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Musik zur Weihnachtszeit: Das Weihnachts-Oratorium von Richard Wetz

Unter den oratorischen Werken, die die Weihnachtsgeschichte thematisieren, nimmt das Weihnachts-Oratorium auf alt-deutsche Gedichte für Sopran- und Bariton-Solo, gemischten Chor und Orchester op. 53 von Richard Wetz (1875–1935) eine besondere Stellung ein. 1929 vollendet, fällt seine Entstehung in eine Zeit, in der nur verhältnismäßig wenige Komponisten größere Konzertwerke zum Thema „Weihnachten“ schrieben. Zu nennen sind unter Wetzens Generationsgenossen Ottorino Respighi mit seiner Lauda per la Natività del Signore (1930) sowie Walter Braunfels mit seiner Adventskantate op. 45 und seiner Weihnachtskantate op. 52 aus dem Zyklus Das Kirchenjahr (1934–1937). Im Gegensatz zu Wetzens Weihnachtsoratorium ist allerdings keines dieser Werke abendfüllend. Die Christnacht op. 85 von Joseph Haas (1933) hebt sich von Wetz auf andere Weise ab, denn es handelt sich um ein betont volkstümlich gehaltenes geistliches Liederspiel. Mit seiner einfachen, von der Idee der „Gebrauchsmusik“ beeinflussten Gestaltung wurde dieses Werk ebenso wegweisend für zahlreiche spätere Weihnachtsmusiken wie Hugo Distlers Weihnachtsgeschichte op. 10, die, zur gleichen Zeit entstanden, eine Rückbesinnung auf die strenge A-cappella-Polyphonie eines Heinrich Schütz einleitet.

Aber auch aus der entgegengesetzten Perspektive des Zeitstrahls betrachtet, wirkt Wetzens Oratorium in seiner Zeit isoliert, da eine verstärkte Hinwendung zur Komposition von Weihnachtsoratorien sich letztmals in der Zeit um 1900 feststellen lässt: Heinrich von Herzogenberg komponierte 1894 Die Geburt Christi op. 90, Philipp Wolfrum 1898 Ein Weihnachtsmysterium op. 31, der Dresdner Kreuzkantor Oskar Wermann sein Weihnachs-Oratorium op. 110 1904, im gleichen Jahr wie Andreas Hallén sein Juloratorium. Somit erscheint im historischen Zusammenhang das Wetzsche Weihnachtsoratorium nicht nur als letztes groß dimensioniertes Weihnachtswerk spätromantisch-symphonischen Stils (oder zumindest als eines der letzten), sondern überhaupt als ein erratischer Block, der sich markant aus der geistlichen Chorliteratur seiner Zeit heraushebt.

Der Komponist war sich dessen durchaus bewusst. Am 6. Februar 1927, etwa zwei Monate bevor er mit der Komposition begann, schrieb er in einem Brief an seine Jugendfreundin Martha Grabowski: „Auf diesem Gebiete habe ich nur einen zu fürchten, freilich den gewaltigen Johann Sebastian Bach. Aber ich denke gar nicht daran, ihm auch nur an die Seite und in seine Nähe zu treten, wie ich ja auch im ‚Requiem‘ [op. 50, 1925] mich ganz fern von Mozart gehalten habe.“

In der Tat: Wer den vor Freude und Zuversicht strotzenden Eingangschor des Bachschen Werkes im Ohr hat und sich die Eröffnung eines Weihnachtsoratoriums gar nicht mehr anders denken kann, wird womöglich erschrecken angesichts der Klänge, mit denen Wetz die ersten sechs Minuten seines Weihnachtsoratoriums gestaltet. Die vier Anfangstakte, in denen über einem Orgelpunkt der tiefen Streicher leise Akkorde der Flöten, Klarinetten und Hörner mildes Licht in die Dunkelheit werfen, könnten eine Totenmesse einleiten. Tatsächlich ähneln sie auffallend dem Beginn des Wetzschen Requiems. Dann eröffnen die Bratschen eine ausdrücklich als „sehnsuchtsvoll“ bezeichnete langsame Fuge in e-Moll, die sich bis zum Fortissimo steigert, um anschließend wieder abzuschwellen. Während sie im Pianissimo versinkt, erklingt ein unscheinbares Motiv in den Posaunen, das sich nach einer Generalpause unvermittelt in dissonanten Imitationen aufbäumt. Das erste Intervall, das gesungen wird, ist ein Tritonus. Über heftig bewegten Ostinati sammelt sich der Chor zu einem dreifachen Aufschrei: „O Heiland, reiß den Himmel auf“. Damit wird ein stürmischer Satz in Gang gebracht, in dem der Chor in immer wieder neuen Fugati Anlauf nimmt, das Erscheinen des Heilands zu erflehen, um schließlich mit der Forderung – von einer Bitte lässt sich kaum noch sprechen – „Komm tröst‘ uns hie im Erdental“ in sich zusammenzustürzen. Hier wird weder gejauchzt, noch frohlockt. Das ist Musik der Verzweiflung. Das Erdental, von dem die Rede ist, wird eindeutig als irdisches Jammertal gezeichnet.

Damit haben wir den Schlüssel zum Verständnis des Wetzschen Weihnachtsoratoriums. Begeht Bach Weihnachten als das Fest unerschütterlicher Glaubensgewissheit, so liegt der Anlass für Wetz darin, die Ankunft Dessen zu feiern, der den Menschen Trost im leidvollen Erdendasein spendet und ihnen letztlich Erlösung bringt. Die hymnisch strahlenden Schlüsse, in welche alle drei Teile des Werkes münden, bringen eine Freude zum Ausdruck, die sich aus der Erfahrung des Leides speist. Die Gedankenwelt, der dieses Weihnachtsoratorium entstammt, gehört einem Künstler, der zeitlebens gleichermaßen von der pessimistischen Philosophie Schopenhauers wie von Goethes Glauben an das Wirken des Göttlichen in der Natur geprägt war und dessen Gefühlsleben sich in ständiger Spannung zwischen diesen beiden Polen befand. Weltschmerz und Entsagung einerseits, zum andern der Lobpreis des „einigen, ewigen, glühenden Lebens“, von dem Hölderlin am Schluss seines Hyperion spricht (den Wetz als Kantate vertonte), geben dem gesamten Schaffen des Komponisten das Gepräge. Dabei scheidet Wetz die beiden Ausdruckssphären weniger voneinander als dass er sie miteinander verbindet. Dem Licht ist bei ihm nahezu immer Schatten beigemischt und umgekehrt. In Harmonik und Instrumentation kultiviert er eine Tonsprache feinster Hell-Dunkel-Effekte, sodass man geneigt ist, ihn einen ausgesprochenen Chiaroscuro-Komponisten zu nennen.

