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„Musikvermittlung ist uns sehr wichtig!“

Tatjana Uhde und Lisa Wellisch im Interview mit the-new-listener.de zu ihrem Album „Märchenbilder“

Die Cellistin Tatjana Uhde und die Pianistin Lisa Wellisch haben ihr Duo-Debütalbum für das audiophile Label ARS Produktion aufgenommen (siehe Rezension). René Brinkmann sprach mit den beiden Musikerinnen im Juli 2021. Für Tatjana Uhde ist das die Zeit, in der sie sich als Cellistin im Bayreuther Festspielorchester engagiert, während Lisa Wellisch die ersten Solokonzerte nach dem Corona-Lockdown gab – eine geschäftige Zeit also, in der beide Musikerinnen trotzdem Zeit fanden, um the-new-listener.de einige Fragen zum Album „Märchenbilder“ zu beantworten.

Frau Uhde, Frau Wellisch, Ihr Debütalbum trägt den Titel „Märchenbilder“ und befasst sich überwiegend mit Stücken, die eigentlich literarische Vorbilder haben. Kann man das so sagen?

LW: Das kann man so sagen, im Fall der „Märchenbilder“ sogar ganz konkret das Gedicht „Märchenbilder“ von Louis de Rieux. Aber ungewöhnlich ist das für die Romantik nicht – die sogenannte „Poetische Musik“ war im 19. Jahrhundert sehr gefragt, oft gab es Anspielungen und Bezüge auf literarische Vorlagen. Diese Inspirationen aus der Literatur helfen natürlich, die Musik zu verstehen, und darauf nehmen wir auch bei der Moderation unserer Konzerte und in unserem beigelegten CD-Booklet Bezug.

TU: Auch Edvard Grieg komponierte seine Schauspielmusik Peer Gynt (Solveig’s Lied ist darin enthalten) nach dem dramatischen Gedicht von Henrik Ibsen mit gleichem Titel.

Inmitten der musikalischen Märchen steht die „Arpeggione“-Sonate von Franz Schubert. Schubert schrieb sie für das Arpeggione, eine Art Gitarre zum Streichen mit sechs Saiten und ganz anders gestimmt als ein Cello. Welche besonderen Anforderungen stellt dieses Stück an Cellistinnen und Cellisten, die es ja heute zumeist interpretieren?

TU: Die Sonate verdankt ihre Entstehung Schuberts Bekanntschaft mit dem Instrumentenbauer Johann Georg Stauffer (1778–1853), von dem Schubert eine Gitarre besaß. Im Jahr 1823 baute Stauffer ein neues Instrument, die Arpeggione, welche über sechs Saiten (Stimmung: E-A-d-g-h-e’) und Metallbünde verfügte. Im Jahre 1824 schrieb Schubert für dieses Instrument die Sonate in a-moll, welche hinsichtlich Virtuosität und Tonumfang auf die besonderen Möglichkeiten dieses Instruments abzielte. Da sich das neue Instrument nicht durchsetzen konnte, stellte sich die Frage einer Realisierung auf anderen Streichinstrumenten, um die besonderen Schönheiten der Sonate zum Ausdruck zu bringen; hierfür kamen eigentlich nur solche Instrumente in Frage, welche hinsichtlich des Tonumfangs den besonderen Anforderungen genügen konnten, also Violoncello oder Viola, weshalb das Werk vorzugsweise von diesen Instrumenten gespielt wird. Die „Arpeggione“-Sonate stellt hohe technische Anforderungen an Cellistinnen und Cellisten. Sehr virtuos und doch immer gesanglich kommt die ganze Bandbreite des Cellos von der Tiefe bis in die höchsten Töne des Griffbretts zum Erklingen. Die Herausforderung ist, trotz der instrumentalen Schwierigkeiten stets mit Leichtigkeit und Phrasierung zu spielen. Konrad Hünteler zählt die „Arpeggione-Sonate“ zu den „[…] unsterblichen Perlen im Kammermusikrepertoire“, und da stimme ich ihm voll zu. Beim Publikum sehr beliebt, gehört die „Arpeggione“-Sonate zu den Werken, die einen festen Platz im Repertoire eines jeden Cellisten haben.

