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Das Beethovenjahr beachtlich einläuten

Ludwig van Beethoven: Klavierkonzerte Nr. 6 (Weltersteinspielung Fragment), Nr. 2, Op. 19 und Nr. „0“ (WoO 4); Symphoniker Hamburg – Peter Ruzicka; Sophie-Mayuko Vetter (Klavier)

Oehms OC1710/EAN: 4260330917102

Sophie-Mayuko Vetter ist eine außergewöhnliche Künstlerin: Sie ist als eine von nur sehr wenigen Interpretenpersönlichkeiten sowohl auf dem modernen Konzertflügel „zu Hause“ als auch auf allerlei historischen Fortepiani, und – wichtig zu erwähnen – sie hat in beiden Fächern eine fundierte Ausbildung genossen, wie sich überhaupt der Lebens- und Ausbildungsverlauf der Pianistin sehr beeindruckend liest: Klavier-Studium bei Edith Picht-Axenfeld, Leon Feuchtwanger und Vitaly Margulis, Musikwissenschaft bei Claus-Steffen Mahnkopf und Peter Gülke, historische Aufführungspraxis bei Robert Hill. Man fragt sich, ob man sich wundern soll oder ob es vielmehr nur folgerichtig ist, dass eine so ausgebildete Interpretin zudem einen eigenen Stil entwickeln konnte, der mit dem aktuellen, durch eine Weltersteinspielung sehr aufsehenerregenden Beethoven-Album beim Label Oehms im Status der Reife angekommen zu sein scheint.

Zu hören ist auf Sophie-Mayuko Vetters neuer CD in Weltersteinspielung ein Fragment von Beethovens sechstem Klavierkonzert (vervollständigt von Nicholas Cook und Hermann Dechant), das bekannte zweite Klavierkonzert Beethovens Op. 19 sowie das immer noch vergleichsweise selten zu hörende Jugendkonzert in Es-Dur WoO 4.

Sophie-Mayuko Vetter erweist sich als eine mit allen Wassern gewaschene Pianistin, die sozusagen über den Belangen der Spieltechnik steht und gerade deswegen in der Lage ist, eine im besten Sinne poetische Interpretation aller Stücke zu erreichen. Peter Ruzicka, seines Zeichens Dirigent, Komponist und Intendant in Personal-Union, ist mit den vorzüglich aufgelegten Hamburger Symphonikern ein kongenialer Partner. Und auch die hervorragende Tontechnik tut hier ein Übriges hinzu.

Natürlich kann man sich trefflich über bestimmte Aspekte streiten: Wäre das eingespielte, rekonstruierte Fragment des ersten Satzes eines sechsten Klavierkonzerts wirklich so im Sinne Beethovens? Fragt man mich, so würde ich sagen: Wahrscheinlich nicht, denn Beethoven war ein akribischer Ausarbeiter und hätte die bisweilen dürftigen Themen sicherlich noch viele Male umgearbeitet, um ein Ergebnis zu erzielen, das seinen Ansprüchen genügt hätte. Ich würde aber auch sagen, dass das Anhören dieses Re-Konstrukts sehr viel Freude macht und die Einspielung sicherlich sehr lohnenswert war.

Das eigentliche Highlight des Albums ist für mich das Klavierkonzert Nr. 2, Op. 19, das Sophie-Mayuko Vetter mindestens auf Augenhöhe mit auch den größten Beethoven-Interpreten der zumindest jüngeren Vergangenheit interpretiert. Zum Glück verfallen weder sie noch Ruzicka dem Drang, die Tempi zu schnell zu nehmen, und so ist dieses vielleicht zarteste aller Beethoven-Konzerte in dieser Einspielung schier ein Gedicht! Besonders auffällig hierbei auch die ausgezeichneten Holz- und Blechbläser der Hamburger Symphoniker. Ja, wirklich in allen Bereichen ist das eine ganz ausgezeichnete Aufnahme, und man würde sehr gern auch noch andere Beethoven-Konzerte aus den Händen Vetters entgegennehmen.