Im Weihnachtsoratorium kommt diese Haltung darin zum Ausdruck, dass der Komponist auch nach dem Abklingen der düsteren Einleitungsmusik, wenn sich ein freudiger Grundcharakter eingestellt hat, deutlich die Sphäre des zu überwindenden Leides betont, wo sein Text dies gestattet. So folgt direkt auf Mariae Verkündigung und Empfängnis die Hinweisung auf den Kreuzestod Jesu („mit seiner bittern Marter hat er uns all erlost“, Teil 1, Takt 338ff.), und wenn Christus im Stall zu Bethlehem von den Hirten mit den Worten gepriesen wird: „du machst mich jeden Jammers frei“ (Teil 2, Takt 479ff.), so liegt der Akzent der Vertonung eindeutig auf dem Jammer. Die Freude auszudrücken, in welche „Angst und Not“ verkehrt werden, bleibt der anschließenden Chorfuge vorbehalten. Nach der Geburt Christi kommentiert Wetz die Menschwerdung Gottes im Orchester mit einem Beinahe-Selbstzitat (Teil 2, Takt 110):

Es handelt sich um ein Motiv, das, immer etwas abgewandelt, in mehreren seiner Werke auftaucht und sich erstmals am Beginn der Kleist-Ouvertüre op. 16 (1899/1903) findet, die es mottoartig durchzieht. Kleist symbolisierte für Wetz den an der Welt scheiternden, aber mit seinem Werk triumphierenden Künstler. Die Anspielung auf die Kleist-Ouvertüre gerade an dieser Stelle des Weihnachtsoratoriums lässt sich kaum anders deuten als dass Wetz auch Jesus mit seiner Geburt in eine Welt geschickt sieht, in welcher ein schreckliches Ende auf ihn wartet, über die er jedoch letztlich den Sieg davonträgt.

Viel milder und zarter mischt Wetz Licht und Schatten in den instrumentalen beziehungsweise vom Frauenchor gesungenen Hirten- und Kinderszenen des zweiten und dritten Teils („Hirtenmusik“, Teil 2, Takt 316ff.; „Christkindle, Christkindle, komm doch zu uns herein“, Teil 2, Takt 402ff.; „Du lieber, frommer, heilger Christ“, Teil 3, Takt 282ff.). Die freundlichen, leicht beschwingten Melodien in mäßig bewegtem Tempo erklingen hier zunächst in Moll, bevor sie sich nach Dur aufhellen. Durchgangs- und Vorhaltsdissonanzen, die sich aus der Stimmführung ergeben, bewirken, dass der Musik eine gewisse Herbheit immer erhalten bleibt. Ein weiteres Stilmittel, dessen sich Wetz im Verlauf des Werkes immer wieder bedient, um das Mysterium der Christgeburt zu charakterisieren, ist die plötzliche „Entrückung“ der Musik in andere Tonarten nebst harmonischen Schwebezuständen. Beispielsweise zeichnet er den „alten Stall“ in Bethlehem, indem er über einem Quint-Oktav-Orgelpunkt D-A-d die Musik durch die Dreiklänge von d-Moll, C-Dur, B-Dur, as-Moll, d-Moll, es-Moll, des-Moll, as-Moll, Ges-Dur wandern lässt, um ihn anschließend in einem übermäßigen Dreiklang über Des, der verminderten Dominante zu A, der Subdominate zu D und der Dominante zu H „als wie einen Kristall“ glänzen und scheinen zu lassen (Teil 2, Takt 229–236). Das Orchester reicht dem eine „sehr weiche“ Passage nach, die mittels Quintparallelen in Violinen und hohen Holzbläsern das Schimmern noch verstärkt.

Wetz arbeitete an seinem Oratorium ziemlich genau zwei Jahre. Den Vermerken am Ende der bei Kistner & Siegel erschienenen Partitur zufolge, begann er die Komposition am 12. April 1927 und vollendete sie am 22. April 1929. Als Textgrundlage dienten ihm, wie der Titel des Werkes besagt, „alt-deutsche Gedichte“, die er zu drei Teilen zusammenfasste: „Erwartung und Verkündigung“, „Die Geburt Christi“ und „Die heiligen drei Könige“. Die dichterische Geschlossenheit dieser Texte verdeckt, dass sie aus sehr unterschiedlichen Quellen zusammengesetzt sind, deren Entstehungsdaten zum Teil mehrere Jahrhunderte auseinanderliegen (das jüngste Textstück war erst 80 Jahre vor Beginn der Komposition erschienen). Dichtungen prominenter Autoren finden sich ebenso darunter wie Volkspoesie, Texte katholischen Ursprungs stehen neben protestantischen, gottesdienstliche Gesänge neben geistlichen Kinderliedern. Die Formenvielfalt der Texte und ihre konfessionelle Mischung verraten, dass es Wetz nicht darum ging, ein in irgendeiner Weise liturgisch gebundenes Werk zu schaffen. Er selbst war katholisch getauft und blieb auch zeitlebens Mitglied der katholischen Kirche, ohne dass man ihn einen praktizierenden Katholiken nennen kann. Er schätzte Luther und betrachtete die Reformation als hochbedeutendes Ereignis, allerdings eher unter historischem als theologischem Gesichtspunkt. Interessanterweise sah er sein Christusbild als von dem Rationalisten David Friedrich Strauss bedeutend geprägt – im Weihnachtsoratorium dürfte sich davon kaum eine Spur finden lassen. Diese persönliche Indifferenz in religiösen Dingen kontrastiert auffallend zu der großen Zahl geistlicher Texte, die Wetz vertont hat – ein Sachverhalt, der seinen Biographen Rudolf Benl dazu brachte, den Komponisten als einen rastlosen Gottsucher zu charakterisieren. Vielleicht hat Wetz den Heiligen drei Königen in seinem Weihnachtsoratorium gerade deshalb vergleichsweise viel Raum zugestanden, da sie doch ebenfalls Gottsucher, im wahrsten Sinne des Wortes, sind.