Warum hat sich dieses Stück eigentlich überhaupt im Cello-Repertoire durchgesetzt? Von der Stimmlage her wäre ja eine Bratsche vielleicht sogar „näher“ am Klang des Arpeggione als ein Cello, oder?

TU: Sowohl das Cello als auch die Bratsche nähern sich vom Tonumfang der Arpeggione. Aus diesem Grunde wird diese Sonate auch vor allem von diesen beiden Instrumenten gespielt.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen Themenwechsel: Die „Märchenbilder“ repräsentieren Ihr erstes gemeinsames Album als Duo. Da darf man vielleicht noch fragen, wann und wie Sie als Duo zusammengefunden haben?

LW: Ich habe zusammen mit Tatjanas Mann [Anm. Prof. Tristan Cornut, ebenfalls Cellist] in Stuttgart studiert, und wir sind uns vor einigen Jahren zufällig in Bayreuth, wo Tatjana im Festspielorchester spielt, wieder begegnet. Tatjana und ich haben dann eine spontane Einladung für ein Konzert vor Ort bekommen. Die Zusammenarbeit hat uns so viel Spaß gemacht und wir verstehen uns so gut, dass wir beschlossen haben, ein festes Duo zu bilden. Ein lustiger Zufall ist auch, dass mein Mann wiederum Schüler von Tatjanas Großvater Jürgen Uhde war.

TU: Wir haben uns vor zwei Jahren in Bayreuth kennengelernt und hatten dort auch beim Festival „Bayreuth Summertime“ unseren ersten großen Auftritt mit dem „Märchenbilder“-Programm. Da eine Reihe von Konzerten damit geplant ist, haben wir uns letztes Jahr dazu entschlossen, dieses Programm aufzunehmen, welches uns sehr am Herzen liegt und beim Publikum sehr gut ankommt.

Sie, Frau Uhde, sind unter anderem zweite Solo-Cellistin des Orchesters der Nationaloper Paris und sind deshalb wahrscheinlich häufig in Frankreich. Und Sie, Frau Wellisch, sind als Solistin auch sehr aktiv und konzertieren viel. Wie gestaltet sich da die Zusammenarbeit als Duo? Wie finden Sie die Zeit, um gemeinsam zu arbeiten und treffen Sie sich dann stets am selben Ort oder immer da, wo es geografisch gerade am besten passt?

TU: Die Zusammenarbeit ist trotz der geografischen Distanz kein Problem. Wir treffen uns in regelmäßigen Abständen rund um unsere Konzerte, meist an dem Ort, der geografisch gerade am besten passt. Es ist eine Frage der Organisation. Natürlich muss das Programm anfangs sorgfältig einstudiert und gemeinsam geprobt werden, da muss man sich die Zeit nehmen, die nötig ist. Das können dann schon auch mal zwei Wochen intensives Proben sein. Auch wenn wir nicht am selben Ort sind, vergeht doch kaum ein Tag, an dem wir nicht über Nachrichten oder Telefon in Kontakt sind.

LW: Wir haben zum Glück jeden Sommer während der Festspielzeit ausführlich Zeit, zu proben und neues Repertoire zu studieren. An Konzerttagen sehen wir uns oft erst am gleichen Tag und spielen dann eher Stellen an, als lange zu proben. So ist es im Konzert frisch und man achtet inspiriert aufeinander.

Auf Ihrem Album haben wir vier sehr unterschiedliche Komponisten: Schumann, Schubert, Grieg und Juon. Wie würden Sie die Stile der vier Komponisten jeweils charakterisieren?

LW: Schubert bietet wahrscheinlich den größten Kontrast zu den anderen Werken auf der CD: Als einziger Komponist gehört er noch der klassischen Epoche an und der Stil der „Arpeggione“ ist trotz der volksliedhaften Klänge noch strenger in der Form und Agogik, genauer notiert in der Artikulation. Der schweizerische Komponist Paul Juon mit russischen Wurzeln war für uns eine neue Entdeckung, in seiner Tonsprache hört man deutlich die russische Romantik heraus und sein „Märchen“-Zyklus op. 8 klingt über weite Strecken sehr melancholisch. Grieg ist natürlich ein Meister darin, den „nordischen Ton“ in die Musik zu übertragen. Und Schumanns Kosmos, der stark von den Werken E. T. A. Hoffmanns und Jean Pauls beeinflusst ist, lässt sich gar nicht in einem Satz beschreiben: Es ist eine so komplexe, tief anrührende poetische Musik, die einen immer wieder Neues entdecken lässt und mich schon immer sehr bewegt hat. Schumann sah sich selbst ja als „Tondichter“ und wie kein anderer verkörpert er für mich die deutsche Romantik.

