalb von drei Tagen dirigierte der Tscheche Jakub Hrůša, seit 2 Jahren Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in der Münchner Philharmonie am Gasteig in Josef Suks Asrael-Symphonie. Das Orchester, das – wie alle Kenner wissen – zu den besten der Welt zählt und in den so griffigen wie kindischen und irreführenden Rating-Rankings als „stärkste deutsche Kraft neben den Berliner Philharmonikern“ gilt, spielt natürlich stets so, dass es seinem Ruf gerecht werden möchte (dies gilt keineswegs im gleichen Maße für alle sogenannten Spitzenorchester), doch wer sich immer noch in der Sicherheit wähnt, je prominenter der Dirigent sei, desto besser spiele das Orchester, befindet sich fern der Realität, und das schon lange. Klar, das BR-Symphonieorchester unter seinem Chef Mariss Jansons oder unter Riccardo Muti, Herbert Blomstedt, Bernard Haitink oder auch, warum nicht, Simon Rattle ist ein glänzender Klangkörper, doch die großartigsten Konzerte der letzten Jahre spielte man unter der Leitung des im Frühjahr 2017 verstorbenen Jiří Bělohlávek, einst Schüler Sergiu Celibidaches, musikalischer Erbe der großen böhmischen Tradition Václav Talichs und Josef Vlachs, und zuletzt Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie, unter dem die Münchner Werke wie Bohuslav Martinůs 6. Symphonie oder Leos Janáčeks ‚Taras Bulba‘ in einmaliger Qualität zu hören bekamen. Leider hat man auch bei der Direktion des Bayerischen Rundfunks nie verstanden, dass Bělohlávek in der Musik Mozarts oder Beethovens ein ebenso großer Meister war, und so dürfte bei vielen Hörern der Eindruck zurückgeblieben sein, dass er eben letztlich ein großer Dirigent des heimatlichen tschechischen Repertoires gewesen sei und vielleicht auch nichts weiter als das.

Nun also das Debüt seines einstigen Meisterschülers Jakub Hrůša am Pult des BR-Symphonieorchesters, natürlich – die meisten Programmplaner der klassischen Musik sind nach wie vor reaktionäre Nationalisten – mit einem ausschließlich tschechischen Programm – wobei nach diesem Konzert auch dem letzten wachen Hörer klar sein sollte, dass Hrůša sich niemals auf den Spezialistenstatus wird einengen lassen. Vor der Pause das Violinkonzert von Dvořák, gespielt vom neuen Superstar der amerikanischen Geigerszene, Augustin Hadelich. Perfekteres Geigenspiel ist tatsächlich kaum vorstellbar, makellos brillant und klanglich kultiviert bis ins kleinste Detail. Dabei hilft natürlich auch, dass Hrůša es genau versteht, die instrumentatorischen Klippen, wo das teils auch nach der großen Revision immer noch sehr massiv gesetzte Orchester zumeist den Solisten fast unvermeidlich zudeckt, wach und ohne unmusikalisch abrupten Aufhebens zu umschiffen und dem Solisten einen Teppich auszulegen, wie er sonst mit solcher empathischen Sorgfalt und feinnuancierten Präzision nicht gewoben wird. Dass Hadelich bei allem überragenden Können seinen Dvořák ohne besondere stilistische Vertiefung abliefert, mit keinem spürbaren Unterschied etwa zu seinem Mendelssohn oder Sibelius, also musikalisch glatt poliert bleibt, fällt ob seiner stupenden Virtuosität den wenigsten auf, und auch die Zugabe ist bei Orchester und Publikum ein ganz heißer Erfolg.