Die Textwahl belegt zudem die außerordentliche Belesenheit des Komponisten, der brieflich berichtete, während der Instrumentation des fertigen ersten Teils im August 1928 „30 Bände [!] ausgelesen“ zu haben. Da Wetz in der Partitur seine Quellen nicht genannt hat, seien sie im Folgenden aufgeschlüsselt:

Teil 1

O Heiland reiß den Himmel auf (Friedrich Spee von Langenfeld, 1622)

Kommst du, kommst du, Licht der Heiden (Ernst Christoph Homburg, 1659)

Es wollt gut Jäger jagen (Nürnberg, 1551)

Und unser lieben Frau’n, der träumete ein Traum (Graz, 1602)

Komm, Herr Gott, du höchster Hort (Heinrich Bone, 1847)

Teil 2

Kaiser Augustus legete an (Nikolaus Herman, 1560)

Gott, dem der Erdenkreis zu klein (Leipzig, 1724)

In unser armes Fleisch und Blut (Martin Luther, 1524)

Da Christ geboren war (Michael Weiße, 1531)

Auf, auf nun ihr Hirten, und schlaft nicht so lang (alpenländisch, 18. Jahrhundert)

Laufet ihr Hirten, lauft alle zugleich (Schlesien, vor 1842)

O heilig Kind, wir grüßen dich (Franz von Pocci, 1834)

Christkindle, Christkindle, komm doch zu uns herein (Elsass, 18. Jahrhundert)

Wir singen dir, Immanuel (Paul Gerhardt, 1653)

Teil 3

Es führt drei Könige Gottes Hand (Köln, 1632)

Jauchzet ihr Himmel (Gerhard Tersteegen, 1731)

Du lieber, frommer, heilger Christ (Ernst Moritz Arndt, vor 1810)

Empor zu Gott mein Lobgesang (Friedrich Adolf Krummacher, 1811)

Alles, was aus Gott geboren (Salomo Franck, 1715)

Wie man sieht, scheute Wetz nicht davor zurück, Texte zu verwenden, die bereits zuvor von anderen Komponisten vertont wurden, etwa Brahms (Es wollt gut Jäger jagen op. 22/4) oder Reger (Unsrer lieben Frauen Traum op. 138/4), ja er baute sogar ein paar Verse ein, die eigens für Bachsche Kantaten geschrieben wurden: „Gott dem der Erdenkreis zu klein“ entstammt Gelobet seist du Jesu Christ BWV 91, die Schlussverse des Oratoriums, „Alles, was aus Gott geboren, / ist zum Siegen auserkoren“, sind Ein feste Burg ist unser Gott BWV 80 entnommen. Für den freien Umgang des Komponisten mit seiner Textvorlage ist charakteristisch, dass er Francks nüchternes „von Gott geboren“ zu „aus Gott geboren“ gesteigert hat (eventuell ein Reflex auf das „Deus sive natura“ des von ihm hochverehrten Spinoza). Größere Eingriffe nahm er in Tersteegens Jauchzet ihr Himmel, frohlocket ihr Erden vor, um den Text in ein einfacheres Versmaß zu bringen. Auch vertonte er nur von einem Teil der Gedichte alle Strophen. Eine originale Liedmelodie hat Wetz in keinem der Fälle übernommen und auch sonst keine präexistenten Themen (etwa Choräle) verwendet.

Literarisches Rückgrat aller drei Teile ist ein längeres Erzählgedicht, in welchem die Handlung des jeweiligen Abschnitts geschildert wird. Die beiden letzten Teile beginnen mit einer solchen Erzählung, während sie im ersten Teil erst nach dem Eingangschor und dem in die Bitte „Jesu meines Herzens Tür steht dir offen, komm zu mir“ mündenden Bariton-Solo mit „Es wollt gut Jäger jagen“ einsetzt. In den Teilen 2 und 3 fungiert der Bariton als Erzähler, seine Rolle erscheint hier der des Evangelisten in barocken Oratorien angenähert. Den Bericht von der Verkündigung Mariae im ersten Teil lässt Wetz dagegen von einem vierfach geteilten, vorwiegend imitatorisch gesetzten Frauenchor vortragen, dergestalt den mysteriösen, übernatürlichen Teil der Geschichte von Christi Geburt gegen den irdischen abgrenzend.

Jeder Großabschnitt des Weihnachtsoratoriums ist in einem Zug durchkomponiert, wobei die einzelnen Unterabschnitte relativ in sich geschlossen und durch eigene Melodien vom Rest des Werkes abgegrenzt sind. Einigen Motiven kommt jedoch eine mehr als lokale Bedeutung zu, sie durchziehen als „Gefühlswegweiser“ (um Richard Wagners ursprüngliches Wort für „Leitmotiv“ zu verwenden) größere Teile des Werkes. Die beiden wichtigsten erscheinen zuerst, gegen Anfang des ersten Teils. Bereits erwähnt wurde das aufsteigende Motiv aus Quarte, Sekunde und Quarte (bzw. Tritonus), das am Ende des Orchestervorspiels erklingt und dann den ersten Chor ankündigt (Teil 1, Takt 68ff.). Es tritt im zweiten Teil nur zweimal kurz auf, ist aber in den Eckteilen häufiger zu hören. Ich möchte es das „Erwartungsmotiv“ nennen, denn es erscheint immer dann, wenn es im Text in irgendeiner Form um Erwartung geht. Seine harmonische Struktur sorgt dabei stets für eine Zunahme der Spannung:

Noch wesentlich bedeutender ist das zweite Hauptmotiv des Werkes. Es symbolisiert die Person Christi und ist entsprechend in allen drei Teilen des Oratoriums sehr präsent. Zum ersten Mal hört man es nach dem ersten Bariton-Solo, wenn das Orchester auf die Worte des Solisten: „Jesus, […], komm zu mir“, mit diesem Motiv gleichsam verdeutlicht, dass die Bitte erhört wurde, der Heiland tatsächlich kommt. Man kann es somit das „Heilands-“, oder „Christus-Motiv“ nennen. Im Gegensatz zum Erwartungsmotiv wird der Erlöser durch ein gelöstes Fortschreiten in Sekunden und Terzen dargestellt. Man kann das Motiv übrigens in die Tradition musikalischer Kreuzessymbole einordnen, was sich leicht zeigt, wenn man zwischen dem ersten und dem letzten sowie dem dritten und dem vierten Ton jeweils eine Linie zieht:

Beide Hauptmotive sind rhythmisch und melodisch äußerst einfach gestaltet, was ihre Verwendung als Wegmarken innerhalb der Handlung erleichtert. Sie werden im Verlauf des Werkes auf vielfältige Weise harmonisiert und in unterschiedliche Kontexte gestellt, bleiben jedoch in jedem Zusammenhang deutlich vernehmbar. In der Regel erklingen sie im Orchester, sind aber in wenigen besonderen Situationen auch textiert zu hören. So berichtet der Frauenchor von Mariae Empfängnis, indem seine Stimmen in Abständen von Quarte, großer Sekunde und Quarte einsetzen (Teil 1, Takt 281f.):

Einige Takte später wird deutlich gemacht, dass das Heilandsmotiv tatsächlich Jesus Christus symbolisiert, indem der volle Chor im fortissimo auf seine Melodie singt: „Herr Jesus Christ der Heiland, also ist er genannt“ (Teil 1, Takt 327ff.):

Neben den zwei Hauptmotiven treten noch drei weitere „Gefühlswegweiser“ als wichtig hervor, ohne allerdings eine ebenbürtige Bedeutung zu erlangen. Sie bestimmen einzelne Teile des Werkes stark, fehlen dafür in anderen ganz und unterscheiden sich von den Hauptmotiven durch ihre größere Ausdehnung und ihr schärferes rhythmisches Profil. Es empfiehlt sich wohl, hier eher von Themen als von Motiven zu sprechen. Eines ist, wie das Erwartungs- und das Heilandsmotiv, instrumentalen Ursprungs. Es handelt sich um das Thema des fugierten Vorspiels zum dritten Teil, das auch im weiteren Verlauf dieses Großabschnitts immer wieder gliedernd auftaucht. Wetz macht es uns durch die Überschrift des Vorspiels leicht, seine Bedeutung zu erkennen: „Die Wanderung der [heiligen drei] Könige“:

Die beiden anderen wichtigen Themen hört man zuerst gesungen. Die Texte, mit denen sie bei ihrem ersten Erscheinen unterlegt sind, werden folglich dem Hörer auch dann ins Gedächtnis zurückgerufen, wenn die Melodien im Folgenden instrumental erklingen. Das eine steht für Maria:

Der Komponist dachte bei diesem Thema übrigens nicht nur an die Mutter Christi, sondern auch an Maria von Pott, eine Krankenschwester, mit der er zu Beginn der 1920er Jahre eine Liebesbeziehung unterhielt, und der er auch dann noch freundschaftlich verbunden blieb, nachdem sie einen wohlhabenden Landwirt geheiratet hatte. Am zweiten Weihnachtstag 1927 schrieb er ihr: „[…] wenn Du mal mein Weihnachtsoratorium hören wirst, wirst Du Dich freuen, wie schön ich immer Deinen Namen komponiert habe.“ Das Marienthema taucht erstmals gegen Mitte des ersten Teils auf, wenn dem „guten Jäger“ auf der Heide „Maria, die Jungfrau schön“ begegnet (Teil 1, Takt 213ff.) und ist letztmals in der Hirtenmusik des zweiten Teils zu hören (Teil 2, Takt 355ff.).

Das andere wichtige Thema, das seinen Ursprung im Gesang hat, taucht nur im zweiten Teil auf. Es ist zum ersten Mal auf die Worte „Da Christ geboren war, freut sich der Engel Schar“ zu hören (Teil 2, Takt 147ff.), liegt in leicht veränderter Form dem Chor „Wir singen dir, Immanuel“ zugrunde (Teil 2, Takt 426ff.) und begleitet im Orchester den auf die Halleluja-Fuge folgenden Schlusschoral dieses Großabschnitts (Teil 2, Takt 622ff.). Nennen wir es getrost „Christgeburtsthema“:

Es bleibt, einen kurzen Überblick über den Verlauf der drei Teile zu geben. Das fugierte Vorspiel zum ersten Teil und der erste Chor wurden bereits erwähnt. Nachdem der e-Moll-Sturm abgeklungen ist, hört man zart und leise den Bariton in Ces-Dur, später F-Dur, um die Ankunft des „Lichtes der Heiden“ und des „starken Trosts im Leiden“ bitten. In B-Dur erscheint erstmals das Heilandsmotiv. In dieser Tonart setzt nun der Frauenchor mit der Erzählung von Gott als dem „guten Jäger“ ein, der Maria auf der Heide antrifft. In der Verkündigungsszene wird der Engel vom Bariton, Maria vom Sopran dargestellt, wobei Wetz die beiden vom Sopran gesungenen Verse mit dem Erwartungs- und dem Heilandsmotiv beginnen lässt, dergestalt die Ergebenheit Marias in das ihr von Gott zugedachte Geschick symbolisierend. Ein kurzes, leises und dunkel getöntes Orchesterzwischenspiel (d-Moll), das Anklänge an den Eingangschor mit dem Heilandsmotiv verbindet, leitet zum Bericht des Baritons von Marias Traum über (in G-Dur beginnend): „Und unser lieben Frau’n, der träumete ein Traum, / wie unter ihrem Herzen gewachsen wär‘ ein Baum / […] / Und wie der Baum ein Schatten gab, / wohl über alle Land“, „Herr Jesus Christ der Heiland, also ist er genannt“, ergänzt der Chor lautstark in e-Moll. Leise „Kyrieleis“-Rufe führen zu einem Choral (F-Dur), der mit mächtigem Crescendo in einen an den Eingangschor gemahnenden Aufschrei mündet: „Es harret dein die ganze Welt“. Die Steigerung wird instrumental mit einem Nachspiel des Orchesters fortgesetzt, dem das Heilands- und das Erwartungsmotiv als Ostinati zugrunde liegen und das letztlich in B-Dur schließt, der am weitesten vom e-Moll des Anfangs entfernten Tonart.