TU: Robert  Schumann ist auch für mich einer der bedeutendsten romantischen Komponisten. Ich finde bei Schumann immer unglaublich faszinierend die Bandbreite an Gefühlen, vom gesanglichen Poetischen, Schwelgerischen bis hin zum Stürmischen, Besessenen. Schuberts Ausdrucksweise empfinde ich als emotional sehr feinfühlig und sanft. Das Liedhafte und Lyrische ist auch in der „Arpeggione-Sonate“ sehr klar zu vernehmen. Bei Griegs Solveig’s Lied ist für mich das Lyrische im Vordergrund. Mit einem Hauch von Schwermütigkeit und Melancholie und einem unbeschwerten, heiteren Mittelteil. Paul Juons spätromantischen Stil würde ich charakterisieren als ernst und anspruchsvoll, er verwendet gerne russische und nordische Themen, auch im Märchen Op.8 finden wir Passagen mit Anklängen an russische Folklore.

Eine Überraschung war für mich Griegs „Solveigs Lied“ aus „Peer Gynt“ in der Duofassung für Klavier und Cello, von der ich nicht wusste, dass sie existierte. Sie scheint durch die reduzierte Besetzung eine ganz eigenartige „Qualität“ der Verlassenheit und der Einsamkeit auszustrahlen, und das finde ich gerade im Vergleich zur Orchesterfassung sehr interessant. Gibt es nur dieses eine Stück aus „Peer Gynt“ in der Duobesetzung für Cello und Klavier oder gibt es da noch weitere Stücke aus dem „Peer Gynt“ für diese Besetzung?

TU: Mir ist nur dieses eine Lied bekannt, aber sicherlich ließen sich auch andere Passagen problemlos arrangieren für Cello und Klavier. Da das Cello der menschlichen Stimme besonders nahe kommt, lassen sich die meisten Lieder sehr gut für Cello arrangieren. 

LW: Doch, es gibt noch weitere Stücke aus der Suite für unsere Besetzung, aber am besten eignet sich tatsächlich „Solveigs Lied“, weil es so wirklich auf eine andere (durchaus gleichwertig interessante) Art funktioniert. Bei der „Halle des Bergkönigs“ beispielsweise vermisst man dann doch das große Orchester.

Ist geplant, dass es noch ein weiteres Duo-Album von Ihnen geben wird? Oder werden die „Märchenbilder“ nun erst einmal ausführlich live vorgestellt?

TU: wir werden erst einmal unsere geplanten Konzerte mit dem « Märchenbilder » Programm spielen und freuen uns sehr, nach den extrem schwierigen Coronamonaten das Programm unseres Debütalbums dem Publikum endlich „live“ zu präsentieren. 

LW: Uns ist Musikvermittlung sehr wichtig und mit dem Programm erreichen wir ein großes Publikum. Aber natürlich spukt die Idee zu einer neuen CD auch schon in unserem Kopf herum…

[Das Interview führte René Brinkmann]

Eine Reise durch die Märchenwelt

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 325; EAN: 4 260052 383254

Tatjana Uhde (Violoncello) und Lisa Wellisch (Klavier) präsentieren bei Ars Produktion Schumacher ein Programm aus kammermusikalischen „Märchenbildern“ von Franz Schubert, Robert Schumann, Edvard Grieg und Paul Juon.

Die Musik sei die romantischste aller Künste, sagte E. T. A. Hoffmann zu jener Zeit, als die romantischen Dichter auszogen, dem einfachen Volk Märchen und Sagen abzulauschen, oder gleich selbst dem Märchen- und Sagenschatz Beiträge aus eigener Feder hinzufügten. Was lag für die Komponisten der nachbeethovenschen Generationen näher, als aus diesem romantischen Geist mannigfaltige Anregungen für ihr Schaffen zu entnehmen? Aus freier Phantasie im Volkston Märchenerzählungen, Balladen und Romanzen zu komponieren, war eine Spezialität Robert Schumanns, der damit wiederum zahlreichen jüngeren Tonsetzern zum Leitbild wurde.