Nach der Pause dann ‚Asrael‘, die zweite Symphonie von Dvořáks im gleichen Jahr 1874 wie Schönberg, Ives, Franz Schmidt und Gustav Holst geborenem Schwiegersohn Josef Suk: ein grandios tragisches Meisterwerk, auf einer Höhe mit den besten Werken seiner berühmteren Zeitgenossen Gustav Mahler, Richard Strauss, Sergej Rachmaninoff, Max Reger oder Karol Szymanowski, dessen Name ‚Asrael‘ dem Totenengel des Islam entlehnt ist und dessen Musik den stilistischen Übergang Suks zu seinem reifen Schaffen bezeichnet. Suk schrieb die ersten drei Sätzen 1905 im Gedenken an Antonín Dvořák. Dann starb seine Frau Otilka, die Tochter des geliebten Lehrers, und Suk verfiel in eine tiefe Depression, aus welcher er sich im folgenden Jahr mit den letzten beiden Sätzen heraus arbeitete. Dieses circa 70 Minuten dauernde Opus 27 bildet den gigantischen Auftakt zu jener außerhalb seiner böhmischen Heimat so unterschätzten Serie weiterer großartiger Orchesterschöpfungen wie dem ‚Sommermärchen‘, ‚Lebensreifen‘ und seinem finalen, kaum je zu hörenden ‚Epilog‘. Jakub Hrůša gestaltet den ‚Asrael‘ mit einer umfassenden Meisterschaft, wie ich ihn nie gehört habe (wobei zu erwähnen ist, dass wir vom großen Talich nur eine klanglich unzulängliche Aufnahme kennen und ich Bělohlávek nie live damit gehört habe). Davon unabhängig, war dies das insgesamt beste Dirigat, das die Münchner seit langer Zeit erleben durften. Hrůša hat eigentlich alles, was einen ganz großen Dirigenten ausmacht, und das ist eben weit mehr als Begabung und Ausstrahlung, das ist mindestens ebenso profundeste Musikalität, die sich neben einer virtuosen Musizierfähigkeit und gestischen Klarheit und Flexibilität vor allem in der Korrelationsfähigkeit auch über sehr weite Strecken im teils sehr komplexen Tonsatz offenbart, und es ist unbedingter Charakter und eine für sein Alter ganz erstaunliche Reife. Er hat es überhaupt nicht nötig, wie die meisten seiner heute so gehypten Kollegen da mit Nachdruck zu agieren, wo es ohnehin laut und fast immer unstrukturiert zu laut ist (auch deshalb möchte ich ihn jetzt bald so gerne mit Beethoven hören), es ist immer balanciert, kultiviert, voller Poesie und Feinsinn, und dabei zugleich immer im Fluss, nie buchstabiert, und mit einem melodischen Schwung und so gar nicht mechanisch einrastenden rhythmischen Drive, dass die Musik stets überbordend von Leben ist. Ganz besonders fantastisch gelingt das große Scherzo. Aber überall ist Hrůša souveräner Meister der Situation, und das ganz Besondere dabei ist, dass man eben nicht das Gefühl hat, er oktroyiere kraft seiner klaren und im Großen wie im Kleinsten ausgeprägten Vorstellung seinen Willen auf, sondern hier geht es kontinuierlich um ein gemeinsames Erleben, das die individuellen Tönungen und auch Überraschungen großzügig und dankbar einbezieht, soweit sie der zusammenhängenden, charakteristischen Darstellung nicht widersprechen. Hrůša ist ein Dirigent voller Hingabe, der jedem Orchestermusiker das Gefühl gibt, vollwertig dabei zu sein und gebraucht zu werden, bis zu den hintersten Pulten. Dieses Programm dreimal hintereinander zu hören ist keine Minute zu viel, und mehr über ein so effizientes wie kunst- und geistreiches Dirigieren voller Fantasie und jenseits eigensinniger Willkür kann man heute nirgends lernen als bei Jakub Hrůša. Das Orchester ging nicht nur willig mit. Soweit ich es sehen konnte, gab jede® alles, was in ihren resp. seinen Möglichkeiten stand. Also war dieses Konzert ein ganz großes Ereignis, das den Stempel des Einmaligen trug. Unwiederbringlich, und wir werden endlich einmal wieder auf höchstem professionellen Niveau daran erinnert, warum wir eigentlich Musik machen bzw. hören. Es kann auch keinen Zweifel geben nach diesen Konzerten, dass viele Mitglieder des BR-Symphonieorchesters sehnsüchtig und wohl auch etwas eifersüchtig nach Bamberg schielen, wo man sich den wunderbarsten Dirigenten von prominentem Rang, den unsere heutige Zeit offeriert, zumindest für die nächsten Jahre gesichert hat. Möge er bald wieder in München auftreten, und hoffentlich bald auch in einem besseren Saal als der erbärmlichen Akustik der Philharmonie.