Ein unruhiges Vorspiel eröffnet den zweiten Teil in d-Moll, bevor der Bariton in C-Dur mit der Erzählung von der Wanderung Marias und Josephs nach Bethlehem anhebt. Den Moment der Geburt Christi verdeutlichen das Marienthema und das Heilandsmotiv. Die Chorsoprane kommentieren die Menschwerdung Gottes, während das Orchester über einem Orgelpunkt auf B mysteriöse Harmoniewechsel, begleitet von eigenartig pochenden Holzbläsern, vollzieht. Es folgt das Quasi-Zitat aus der Kleist-Ouvertüre. In G-Dur verkünden anschließend der Solo-Sopran und ein bassloser Chor die Freude der Engel über Christi Geburt. Im folgenden Unterabschnitt wechseln zwei Melodien einander ab: eine lebhafte, mit der der Bariton die Hirten zusammenruft, und eine ruhige, mit der der Sopran das Kind betrachtet. Letztere wird später vom Chor aufgegriffen, in erstere stimmt schließlich auch der Sopran koloraturenreich ein. Zuerst ist das Geschehen in Moll-Tonarten gehalten (e, h, a), dann setzt sich A-Dur durch. Der gleiche Dur-Moll-Wechsel vollzieht sich auch in der rein instrumentalen Hirtenmusik (g/G), die das Heilandsmotiv und das Marienthema in wiegendem 6/8-Takt variiert. Ein Choral in Es-Dur und ein pittoresker Frauenchor in g-Moll/G-Dur folgen. Ein „freudig bewegter“ Chor, der „Immanuel“, dem „Friedensfürsten“ und „Gnadenquell“ ein Loblied singt (F-Dur) und als Mittelteil ein ruhiges kanonisches Duett der Solostimmen (h-Moll) enthält, die hier eindeutig Maria und Joseph darstellen, bereitet die ebenfalls lebhafte Halleluja-Fuge vor. Diese ist ein Glanzstück des Kontrapunktikers Wetz, dem man die gute Schulung anhand der (wie er sich ausdrückte) „prächtigen alten Knaben“ aus dem 16. bis 18. Jahrhundert anmerkt, die er als Leiter des Erfurter Madrigalchors regelmäßig zur Aufführung brachte. Eine kurze homophone Coda beschließt den zweiten Teil kraftvoll in F-Dur.

Ist der zweite Teil als deutlicher Kontrast zum ersten angelegt, so knüpft der dritte in mancherlei Hinsicht an diesen an. Auch hier steht ein fugiertes Vorspiel am Anfang (b-Moll). Vielleicht hat Wetz, als er die beschwerliche Gottsuche der Heiligen drei Könige auf diese Weise gestaltete, an die eigentliche Bedeutung des Wortes „Ricercar“ (= Such-Stück) gedacht? Die Fuge verläuft in zwei Steigerungswellen, deren zweite in das Heilandsmotiv mündet. Es erklingt hier im dreifachen forte des vollen Orchesters, als deutliche Reminiszenz an die Stelle „Herr Jesus Christ, der Heiland“ im ersten Teil. Danach wird der fugierte Tonsatz aufgegeben und die Erzählung des Baritons beginnt. Sie wird, der Dichtung folgend, in regelmäßigen Abständen von Reflexionen des Chores unterbrochen, deren zweite („O Gott, erleucht vom Himmel fern, die ganze Welt mit diesem Stern“, D-Dur) mit ihrem imitatorischen Satz wie eine besänftigte Variante des Eingangschors von Teil 1 wirkt. Nach der Ankunft der Könige im Stall jubeln Sopran und Bariton: „Jauchzet ihr Himmel, frohlocket ihr Erden, / Gott und der Sünder solln Freunde nun werden.“ Ihre Bitte: „Verleih uns die Huld und schenke uns bald, / heiliger Christ, die Kindergestalt“ gibt das Stichwort zu einem Frauenchor, der ausdrücklich als „kindlich“ bezeichnet ist und von verspielten Instrumentalmotiven begleitet wird. Hier vollzieht sich zum letzten Mal der für das Werk so charakteristische Tongeschlechtswechsel von Moll nach Dur (e zu G, dann zu E). Die im Moll zunächst wehmütig anmutende Gesangsmelodik wandelt sich im Dur zu unbeschwerter Heiterkeit. In den Orchesterritornellen fehlt die Imitation einer Kindertröte nicht. Dieses Geschehen überführt Wetz bruchlos in einen C-Dur-Choral, welcher das Finale des ganzen Werkes einleitet, eine ausgedehnte Doppelfuge über die Worte: „Alles, was aus Gott geboren, / ist zum Siegen auserkoren. / Halleluja.“ Das erste Thema ist in breiten Notenwerten gehalten, das zweite („Halleluja“) erscheint zuerst in den Solostimmen und hat figurativen Charakter. Obwohl Wetz an kontrapunktischen Künsten nicht spart (Engführungen), wirkt diese Fuge durch mehrere homophone Zwischenspiele lockerer gefügt und gelöster als diejenige des zweiten Teils. An äußerer Prachtentfaltung übertrifft sie sie deutlich. „Anwachsend zur höchsten Kraft“ schließt das Weihnachtsoratorium mit dem Heilandsmotiv in C-Dur. Das Ende des dritten Teils (C) liegt also eine Quinte über dem des zweiten (F) und zwei Quinten über dem des ersten (B). Das tonale Emporstreben der Musik wird zum Symbol für das Emporstreben des Göttlichen in der Welt.