Die Violoncellistin Tatjana Uhde und die Pianistin Lisa Wellisch haben für ihre CD Märchenbilder aus dem Fundus entsprechender Stücke ein Programm zusammengestellt, das durch seine ausgewogene Komposition besticht: Es beginnt und endet mit einem Miniaturenzyklus von Robert Schumann (den titelgebenden Märchenbildern op. 113, ursprünglich für Bratsche geschrieben, und den Fantasiestücken op. 73, die ursprünglich der Klarinette zugedacht waren). Das umfangreichste Werk steht im Mittelpunkt: Franz Schuberts Sonate für Arpeggione und Klavier D 821. Sie mag keinen romantisch-poetischen Untertitel besitzen, harmoniert aber mit ihren eingängigen, nicht selten sehnsuchtsvoll anmutenden Melodien und ihren schweifenden Harmoniefortschreitungen stilistisch ausgezeichnet mit den sie umgebenden Charakterstücken. (Auch mag das Instrument, für das sie eigentlich geschrieben ist, – der gambenartig klingende, im Bau Eigenschaften von Gitarre und Violoncello vereinende Arpeggione – dem heutigen Hörer so entrückt vorkommen wie ein sagenumwobener Gegenstand aus der Märchenwelt…). Zwischen diesen mehrsätzigen Werken sind zwei Einzelstücke eingeschoben, die aus dem deutschen Sprachraum hinausführen: Auf die nordische Sagenwelt wird mit Solvejgs Lied aus Edvard Griegs Peer-Gynt-Suite Nr. 2 (in der Transkription von Orfeo Mandozzi) verwiesen, stammt es doch ursprünglich aus der Musik zu einem Drama, das Henrik Ibsen nach Vorlagen norwegischer Märchen geschrieben hat. Paul Juons Märchen op. 8 stellt die einzige Originalkomposition für Violoncello und Klavier im Rahmen dieser CD dar. Es handelt sich um ein Frühwerk des bedeutenden Russlandschweizers, das noch ganz unter dem Eindruck des russischen Folklorismus steht. Entstanden sein dürfte es der Opuszahl nach Mitte der 1890er Jahre, also ein paar Jahre bevor Nikolai Medtner begann, mit seinen zahlreichen Märchenstücken (Сказки) eine eigene Untergattung der russischen Klavierminiaturistik zu kultivieren. Zusammengehalten wird das Programm nicht nur durch Tonfall und Thematik der Stücke, sondern auch durch ihre Tonarten, denn sämtliche Werke stehen entweder in D (Schumann op. 113, Grieg) oder dem nahe quintverwandten A (Juon, Schubert, Schumann op. 73), wobei das Mollgeschlecht – bei romantischer Literatur wenig verwunderlich – dominiert.

Tatjana Uhde und Lisa Wellisch spielen vorzüglich aufeinander abgestimmt. Uhde besitzt ein sicheres Gefühl für melodische Entwicklungen. Sie hält sich streng an die Phrasierungsvorschriften der Komponisten, verliert sich aber nicht in einem bloßen Aneinanderreihen der einzelnen Phrasen, sondern erfasst stets auch die längeren Verläufe der Melodiebögen, in denen sie den Wechsel der Schwer- und Leichtpunkte sorgfältig herausarbeitet. Exemplarisch hören lässt sich das etwa bei Grieg, oder im letzten Satz der Schubert-Sonate, in welchem Uhde die Achtel nach Vorschrift eng an die punktierten Viertel gebunden spielt, es aber nicht versäumt, aus diesen Motiven eine lange Melodie zu entfalten. Wellisch macht dem Hörer durchweg deutlich, dass das Klavier ebenbürtiger Partner des Cellos und nicht nur Begleitung ist. Sie versteht es, die jeweilige Aufgabe zu erfüllen, die sich in einer bestimmten Situation stellt, hält sich zurück, wenn das Cello die führende Rolle innehat, tritt bestimmt hervor, wenn das Klavier an der Reihe ist, ohne dass sie das Spiel ihrer Partnerin ungebührlich überdeckte. Die Ausgewogenheit, die zwischen den beiden Instrumenten herrscht, wird namentlich anhand der Schumann-Stücke deutlich, in denen sich zahlreiche kontrapunktische Duette einkomponiert finden. Einschränkend wäre nur Eines zu erwähnen: Eigentlich spricht es für Wellisch, dass sie zu Beginn des langsamen Satzes der Schubert-Sonate danach strebt, in den ihr zugeteilten Achtel-Figurationen die darin verborgene breite Melodie hervorzuheben; allerdings gerät ihr das Ergebnis zu wenig legato (hier ausdrücklich verlangt).