[Christoph Schlüren, Oktober 2018]

Einer der ganz großen Dirigenten – Jiří Bĕlohlávek und die BR-Symphoniker in tschechischen Gefilden

Warum eigentlich so selten, und warum immer mit tschechischem Programm? Nach sechs Jahren gastierte Jiří Bĕlohlávek, der Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie, erstmals wieder am Pult des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in München. Natürlich gibt es heute keinen, der wie er die Werke von Dvořák, Janáček oder Martinů meisterhaft einzustudieren vermag (nicht einmal sein einstiger Schüler Jakub Hrůsa, der neue Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, ist ihm hier ebenbürtig, aber er hat ja auch noch einige Jahre Zeit…), doch Bĕlohlávek ist heute ein so überragender Musiker, dass es mehr als bedauerlich und de facto ein Fehler ist, ihn international als Spezialisten zu konsultieren, wie dies auch seine Plattenfirma Decca sehr erfolgreich tut. Denn er ist nicht weniger großartig als Dirigent der Klassiker Mozart, Beethoven oder Schubert, und im romantischen Repertoire kennen wir ihn hier bis auf ein bisschen Mendelssohn, Brahms und Tschaikowsky überhaupt nicht. Dort er mutmaßlich ebenso Wesentliches zu sagen. Also gebt ihm doch zumindest nächstes Mal eine Mozart- oder Beethoven-Symphonie, dass er das kein wie kaum ein anderer, hat er vor allem beim Aufbau der Prager Philharmonie schlagend bewiesen.

Der Abend in der Münchner Philharmonie am Gasteig beginnt mit einem chorischen Arrangement der 2. Serenade für 2 Geigen und Bratsche von Bohuslav Martinů, einer für den Komponisten typischen, zwischen geistreichem Klassizismus und innig böhmischem Musikantentum angesiedelten kurzen Dreisätzer der dreißiger Jahre. Nach sieben Minuten ist das grazile Vergnügen vorbei, und da bleibt keine Zeit für ein Warm up der Ohren. Bĕlohlávek hat sich äußerlich verändert, ist von schwerer Krankheit gezeichnet, die zu überleben wir nicht nur ihm, sondern ganz dringend auch der ganzen Musikwelt wünschen müssen! Fein, zart, durchscheinend, mit unbestechlichem Sinn für die kontrastierenden Charaktere, absoluter Liebe und Meisterschaft in den Details, und absolut ohne jede Pose. Dieser Mann dient in seinem ganzen Wirken ausschließlich der Musik und hat in der völligen Hingabe keinen Platz für Selbstdarstellung – um den Preis, nicht zu den modischen Superstars zu gehören, denen er als Musiker ohnehin überlegen ist. Zugleich ist auch eine Veränderung in seinem Musizieren zu spüren – mit zunehmender Reifung ist das nicht zu erfassen, es hat sicher mit dem Leiden und der Krankheit zu tun, dass Bĕlohláveks Musizieren eine Gelöstheit und Luzidität vermittelt, die jenseits des geschäftigen Betriebs steht. Hier steht ein Mann, der niemandem mehr etwas beweisen will und muss, der ganz im kreativen Akt aufgeht, dessen Führung bei aller Sicherheit und Klarheit mit einer heroischen Fragilität und filigranen Natürlichkeit einnimmt, wie sie nur bei den ganz Großen zu finden sind.

Es folgt eine 1999 von Jaroslav Smolka zusammengestellte, sechssätzig umfangreiche Suite aus Leoš Janáčeks skurriler Oper ‚Die Ausflüge des Herrn Brouček’. Ein wirkliches Korrelieren zu geschlossener Ganzheit ist hier nicht möglich, da die ausgewählten Passagen nun doch zu episodisch aufeinanderfolgen. Freilich ist insbesondere der vorletzte Satz, der unter Attacken sich vorwärtsbewegende Hussiten-Choral, von herrlicher Wirkung. Und das Orchester spielt unter Bĕlohlávek großartig, mit höchster Durchsichtigkeit auch in komplexeren Fortissimo-Bereichen und dort, wo die Orchestration nicht optimal angelegt ist, um alles deutlich hervorzubringen, werden immer wieder echte Wunder vollbracht. Auch hier hat jede Einzelheit ein klares Gesicht, der Tonfall ist erstaunlich idiomatisch getroffen. Besser dürfte das unter den gegebenen Umständen nicht zu machen sein!