Aufnahmen

Bislang kann man sich nur anhand einer einzigen CD-Aufnahme einen klingenden Eindruck des Weihnachtsoratoriums von Richard Wetz verschaffen. Es handelt sich um den Mitschnitt eines Konzerts aus der Erfurter Thomaskirche vom 27. November 2010. Marietta Zumbült (Sopran) und Máté Sólyom-Nagy (Bariton) sangen gemeinsam mit dem Dombergchor Erfurt (Einstudierung: Silvius von Kessel) und dem Philharmonischen Chor Erfurt (Einstudierung: Andreas Ketelhut). Es spielte das Thüringische Kammerorchester Weimar unter der Leitung von George Alexander Albrecht. Die Aufnahme ist bei cpo erschienen:

cpo, 777 638-2; EAN: 7 61203 76382

Der Verfasser dieses Artikels war damals bei dem Konzert anwesend. In gleicher Besetzung wurde das Werk 2012 noch einmal in Weimar (Weimarhalle) zu Gehör gebracht, wobei die Ausführenden ihre Leistung gegenüber 2010 steigern konnten.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2021]

Respighi aus dem Kleinstadt-Dom

Ottorino Respighi – Opera omnia per organo
Andrea Macinanti – Orgel, Archi dell’Academia Symphonicy di Udine – PierAngelo Pelucchi
Label: Tactus – Vertrieb: Naxos – Art.-Nr.: TC871803 / EAN: 8007194106121

Ottorino Respighi ist einer jener Komponisten, die Weltruhm aufgrund von nur wenigen Werken erlangt haben: Die prall farbigen, bildreichen Sinfonischen Dichtungen „Fontane di Roma“, „Pini di Roma“, „Feste Romane“, „Gli Ucelli“ sowie drei Suiten unter dem Titel „Antiche danze ed arie“ haben so ziemlich alles andere im durchaus umfangreichen Œuvre Respighis überstrahlt. Dabei war Ottorino Respighi ein versierter Komponist, der sich in fast allen bedeutenden Gattungen hervorgetan hat. Er schrieb etwa zehn heute kaum bekannte Opern, mehrere Ballettmusiken, eine Sinfonie, Kammermusik für diverse Besetzungen und Lieder.

Doch selbst überzeugte Respighi-Kenner dürften bei diesem Album des italienischen Labels Tactus überrascht sein, das ihnen ihren Lieblingskomponisten als Schöpfer von Orgelmusik vorstellt. Als wäre dies nicht schon ungewöhnlich genug, enthält das Album auch noch eine Komposition Respighis für Kirchenorgel und Streichorchester, die „Suite in Sol maggiore per istrumenti ad arco e organo“, die wohl zu Respighis neoklassischer Phase gerechnet werden kann.

Laut Ausweisung auf dem Cover handelt es sich bei allen Stücken um Welt-Ersteinspielungen, allerdings gibt das Label in den Aufnahmedaten 17 Tracks an, das Album hat aber nur 13 Tracks. Etwas nebulös…

Wie dem auch sei, die Musik, die hier vorgestellt wird, ist wirklich gut und setzt einen weiteren eindrucksvollen Pinselstrich in das Bild von Ottorino Respighi als einem Komponisten, dem trotz gemächlicher Wiederentdeckung in der jüngeren Vergangenheit noch immer nicht die volle Aufmerksamkeit zu Teil wird, die ihm gebühren würde: Sicher, Respighi war weniger „modern“ als Casella oder Malipiero, die mit ihm und Pizzetti zur sogenannten Generation der „Ottanta“ gezählt werden (so benannt nach den Geburtsjahren der genannten Komponisten, die alle um etwa 1880 herum geboren wurden). Doch er war ein handwerklich ausgezeichneter Komponist, der seine technischen Fähigkeiten immer auch mit einer hellwachen melodischen Inspiration verbinden konnte. Kurzum: Dieser Mann schrieb einfach gute Musik und sollte viel mehr gespielt und gehört werden.

Auf vorliegendem Album sind mehrere Einzelstücke, i.d.R. Orgelpräludien, drei mehrsätzigen Werken an die Seite gestellt. Der Booklettext aus der Hand des ausführenden Organisten Andrea Macinanti gibt zwar Aufschluss über Ort und Zeit der Komposition, leider aber kaum über die Umstände, die zur Komposition Anlass gegeben haben. Und so erfahren wir hier leider kaum etwas darüber, für welche Anlässe Respighi diese Musik geschrieben hat. Viele Stücke auf diesem Album scheinen durchaus als (freilich hochgradig anspruchsvolle und sehr virtuose) „Gebrauchsmusik“ im liturgischen Rahmen infrage zu kommen (wobei Respighi sich offensichtlich am Vorbild Max Regers abgearbeitet hat), während andere Stücke (nicht zuletzt die erwähnte, ziemlich unkonventionelle Suite für Kirchenorgel und Streichorchester) aufgrund ihrer merkwürdigen Faktur andere konkrete Anstöße für die Komposition vermuten lassen, über die man wirklich gern mehr gewusst hätte.

Macinanti erweist sich als ein wunderbar musikalischer Organist, der dieser Musik in jeder Hinsicht gerecht wird. Er verfügt nicht nur über die nötige Virtuosität, die diese Musik abverlangt, sondern auch über eine erfreulich musikdienliche Phrasierungsgabe, die die Zusammenhänge in den Kompositionen deutlich und zu wirklich herrlicher Musik werden lässt. Leider setzt sich dieser gute Eindruck nun so gar nicht fort bei dem für die Suite eingesetzten Orchester. Die Archi dell‘Academia Symphonica di Udine sind mit ihrem Part hörbar überfordert. Es macht sogar Mühe, sich das anzuhören, denn man hört leider die Mühe, mit der sich die Musiker durch die auch für das Orchester virtuose Partitur quälen mussten. Bei schnellen Stellen kollabiert das Ensemble stellenweise beinahe und vermag sich nur knapp wieder zu fangen.

Dies ist vor allem auch deswegen kein Vergnügen für den Hörer, weil die Aufnahmetechnik dieser Einspielung wirklich richtig gut ist und man alles trennscharf, quasi bis „in die Fingerspitzen“ heraushören kann (inklusive der fransigen Streicher). Die Orgel (übrigens ein wunderbar klangschönes Instrument aus dem Dom S. Maria Assunta der piemontesischen Kleinstadt Saluzzo) ist ohne störende Nebengeräusche wie Gebläse, usw. und mit beeindruckender Präsenz über das volle Frequenzspektrum, zumal mit dem genau richtigen Anteil an Raumhall eingefangen worden. Spitze! Genau so sollten Orgelmusik-Aufnahmen klingen!