Wie halten es die beiden Musikerinnen mit dem romantischen Ton dieser Märchenmusiken? Sie vertrauen offenbar darauf, dass er sich von selbst einstellt, wenn man die Musik durch sorgfältige Ausführung zum Leben erweckt – und sie tun gut daran! Aufgesetzte Romantizismen hört man von ihnen nicht. Uhde geht nicht verschwenderisch mit dem Vibrato um, sondern setzt es maßvoll ein, um bestimmte Stellen hervorzuheben. Auch vermeiden Uhde und Wellisch willkürliche Schwankungen des Zeitmaßes; falsches espressivo durch übertriebenes Verlangsamen und Beschleunigen kommt unter ihren Händen nicht vor. Stattdessen freut man sich an der stringenten Gestaltung der Tempi und am gelegentlichen, von beiden Künstlerinnen sicher ausgeführten Rubato, das den Hörer nie das Grundtempo vergessen lässt.

Wer also eine kleine Reise durch die Märchenwelt der romantischen Kammermusik unternehmen möchte, der kann sich getrost Tatjana Uhde und Lisa Wellisch anvertrauen.

[Norbert Florian Schuck, Juli 2021]

Potpourri voller Überraschungen

Musiques Suisses MGB CD 6284

Juon_Silhouettes_Cover

Die jungen Geigentalente Malwina Sosnowski und Rebekka Hartmann bringen, zusammen mit ihrem Klavierpartner Benyamin Nuss, lang in Vergessenheit geratene Kammermusik-Kostbarkeiten von Paul Juon zum Erklingen

Rechtzeitig zum 75. Todesjahr des Russischen Brahms mit Schweizer Wurzeln, Paul Juon, hat Musiques Suisses eine CD herausgebracht, die das breite Spektrum des Geigers und Professors für Komposition und Kammermusik unter Beweis stellen. Die talentierten Geigerinnen Malwina Sosnowski und Rebekka Hartmann, letztere bereits weithin bekannt als Konzertsolistin, erarbeiteten mit Benyamin Nuss als vorzüglichem Klavierpartner zwei Werkgruppen – den Silhouettes-Zyklen, genannt Bücher, und die sieben kleinen Tondichtungen –, in denen Juon ausschließlich mit der seltenen Besetzung für zwei Violinen und Klavier agiert und beweist, dass diese dem klassischen Klaviertrio in nichts nachsteht.

Das erste Buch der Silhouettes erklingt unter den Händen der jungen Musiker mit gekonnter Balance zwischen Klangsinnlichkeit (manchmal an der Grenze zum Schmalz) und formalem Einfühlungsvermögen. Halten sich die Idylle und der Douleur noch eher im Rahmen anspruchsvoller Salonstücke, so bietet die Bizarrerie – so lang wie beide Sätze davor zusammen – schon deutlich symphonischere Züge. Allein das innere Wesen dieses Schlussstückes strotzt nur so von einer für Juon charakteristischen Polarität, sprich zwischen ausgelassener Vitalität als Beginn und Ende und versonnener Melancholie in der Mitte.