Nach der Pause singt Magdalena Kožená die Biblischen Lieder von Antonín Dvořák. Leider hat sie für diese zehn herrlich schlichten Lieder eine exklusiv für sie angefertigte Instrumentation mitgebracht, und man frag sich nun wirklich, was das soll. Warum spielen hier Klarinetten statt Geigen, und dort Geigen statt Flöten, und warum werden immer wieder auch konkret Töne geändert? Das alles ist zwar keine Katastrophe, aber auf jeden Fall das Gegenteil einer Verbesserung, und ich verstehe nicht so recht, warum man heute noch so etwas macht. Sicher singt sie wunderbar, sie hat einfach eine hinreißende Stimme. Ich finde aber auch, dass sie die Musik dramatischer auffasst als dem Gehalt angemessen, eher Richtung Wagner’schen Dramas als biblischer Würde. Der Erfolg beim Publikum ist freilich groß, und dass der volkstümlich sakrale Charakter der Lieder sich nicht wirklich einstellen kann, merkt dann doch nur, wer die Musik kennt oder eine klare Vorstellung davon hat. Und das ist fast niemand. Es ist auch nicht ganz einfach, Magdalena Koženás subtilen agogischen Eigenwilligkeiten zu folgen, doch hier beweits Bĕlohlávek eine souverän ruhige und reaktionsschnelle Hand. Und singen kann sie ja nun doch fraglos auf herausragendem Niveau.

Zum Schluss der grandiose Höhepunkt des Konzerts: Leoš Janáčeks dreisätzige tragische symphonische Dichtung ‚Taras Bulba’ nach Gogol. Es ist atemberaubend, wie sich selbst im dichtesten eruptiv aufgipfelnden Geflecht immer die entscheidenden Stimmen durchsetzen können, und ebenso frappierend ist, wie es Bĕlohlávek gelingt, mit klarer Vorstellung die extremen Kontraste zu sinnfällig sich entfaltendem Zusammenhang zu bündeln. Das Orchester beweist wieder einmal seine ganz große Klasse, die Aufführung wird zu einem Triumph der Musik, wie er ganz selten zu erleben ist. Schade nur, dass sich das Publikum in München für tschechische Musik des 20. Jahrhunderts nur bedingt zu interessieren scheint, der Saal also mit vielen Lücken glänzte. Dem Dirigenten lag freilich am Schluss nicht nur das Orchester, sondern auch das Publikum zu Füßen. Seit Václav Talich hat Tschechien keinen solch umfassenden Meisterdirigenten hervorgebracht. Seinen einstigen Lehrmeistern Josef Vlách und Sergiu Celibidache macht Jiří Bĕlohlávek alle Ehre. Und so überwältigend kann Leoš Janáček sein.

[Christoph Schlüren, April 2017]

Höher, schneller, weiter – Vier junge Pianisten beim Münchner Prokof’ev-Klaviersonaten-Marathon

Möglichst viel möglichst billig – das scheint beim Münchner Publikum nicht zu ziehen. Aus welchen Gründen auch immer, die Philharmonie im Gasteig war kaum zur Hälfte besetzt beim Prokof’ev-Klaviersonaten-Marathon im Rahmen des Festivals MPHIL 360°. Vielleicht ist ‚Marathon‘ nicht unbedingt die geschickteste Vokabel, um dem Publikum ein Konzertereignis schmackhaft zu machen. Ich habe die zwei Konzerte am Samstag Nachmittag, bei denen vier Pianisten das gesamte Klaviersonaten-Œuvre Prokof’evs spielten, jedenfalls nicht als Marathon empfunden. Das liegt an der Vielgestaltigkeit und dem Abwechslungsreichtum innerhalb des Prokof’evschen Sonatenschaffens, das zugleich seinen Autor nie verleugnet. Es zeichnet fast die gesamte Biographie des Komponisten nach und daneben auch ein gutes Stück Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Es ist ein wahrer Kosmos, der in mehrerlei Hinsicht einzigartig dasteht und in pianistischer Schwierigkeit, kompositorischer Originalität und Konsequenz höchstens noch mit Skrjabins zehn Sonaten zu vergleichen ist.