Ob es hingegen nun das Jugendkonzert WoO 4 sein musste, lasse ich da mal dahingestellt. Sicherlich ist dieses Stück ein eindrucksvolles Beispiel für Beethovens jugendliche Frühreife, und es ist eine gute Erinnerung daran, weil man Beethoven selten mit dieser frühen Reife in Bezug setzt, sondern eher den Fokus auf seine „titanischen“ Spätwerke legt. Gleichwohl ist die Komposition im direkten Umfeld einfach erkennbar nicht gleichrangig und dann auch noch am Ende des Albums platziert, sodass sich der Eindruck eines kompositorischen Rückschritts förmlich aufdrängt. Chronologisch hingegen war es ja anders herum.

Sophie-Mayuko Vetter spielt bei der Aufnahme dieses Jugendwerks einen historischen Broadwood-Flügel von der Art, wie ihn auch Beethoven unter seinen Instrumenten gehabt haben könnte.

Es ist erstaunlich, dass der Zusammenklang von historischem Instrument und modernem Sinfonieorchester so gut funktioniert, und es ist bemerkenswert, dass die Interpretin auch auf diesem gewiss nicht einfach zu beherrschenden Instrument ihren persönlichen Stil beibehalten kann und auch nicht in Versuchung kommt, affektierte Manierismen der historischen Aufführungspraxis aus dem Köcher zu holen.

Und so bleibt festzuhalten, dass wir hier ein Beethoven-Album haben, das zwar polarisieren wird, das zwar zu Diskussionen und dem Austausch von Meinungen förmlich herausfordert, das aber gerade deshalb so erfrischend und positiv ist, weil dies zum Beginn des „Beethoven-Jahres“ 2020 geschieht, in dem wir Polarisierung, Debatte und Austausch viel nötiger brauchen als leere Marketing-Hülsen und tausendmal Aufgewärmtes. Insofern: Hut ab vor Sophie-Mayuko Vetter! Möge sie ihrer Linie treu bleiben und weiterhin so spannende Entdeckungen zu Gehör bringen! Einspielungen von „Standardrepertoire“ haben wir wahrlich genug.

[Gilbert Praetorius, Dezember 2019]

Peter Ruzicka überzeugt mit eigenen Werken

Foto © Astrid Ackermann

Peter Ruzicka, als langjähriger Intendant der Münchener Biennale tief mit der Stadt verbunden, hat sich am Dirigentenpult – auch auf CD – vor allem für die Werke Hans Werner Henzes eingesetzt. Anlässlich seines 70. Geburtstags gab es beim ersten Orchesterkonzert der neuen „musica viva“-Saison mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 5.10.2018 erstmals die Gelegenheit, einen kompletten Abend nur mit eigenen Werken des Multitalents Ruzicka zu hören, die einen Zeitraum von gut dreißig Jahren umspannten.

Das Konzert beginnt mit den Fünf Bruchstücken für großes Orchester von 1987, kaum 13 Minuten lang. Die fragmentarisch wirkenden Einzelsätze skizzieren dennoch die Idee eines symphonischen Ganzen. Ruzicka sagte in der Einführung, dass er die Partitur aufgrund des großen zeitlichen Abstands – er hatte die Bruchstücke seinerzeit selbst auf CD eingespielt – quasi neu lernen musste. Heute kann man dieses typisch „postmoderne“ Werk mit seinen zahlreichen Mahler-Allusionen ohne die damaligen, meist fruchtlosen Diskussionen viel unbefangener genießen. Neben den stark romantisch geprägten Ausdrucksmomenten aus dem Mahlerschen Fundus, die als musikalische „Zeichen“ ganz im Sinne Hans Werner Henzes sofort verständlich werden, etwa der die vorausgehenden Turbulenzen beruhigende Trompeteneinsatz am Ende des fünften Stückes, ist aber auch Ruzickas Beschäftigung mit dem großen, schwedischen Symphoniker Allan Pettersson und sogar mit Bruckner zu spüren – gerade in den tonalen Anklängen. Obwohl schlagtechnisch eher sparsam agierend, hat Ruzicka hier alles im Griff, gibt die entscheidenden, auch rein klanglichen Impulse mit großer Klarheit an das überaus aufmerksame BR-Symphonie-Orchester weiter.