Deutlich andere, ja nahezu mulmige Töne schlägt der Anfang des zweiten Buches an. Tatsächlich fühlt man sich wie am Ende von Schuberts Winterreise, sobald der Conte mysterieux, sprich der unheimliche Graf erklingt, zumal die gedämpften Geigen und das in der Begleitung reduzierte Klavier deutlich an den Leiermann erinnern. Doch Juon wäre nicht er, wenn auch nicht dieser Satz eine für seinen Stil charakteristische Abwechslung beinhaltete. Lichter wird der Satz, lebendiger die Klavierbegleitung – um dann wieder in die gedämpfte Stimmung des Beginns zurückzufallen. Dabei ging es Juon offensichtlich nicht um bloße Schauerromantik, vielmehr huldigte er wie so viele seiner Kollegen seinerzeit alten Formen und Tänzen, wie die Musette miniature, Danse ancienne beweist. Spätestens hier kommt die Stärke des Trios Sosnowski-Hartmann-Nuss zum Tragen: eine ernste, aber unbeschwerte und neugierige Herangehensweise an jeden einzelnen Satz. Klingt der Conte zwar deutlich düster, aber nicht zu schwer, so überzeugt aufgrund dieser Fähigkeiten zur Differenzierung nicht weniger die Musette, die sich leicht und semibarock, aber nicht oberflächlich anhört. Die Parallele zu Grieg und dessen Huldigung an Holberg ist unüberhörbar. Daraufhin ist es der Schlusssatz, der die Musiker vor besondere inhaltliche Herausforderungen stellt: Nach einem wuchtigen und fast etwas zu groben Klavierbasssolo zu Beginn der Obstination entspinnt sich eine bloße Kontrapunktik, die bezeichnenderweise auf einem Basso ostinato, dem Motto dieses Finales, basiert. Die Bewertung dieses Kontrastes fällt nicht leicht angesichts der vorhergehenden Charakterstücke: Paul Juon beweist spätestens hier, viel mehr als ein bloßer Unterhaltungsmusiker zu sein, da er all seinen spieltechnischen und innermusikalischen Anspruch gerade auf diesen Schluss der ersten Silhouettes-Serie konzentriert. Gleichzeitig hat es den Anschein, als gerate er damit an seine Grenzen, da die Obstination in ihrem heterogenen Aufbau etwas überladen wirkt, was auch die klangfreudige und souveräne Aufführung nicht ganz vergessen machen kann.

Dessen ungeachtet kann man dieser wie der darauffolgenden zweiten Serie (drittes Buch) entnehmen, dass Juon seine Ziele beharrlich verfolgte und sich weiterentwickelte. Erfreulich ist beim eröffnenden Prélude, wie der Anspruch nach mehr Komplexität sich mit gekonnter Knappheit verbindet. Der Komponist, der hier seiner Verehrung sowohl für Tschaikowsky als auch für Brahms Ausdruck verleiht, zeigt außerdem gerade in dieser Eröffnung – wie könnte es anders sein! – eine Nähe zu J. S. Bach, ohne dabei je epigonal zu klingen. Ruppige Geigenkaskaden und eine herbere Harmonik sprechen ihre eigene Sprache.

Aber wie so oft ist Juon mit seinen unterschiedlichen Nationalitäten in Personalunion für Überraschungen gut. Auf das Prélude, dem man eine gewisse Neigung zum Handwerk anhört, folgt als deutlicher Kontrast ein Chant d´amour. Mittlerweile haben die Silhouettes sich jedoch von ihrem schlicht-schönen Anstrich als romantische Charakterstücke entfernt – der Chant d´Amour erinnert mit seiner weithin verschachtelten Harmonik gleichermaßen an Szymanowskis Kammermusik und Alban Bergs frühe Lieder. Demgemäß erklingt hier kein zartes Ständchen, vielmehr gestalten Leidenschaft, der die Musiker freien Lauf lassen, und Dramatik im Wesentlichen die Liebesszene, die dennoch versöhnlich verklingt.

Anstatt darauf einen wohlfeilen Kehraus folgen zu lassen, bricht Juon mit seinen eigenen Konventionen und erweitert die zweite Serie nun um ein vielfaches, da er aus dem nächsten Satz gleich drei macht: Ein kurzes erstes Intermezzo klimpert in den Geigen und dem Klavier vorbei. Als wolle er mit den Hörern seinen Spaß treiben, schiebt Juon eine kurze Walzerepisode ein, die so rasch verklingt, wie sie daherkam. Sosnowski, Hartmann und Nuss finden selbst in diesem Epigramm den Ausgleich, indem sie weder sich noch das Stück zu wichtig nehmen, aber auch nicht in lieblose Routine verfallen. Im zweiten, gesanglichen Intermezzo Tranquillo erklingt zunächst ein Lied ganz im Stile des Wiegenliedes Opus 49/4 von Brahms, nur um langsam umzuschlagen und sich zu einem Tanz mit Bordun aufzuschwingen. Dieser Vorgang wiederholt sich innerhalb kürzester Zeit und offenbart, wie viel der Komponist auf kleinsten Raum zum Ausdruck bringen konnte.