Den sportlichen Aspekt brachten dann aber doch die Interpreten hinein: allesamt junge Männer der Marke No-Name, wenn man das Pianisten-Business global betrachtet, hungrig nach Profilierung im harten Geschäft, voller Enthusiasmus und sicher auch Testosteron, was die Veranstaltung in einen wahren Pianistenkrieg verwandelte. Und man vergleicht dann doch immer. ‚Höher, schneller, weiter‘ schien auch das Motto ihrer Interpretationen zu sein. Kein Satz, der nicht im Maximaltempo und mit maximalem Wumms genommen wurde, ein piano ohne Pathos gab es diesen Nachmittag einfach nicht.

Der erste Pianist des Nachmittags, Dmitry Masleev kam, sah und pedalisierte. Sobald er mit großer Zielsicherheit am Flügel platzgenommen hatte, stand sein Fuß schon auf dem rechten Pedal und blieb dort auch für den Rest seiner Darbietung. Die Sonaten eins bis drei waren dann auch wie aus einem Guss. Nach der nur einsätzigen Nummer eins vergisst das Publikum zu klatschen. Egal, weiter. Bitte, mich nicht falsch zu verstehen: Da saß kein schlechter Pianist, ganz im Gegenteil. Stupende Fingertechnik verlor sich aber in einer Klangwolke, über die sich nur einzelne Sforzato-Spitzen vernehmbar zu erheben vermochten. Das liegt vielleicht auch daran, dass ausschließlich Fingertechnik zum Einsatz kam und all die Möglichkeiten, die der Pianistenkörper vom Handgelenk an sonst noch bietet, ungenutzt blieben. Seine Stärken spielte Masleev aus, wo es grotesk und abgründig wird, wie im Scherzo der zweiten Sonate und vor allem in deren Schlusssatz – da ist bereits alles da, was Prokof’ev ausmacht.

Sein Scarlatti schoss aber den Vogel ab. Man traute seinen Ohren kaum, dieser Scarlatti könnte Prokof’evs Bruder sein: keinerlei Unterschied, ungebremste Wucht. Man meinte nicht Domenico zu hören, sondern irgendeinen Herrn Scarlatti vom Roten Platz. Überhaupt, das ist auch so ein diskussionswürdiger Punkt: die Programmplanung, die den Prokof’ev-Nachmittag mit Scarlatti-Sonaten durchspickte, welche einst als Einspiel-Übung von Vladimir Horowitz geschmäht wurden. Es war wohl kaum so, dass vier Pianisten mit der Idee kamen, dass ein jeder Scarlatti als Zugabe spielen könnte. Vielmehr wird sich ein Heißsporn von einem Konzertdramaturgen gedacht haben: Hey, das wäre doch cool, wenn wir auch noch Scarlatti spielten. Wer bei Verstand ist, den wird die Frage nicht mehr loslassen, was das soll. Aufmerksamkeit um jeden Preis.

Nein, im Ernst: Die Prokof’evsche Wucht verlangt ja schon nach Abwechslung, wäre wahrscheinlich ohne sie viel schwerer zu ertragen. Und die Scarlatti-Sonaten waren auch ein Lackmustest, der die verschiedenen (oder auch ähnlichen) Temperamente der vier Pianisten offenbarte. Und doch wurde es mit jeder Scarlatti-Sonate langweiliger, im Schatten der Prokof’evschen Komplexität verblassten sie ziemlich schnell.

Die Sonaten eins bis sechs bilden einen unentrinnbaren Abwärtssog aus, unterbrochen höchstens von der fünften. Dem amerikanischen Pianisten George Li fiel die etwas unangenehme Aufgabe zu, zwei geradzahlige Sonaten aus dieser Gruppe zu interpretieren. Ich notiere meine nächste Frage an die Programm-Dramaturgie, die mich beschäftigt: wieso die zusammengehörende dritte und vierte Sonate auseinandergerissen wurden. Die merkwürdig zurückgenommene vierte ist leider die wohl am wenigsten eingängige der Sonaten Prokof’evs. Es folgte die sechste, eine der längsten und schwersten, wenn sich das überhaupt über eine im Prokof’ev-Kosmos sagen lässt. Der Pianist schuftete sich durch diese Herkulesaufgabe mit bravouröser Meisterschaft, die keinen Wunsch offen lässt. Anschließend kommt sein Scarlatti so perlend daher wie ein Mozart, so wie er eben sein soll, als hätte es die gerade erst verklungenen Monstrositäten nie gegeben. Das ist fast zu viel der Perfektion.

