Schlagwort-Archive: Peter Orth

David und Goliath: Préludes und Sonate

Challenge Classics CC72684; ISBN: 608917268423

4

Der aus Philadelphia stammende Peter Orth ist zu hören mit russischer Klaviermusik um die Wende zum 20. Jahrhundert. Kurze Miniaturen aus der Feder des jungen Alexander Scriabin, seine 24 Préludes op. 11, stehen der großformatig-dreisätzigen ersten Sonate op. 28 des ein Jahr später geborenen, gereiften und auf dem Weltparkett etablierten Sergei Rachmaninov gegenüber.

Zwei Herausforderungen, wie sie konträrer kaum sein können, bietet das Album des mittlerweile in Deutschland lebenden Pianisten Peter Orth. Das eine Werk, ein 24-teiliger Préludes-Zyklus durch alle Tonarten, feingeschliffene und detaillierte Kristalle mit einer deutlichen Anlehnung an Chopins Préludes op. 28, setzt sich vollständig ab von dem knapp 20 Jahre später entstandenen anderen Stück, einer über 40 Minuten langen Sonate höchster Virtuosität, die eher noch im Zeichen Tschaikowskis steht. Technisch bieten beide Komponisten ein gewaltiges Spektrum an Hürden auf, doch von der Art der musikalischen Ausgestaltung ist es etwas vollkommen anderes, eine kaum eine Minute lange Miniatur detailgetreu zu formen und eine ganze Welt in ihr entstehen zu lassen, als einen viertelstündigen Mammutsatz in all seiner Zersplitterung und Gegensätzlichkeit zusammenzuhalten. Hier wird beides verlangt.

Den ersten Programmpunkt bilden Alexander Scriabins 24 Préludes op. 11, die in einem achtjährigen Kompositionszeitraum zu seinem umfangreichsten Préludes-Zyklus avancierten. Der junge Scriabin, später als großer Neuerer hervorgetreten (vor allem durch seine Quartharmonik, die sich unter anderem im berühmt gewordenen Prometheusakkord äußert), ist hier vor allem noch von Chopin beeinflusst und ahmt dessen Gattungen nach, so, wie er auch seinen Stil aufgreift und fortführt. Doch ist Chopin bei weitem nicht die einzige schöpferische Kraft hinter dem Opus 11, wie viele so gerne behaupten mögen: Scriabin zeigt hier schon eine enorm moderne Seite seiner Musik auf, die sich absetzt von allen bisherigen Einflüssen. Wie subtil schafft es das zweite der Préludes, die kleine Septime durch stetige Verwendung ohne Auflösung in die Oktave (sondern mit Weiterführung in die Sexte) als Konsonanz zu etablieren; welch dämonische Kräfte herrschen in der sechsten Miniatur, die uns in einem Atemzug packt und durch all die schmetternden Oktaven reißt, nur um uns verstört in voller Akkordik zurückzulassen; und wie neuartig ist der Gebrauch des linken Pedals in der geheimnisvoll-vernebelten Nummer 16, das dezidiert als eigene Klangfarbe vorgegeben wird und wohl erstmalig in der Musikgeschichte für ein Fortissimo hinzugenommen wird.

Als Folgepaket gibt es die nach wie vor im Schatten der zweiten stehende erste Sonate von Sergei Rachmaninov, dessen Schaffen im Gegensatz zu Scriabin sein Leben lang der Romantik verpflichtet war. Dieses doch recht langatmige Werk begann der Komponist bei einem Aufenthalt in Dresden, inspiriert vor allem von Goethes Faust, was fast eine Art der programmatischen Anlehnung für die Sonate bietet. Davon ist allerdings im Notentext recht wenig zu erkennen, es sei denn, man will die ostinaten Begleittriolen des zweiten Satzes mit dem ebenfalls in d-Moll stehenden „Gretchen am Spinnrade“ op. 2 von Franz Schubert vergleichen. Insgesamt ist die Sonate ziemlich zerspalten in viele kleine Einzelabschnitte, die auch vom Tempo immer wieder auseinanderdriften, und einen sinnvollen Zusammenhalt entstehen zu lassen kompliziert machen.

Makellos angenehm ist die Tonqualität der Einspielung, die fein ausgewogen alle Details des Spiels zum Hörer hinüberträgt. Das ausschließlich englischsprachige Booklet ist mit Witz und Hintergrundwissen von Jens F. Laurson verfasst, wobei leider auch er übersieht, dass Scriabins Frühwerk neben Chopins Einfluss auch etwas Eigenes und Neues darstellt. Im Spiel von Peter Orth gibt es immer wieder einige Angewohnheiten, die irritierend wirken. Vor allem sei hier genannt der asynchrone Anschlag beider Hände, teils an Stellen, wo sie so offensichtlich zusammen die Mechanik betätigen müssen – sogar in den Schlussakkorden der Sonate ist die linke Hand der rechten einfach voraus. Bei Scriabin sollten zudem die unwillkürlichen Temposchwankungen hervorgehoben werden, durch die der Hörer immer wieder aus der eigentlich unermesslichen Spannung dieser Miniaturen gerissen wird – gerade in dem diabolischen sechsten Prélude wirkt plötzliche Zurückhaltung sehr dem gehetzten Charakter entgegen. Insgesamt ist jedoch eher die Tendenz zu beobachten, dass die langsamen Tempi deutlich zu schnell genommen werden, wodurch gerade bei Scriabin viele wichtigen Details nicht mehr ans Licht treten können und sich nicht alle Stimmen voll zu entfalten vermögen. So überzeugen nicht alle der Préludes wirklich durch die eigentliche Klarheit und Durchsichtigkeit, die ihnen trotz aller polyphonen Wendungen und konfliktiven Rhythmik innewohnt. Dennoch gibt es einige Nummern, die bei Orth durch exakt überdachten Gestus bestechen, allen voran die Nummer 16, die mit unruhigem Geist und logischer Steigerung auftrumpft. Auch die Miniaturen 11-14, 17 und 21 wurden sehr genau erfasst, und insgesamt ist die zweite Hälfte ausgewogener und konzentrierter als die erste. Äußerst positiv fällt auf, dass Peter Orth vielen pianistischen Klischees widerspricht, was die sangliche Phrasierung der Melodie betrifft – der Pianist hat ein gutes, natürliches Gespür für energetische Verläufe und akzentuiert nicht wie so viele anderen ausgerechnet die Auflösungen oder mechanisch die schweren Taktzeiten, sondern die spannungsintensiven Momente innerhalb der Linien. Deutlich reflektierter als Scriabin gelingt ihm die hochvirtuose Sonate op. 28 von Rachmaninov in d-Moll. Die grundverschiedenen Charaktere der einzelnen Abschnitte vermag Peter Orth erstaunlich gut zusammenzuhalten, ohne die große Form übermäßig bröckeln zu lassen – soweit es das Werk überhaupt zulässt, nicht in all den vielen Episoden und Verwinklungen verloren zu gehen. Zwar kann man mancherorts durchaus auf den Gedanken kommen, der mechanisch-technische Effekt überwiege das eigentlich musikalische Geschehen, doch wird das immer wieder schnell widerlegt durch ausgefeilte Melodieelemente in all dem virtuosen Gewühl, durch die einen doch ein wenig danach verlangt, die so selten zu hörende Sonate neben der zweiten öfter einmal vernehmen zu dürfen.

[Oliver Fraenzke, September 2015]