Fazit: zu rd. 80% ist dieses Album eine ausgesprochene Empfehlung, leider macht die Suite für Streichorchester plus Kirchenorgel durch das amateurhafte Streichorchester, das mit seiner Aufgabe definitiv überfordert ist, die restlichen 20% zu einer weniger erfreulichen Veranstaltung. Trotzdem lohnt sich dieses Album für Respighi-Fans ebenso wie für Orgelmusikliebhaber. Hier gibt es herrliches Repertoire zu entdecken, das man nicht oft serviert bekommt.

[Grete Catus, Juli 2017]

Herrlicher Krach bis zum Vulkanausbruch

Ondine, LC 3572; EAN: 0761195121023

Normalerweise mache ich ja bei Klassik-Samplern einen Bogen um eine Rezension. Aber die Wiederveröffentlichung der schon legendären „Earquake“-CD (1997) beim finnischen Label Ondine – Untertitel: The Loudest Classical Music of All Time – darf man schon mit einer Besprechung feiern…

Zunächst einmal: Diese inhaltlich gegenüber der Erstveröffentlichung unveränderte CD ist ein Gag; vielleicht ein brauchbarer Party-Rausschmeißer à la „The Glory??? of the Human Voice“ (Florence Foster Jenkins) – mehr nicht. Und leider fehlt jetzt das entscheidende Gimmick; im transparenten Tray lagen seinerzeit zwei gelbe Ohrstöpsel – wohlgemerkt: for your neighbor! Für diese Aufnahme durfte ein äußerst körperbetont, aber immer präzise agierender Dirigent mal so richtig „die Sau rauslassen“. Der Finne Leif Segerstam ist nicht nur ein weltweit tätiger Orchesterdompteur, sondern komponiert nebenbei auch noch ein wenig: Seine Werkliste umfasst mittlerweile z.B. 309 (!) Symphonien; er ist da wohl der absolute Rekordhalter. Der Legende nach hat das mit Anfang zwanzig noch spindeldürre Nordlicht seinerzeit mit voller Absicht innerhalb kürzester Zeit 30 kg draufgepackt – nur um so auszusehen wie der dirigierende Johannes Brahms auf den berühmten Bleistiftzeichnungen. Und wenn ich den etwas korpulenten, aber höchst agilen Herrn mal live erleben durfte (ob mit Frau ohne Schatten an der Zürcher Oper oder Turangalîla in der Kölner Philharmonie), war ich immer von seinen mitreißenden Darbietungen begeistert. Auch hier mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra weiß Segerstam natürlich genau, wie er die hypertrophen Klangmassen selbst im allergrößten Krach zu bändigen hat, damit das Ganze noch irgendwie vernünftig ausbalanciert scheint.

Trotzdem: Was mich naturgemäß an diesem Sampler stört, ist nicht etwa die Vielzahl der Komponisten und Stile (alles 20. Jahrhundert), sondern dass hier nur Ausschnitte aus zum Teil deutlich umfangreicheren Werken zu Gehör gebracht werden; und in der Regel noch nicht einmal komplette Sätze, sondern tatsächlich nur eben die lauten Stellen – Häppchenkost nach Art von Klassik Radio. So wird dem Hörer die Sinnhaftigkeit solcher Passagen, also die Entwicklung, die überhaupt erst zu solch hemmungslosen Ausbrüchen führt, oft vorenthalten.

Das ist natürlich ein dann doch einseitiges Vergnügen. Neben den 13 echten „Krachern“ gibt es noch drei ruhige Stücke (Druckman, Segerstam und Rautavaara) als Kontrast. Gespielt wird zumeist auch rhythmisch sehr attraktive Musik, etwa der Lateinamerikaner Revueltas und Ginastera, dazu einiges aus Skandinavien (Rangström, Nielsen…), aber auch Lärm aus den USA oder Russland (Hanson, Bolcom, Prokofjew…). Als Höhepunkt am Schluss dann der vom Isländer Jón Leifs 1961 sensationell in Orchestersprache übersetzte große Vulkanausbruch der Hekla (1947/48) – dagegen war der Eyjafjallajökull 2010 nur ein Huster. Da wird innerhalb eines 140-Mann-Orchesters so fast alles aufgeboten, was das Schlagwerk zu bieten hat. Schlecht ist das magere Booklet, das selbst die Vornamen der Komponisten unterschlägt und auch sonst keinerlei Infos zu den Stücken – mit Ausnahme von Hekla – bereithält.

Der Anspruch, hier wirklich die lauteste klassische Musik aller Zeiten auf einer CD zu versammeln, wird allerdings verfehlt. Stücke wie Iannis Xenakis‘ Jonchaies, Leonardo Baladas Steel Symphony und einiges mehr, das bereits vor 1997 geschrieben war, sind lauter und aggressiver. Ganz zu schweigen von Dror Feiler – da halten sich einige Musiker des BR-Symphonieorchesters schon beim Erklingen nur des Namens die Ohren zu. Und warum hat man von Ginastera den Malambo aus Estancia ausgewählt, und nicht etwa die brachialen Stellen aus Popol Vuh? Sei’s drum – das hier eingespielte Repertoire reicht allemal, um gepflegt die Wände wackeln zu lassen und macht wirklich Spaß. Ein Paar Ohrstöpsel für die Nachbarn bereit zu halten, wäre dann aber gar keine so verkehrte Idee…

[Martin Blaumeiser, März 2017]

[Rezensionen im Vergleich] Vlach: Ein Meister aus Tschechien

Josef Vlach und das Tschechische Kammerorchester
Stanislav Duchoň, Oboe; Ilya Hurník, Klavier; Karel Patras, Harfe