Lukas Geniušas gibt am Klavier ein imposantes Bild ab. Sein Spiel ist nicht unbeteiligt, doch ungemein geerdet. Mit der fünften Sonate kommt Prokof’ev dem am nächsten, was als Westliche Moderne angesehen wird, zu der man aber beispielsweise auch Karol Szymanowski zählen müsste. Sie ist von geradezu quälender, unerbittlicher Klarheit und Geniušas spielt sie nicht ohne die erforderliche Schärfe. Apropos Klarheit: seiner höchst ausdifferenzierten Pedaltechnik ist zu verdanken, dass kein einziger Ton unter den Tisch fällt, sondern dass ein jeder plastisch dasteht. Auch er begnügt sich für sein Spiel vorwiegend mit der Aktivität der Fingerspitzen, doch da wo es erforderlich wird, scheint er rhythmisch auf der Klavierbank auf und ab zu hopsen, mit seinem ganzen Gewicht in die Tasten gelehnt.

Der erste Satz der siebten Sonate, Mitten im Krieg entstanden, bringt Rhythmen einer verkehrten Welt. Selbst den berühmten Precipitato-Satz spielt Geniušas so locker-flockig, dass man sich irgendeinen Widerstand herbeiwünscht, nicht aus Gehässigkeit, sondern weil sich am Widerstand bekanntlich die Kräfte entfalten – man möchte nur zu gerne wissen, wohin die volle Entfaltung noch führen könnte. Der Jubel des Publikums entlockt ihm nur ein betont entspanntes Lächeln, so als möchte er uns sagen, dass er gleich mit den nächsten zwei Sonaten weitermachen könnte. Wie die meisten jungen Pianisten dieser Liga können sich unsere vier Kandidaten damit rühmen, renommierte Wettbewerbe wie den Čajkovskij-Wettbewerb – im Falle von Geniušas auch den Chopin-Wettbewerb –, aus der Nähe erlebt oder gewonnen zu haben. Geniušas erscheint mir noch in dieser Gesellschaft als Ausnahme-Talent, vor allem aufgrund der Präzision seines Spiels.

Mit der [für Emil Gilels komponierten] achten Sonate beginnt bereits eine Retrospektive: alles scheint irgendwie im Modus des Uneigentlichen ausgesprochen. Der polternde Schluss der achten Sonate wäre gar nicht nötig gewesen, er wirkt wie angenäht. Im ersten Satz hat Prokof’ev als Schluss ein Entschweben nach oben hin – hier noch augenzwinkernd – erprobt und dann im zweiten Satz der neunten erneut angewandt. Die neunte Sonate mit ihrem nach außen gekehrten Neoklassizismus ist weder als bewusster Schlusspunkt noch als ein Ausrufezeichen konzipiert. Sie führt den Weg fort, der mit den letzten drei Sonaten eröffnet wurde, nicht unbedingt zu noch mehr Virtuosität, sondern zu noch größerer Verinnerlichung – so das nicht paradox klingt –, zu einer schlafwandlerischen Sicherheit der weiten Bögen, kurz zu größerer kompositorischer Qualität. Der Interpret dieser Glanzlichter heißt Sergej Redkin, ein ganz anderes Temperament diesmal, er wirkt wie ein schlaksiger Junge. Noch den Scarlatti spielt er mit einer Art nervöser Feinheit als handele es sich um eine der traumartigen Offenbarungs-Musiken des fin de siècle.

Im direkten Vergleich braucht es eine besondere Individualität, um sich von den anderen Pianisten, die auch alle ganz hervorragend sind, abzuheben. Sicherlich ist ein solcher Vergleich ungerecht, denn wann teilt sich ein Pianist schon ein Solo-Programm in einem Konzert mit seinem Kollegen. In einem Soloprogramm allein wären vielleicht ganz andere Qualitäten aufgefallen. Würde die Qualität von Musik an der Anstrengung für alle Beteiligten gemessen, dann wäre es ein großartiges Konzertereignis gewesen. Nicht, dass man hätte Tiefe missen müssen, dass uns mit dieser großen Musik nicht große Fragen gestellt würden, aber letzten Endes war es mehr eine Pianisten-Show als alles andere, was auch am sportlichen Zugriff der jungen Männer auf die Werke liegt. Die Mitschnitte sind auf medici.tv online, sodass sich jeder selbst ein Bild (freilich abzüglich der live vorhandenen Konzertsaalatmosphäre) machen kann.

[David Vondráček, November 2016]