Ähnlich gestaltet, aber deutlich russischer erklingt das dritte Intermezzo. Reizvoll ist hier vor allem die Stimmgleichberechtigung der zwei Violinen neben dem Klavier, mit der diese kurzen Stimmungsbilder abschließen. Deutlich erklingt nun die Melancolie, deren Intimität auf motivischen Kombinationen und konzentriertem Ausdruck beruht. Ein gelösterer Mittelteil in H-Dur verläuft sich in Seufzern der ersten Violine und fällt wieder zurück in die unbeantwortete Frage des Anfangs. Wie um den nun fälligen Bogen zum Anfang zu spannen, beschließt diese zweite Serie ein Danse grotesque. Wieder ist es die Neigung zum Makabren und Ausgelassenen am Ende eines Zyklus, die Juon hier sehr beherrscht hervorkehrt.

So bilden allein die Silhouetten einen Kosmos, der Paul Juon als sehr begabten Komponisten, als Russen und Weltbürger zugleich vorstellt. Mit den anschließend dargebotenen Sieben kleinen Tondichtungen op. 81 gelangt seine sehr ausgewogene Tonsprache zu größeren Dimensionen, wie sich dies schon im ersten Gedicht, der Pastorale, offenbart. Erscheinen die Silhoutten noch wie spielerische Experimentierfelder, so findet Juon hier zu einer abgeklärten und formal ausgereiften Sprache, welche die Eröffnung schon als Einzelwerk gelten lassen könnte. Auch das darauffolgende Intermezzo hat im Vergleich zu seinen Silhouetten-Geschwistern deutlich an Eigenständigkeit gewonnen. Wie man den fünf restlichen Nummern entnehmen kann, ist der Komponist seinem Prinzip, eingängige Charakterstücke mit gemischten kompositorischen Stilen zu schmücken, ohne dabei nachahmend zu wirken, insgesamt treu geblieben. Dies beweisen das ausgelassene Impromptu, das abermals an Grieg, diesmal dessen norwegische Springtänze, erinnert, die Barcarole, in welcher die Jahreszeiten von Tschaikowsky anklingen, sowie das spritzige Capriccietto, das zwischendrin mit ruhigen Tönen besticht. Originell, ja von archaischer Erhabenheit ist das vorletzte Tongedicht, die Ciaconna. Ätherisch schlängelt sich deren Soggetto durch die Geigen, dann durch das harfenartige Klavier, nur um sich zu temperamentvoller Entfaltung aufzuschwingen. Wie schon im Prélude der Silhouetten belässt es Juon auch hier nicht bei bloßer Handwerksübung, sondern entwickelt die Chaconne im kurzen, aber nicht allzu knappen Rahmen eigenständig weiter und schafft Kontraste, indem er sie im brachen d-Moll verklingen lässt. Dafür beschert er uns dann einen heiteren Schluss der Tondichtungsgruppe in Form der Burletta, welche ein letztes Mal seine Vorliebe für brillante Kehraus-Stücke unter Beweis stellt.

Als Fazit für dieses Potpourri voller Überraschungen gilt durchaus, was der Präsident der Internationalen Juon-Gesellschaft, Ueli Falett, im Booklet der vorliegenden Erscheinung schreibt: Es kommt dem Komponisten vor allem auf Ausdrucks- und weniger auf Formalmusik an. Obgleich Juon, wie man bei genauem Hinhören erfährt, auch der Form die Chance zur Entfaltung gibt, reduziert er sie im Großen und Ganzen auf einen soliden, meist dreiteiligen Rahmen und widmet sich ganz seiner vielfältigen Klangsinnlichkeit. Herausgekommen ist eine CD, die zur Entdeckung eines völlig zu Unrecht vergessenen, konservativen Meisters der Zeit des Umbruchs zur Moderne einlädt und jeden Hörer ohne musikideologische Vorurteile ansprechen sollte.

 [Peter Fröhlich, August 2015]