Bei der Uraufführung von Loop stehen die beiden Trompeter, Sergei Nakariakov (auch Flügelhorn) und Giuliano Sommerhalder (Piccolotrompete), ganz im Zentrum. Sie spielen wenig gemeinsam, ergänzen sich vielmehr gegenseitig zu einem Instrument größeren Tonumfangs. Die dargebotene Virtuosität ist von Beginn an atemberaubend, soll in ihrer Übersteigerung gewissermaßen ausgestellt, damit aber auch entpersönlicht wirken. Bei den schnellen Abschnitten fungiert das Orchester eher nur als grundierende Klangfläche. In den erinnerungsartigen Passagen zeigt sich wieder Ruzickas eminente Begabung für expressive Melodik. Der Schluss mit Flügelhorn bringt unerwartete Wärme, fast ein wenig kitschig. Diese intelligent mit den Traditionen des Instrumentalkonzerts spielende, sie aber gleichzeitig aufbrechende Komposition ist nicht gerade leichte Kost – der Beifall für die Solisten aber verdientermaßen überwältigend.

… Inseln, randlos … ist eigentlich ein Violinkonzert, jedoch gibt es dazu noch einen 16-stimmigen Kammerchor (hier als Gäste das sich wunderbar einfügende Vocalconsort Berlin), der zu Beginn nur recht sphärische Vokalisen singt, im Zentrum dann aber ein eindringliches, sehr kurzes Gedicht von Paul Celan intoniert. Der Dichter steht nicht nur im Zentrum von Ruzickas erster, gleichnamiger Oper, sondern hat den Komponisten immer schon tief berührt. Am stärksten wirken hier Abschnitte, die eher reduziert sind, etwa nach dem Gedicht mit Solovioline, Harfe und Celesta. Über Strecken gibt es ein für die 1990er-Jahre nicht unübliches Versteckspiel zwischen der Solistin und dem Orchester, in dem die Violine manchmal gewollt untergeht, aber dann – meist durch wahre Kraftakte in der höchsten Lage – wieder Oberwasser bekommt. Leider deckt hier der Dirigent Ruzicka die überragende Carolin Widmann auch an Stellen gnadenlos zu, wo dies offensichtlich nicht intendiert ist. Widmanns großartiges Flageolettspiel erinnert an Anne Sophie Mutter – und die gegen Schluss „rettenden“ Oktaven kommen mit völliger Überzeugung. Die Solistin ist wirklich „drin“ in diesem außergewöhnlichen Werk – absolut beeindruckend.

Mit Flucht – Sechs Passagen für Orchester (2014) endet das mit Bedacht so richtig gewählte Programm; denn hier schließt sich in vielerlei Hinsicht ein Kreis, knüpfen die attacca ineinander übergehenden Stücke an die Bruchstücke an. Ruzicka wollte einen speziellen Tonfall für sein aktuelles Musiktheater über Walter Benjamin finden, hat die Passagen später teilweise als Zwischenspiele in die Oper integriert. Ausdrucksmäßig wird eine überaus breite Palette abgedeckt: Man findet grandiose Steigerungen, neben brutalen Momenten, die plötzlich abbrechen, Streicherschönheit; wie schon im Violinkonzert einen fast Brucknerschen Choral, Kontemplatives neben sich enorm verdichtender Konzentriertheit. Ruzicka verdient höchste Bewunderung dafür, dass er in seiner Instrumentationskunst – immer schon äußerst differenziert – nun eine Reife erlangt hat wie kaum jemand seiner Generation. Das BR-Symphonieorchester kann hier aus dem Vollen schöpfen, und auch beim Publikum hinterlässt dieses zudem unglaublich fassliche Werk den tiefsten Eindruck; der Applaus ist entsprechend. Hoffentlich hat der umtriebige Peter Ruzicka weiterhin genügend Zeit zum Komponieren.

  [Martin Blaumeiser, Oktober 2018]