Henry Purcell: Suite aus ‚King Arthur’ für Streicher
Wolfgang Amadeus Mozart: Divertimento D-Dur KV 136, Eine kleine Nachtmusik KV 525, Adagio und Fuge c-moll KV 546
Pjotr Tschaikowsky: Andante cantabile aus dem 1. Streichquartett op. 11, Serenade C-Dur op. 48
Antonín Dvořák: Serenade E-Dur op. 22, Tschechische Suite op. 39
Claude Debussy: Danse sacrée et danse profane
Josef Suk: Serenade Es-Dur op. 6
Ottorino Respighi: Gli Uccelli
Igor Strawinsky: Apollon musagète
Benjamin Britten: Variations on a Theme of Frank Bridge op. 10
Jiří Pauer: Symphonie für Streicher (1978)
Ilya Hurník: Konzert für Oboe, Klavier und Streichorchester (1954/59)

Supraphon SU 4203-2 (4 CD-Box) (EAN: 099925420321)

Josef Vlach (1923-88) gilt den traditionsbewussten tschechischen Musikern als der legitime Fortführer einer authentischen Linie, die sich von Antonín Dvořák, Josef Suk und Václav Talich als seinem direkten Vorläufer bis heute zu Jiří Bělohlávek (heute Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie) und dessen Schüler Jakub Hrůša (der jetzt im Herbst seine Stellung als Chefdirigent der Bamberger Symphoniker antritt) erstreckt. Das kann man hören! War Talich der bis heute bedeutendste Dirigent Tschechiens, so ist Vlach nicht nur in Bezug auf seine verfeinerte natürliche Muskalität der Nachfolger Talichs, er übernahm als hervorragender Geiger auch aus dessen Händen das Tschechische Kammerorchester, das er fortan vom Konzertmeisterpult aus leiten sollte (leider sind keine Mitschnitte des Streicherensembles unter Talich erhalten). Unter Vlach wurde das Tschechische Kammerorchester denn auch zu einem der weltweit anerkannt führenden Streichorchester, vergleichbar den Busch Chamber Players, dem Kammerorchester Edwin Fischers in der Schweiz, dem Niederländischen Kammerorchester unter Szymon Goldberg, der Salzburger Camerata unter Sándor Végh oder später dem finnischen Ostrobothnian Chamber Orchestra unter Juha Kangas – als einer jener unverkennbaren Klangkörper, die von einem herausragenden Künstler geformt und in jeder Hinsicht sowohl zu bestechender Makellosigkeit angehalten wurden als auch eine ganz spezifische Klang- und Ausdruckskultur verkörperten. Was ist typisch für Vlachs Tschechisches Kammerorchester? Der dunkel abgetönte Klang, der zwar die Oberstimmen sich wunderbar entfalten lässt, jedoch immer die Mittel- und Unterstimmen ebenso lebendig mitwirken und zur Geltung kommen lässt – gerade auch die Bratschen und Celli sind ganz wunderbar sowohl hinsichtlich der Gruppenhomogenität als auch der technischen und tonlichen Vollendung: also ein Fundament, das vital trägt und von den Geigengruppen umso höhere Qualität fordert – denn, wenn die Tiefe so sauber und klar ist, hört man umso unvermeidlicher jede Trübung und Unkultiviertheit in der Höhe. Das Ganze hat einen großartig geschlossenen Ausdruck, die Phrasierung jeder Stimme ist so einheitlich, als spielte jeweils ein großes Instrument. Hinzu kommt jene besondere Wärme, Empfindsamkeit und lyrische Leidenschaftlichkeit auch in den verträumtesten und introvertiertesten Episoden, und jene subtil beschwingte Musikanterie, wie sie den Tschechen wie keinem anderen Volk zu eigen ist – eine Süße auch, die etwas herber und viel unschuldiger ist als etwa jene des Wiener Stils. Über allem liegt ein unaussprechlicher Zauber, ein Geheimnis der Beseeltheit, ein wunderbar ausgeglichenes Verhältnis von immerwährendem Gesang und nie ins Mechanische umkippendem noch erlahmenden Rhythmus. Das Schnelle wird nicht hart und hysterisch, das Langsame badet nicht in haltlosen Emotionen – es ist also auch jener Schuss Nüchternheit dabei, der nichts mit sachlicher Kälte zu tun hat (dies beispielsweise eine Gefahr deutscher Ensembles), der aber die durchgehende Orientierung am strukturell Wesentlichen ermöglicht. Auch der Humor bleibt fein, und die Kunst der Übergänge zeugt von großer innerlicher Beweglichkeit und agogischer Flexibilität. Alles Zeichen einer Kultur im Höchststand.

Vlachs Mozart ist kraftvoll, vital, und dabei stets auch transparent, klar artikuliert ohne die auch bei den Wienern so übliche redundante Betonung der schweren Taktzeiten, und die Leichtigkeit ist weniger eine Sache des Klangs an und für sich als der Beweglichkeit der Gestaltung. Ganz großartig ersteht Adagio und Fuge in c-moll, man fühlt sich in die barocke Welt des Introitus und Kyrie aus Mozarts Requiem versetzt. Und auch von der Kleinen Nachtmusik kenne ich keine natürlicher und treffsicherer ausgeführte Aufnahme.

Bei Dvořák und Suk ist man ganz zuhause. Das kann nicht authentischer verstanden werden. Wie bei Dvořák wird es auch bei Tschaikowsky nie billig, langweilig, sentimental oder mechanisch, sondern fesselt mit einer Würde, Grazie und unaufgesetzten Tiefe der Empfindung, wie dies kaum irgendwo der Fall ist. Auch zeigt sich hier endlich einmal wieder, was für einmalige, in einer adäquaten Aufführung unübertreffliche Meisterwerke die beiden berühmten Serenaden von Dvořák und Tschaikowsky sind. So gespielt, wenn eine solche Fülle und Lebenskraft sogar noch auf einer antiquierten Aufnahme rüberkommt, kann man nur bedauern, dass man es nie wieder im Konzert wird hören können!

Henry Purcells King Arthur-Suite werden Verfechter der heute landauf landab eingesickerten ‚historischen Aufführungspraxis’, also einer philologisch aus dem Notenbild und schriftlich überlieferten Berichten und Anleitungen abgeleiteten hypothetischen Herangehensweise, in der hier zu hörenden Art und Weise entschieden ablehnen. Was sie dabei überhören, ist bei allen gewiss vorhandenen Relikten romantischer Tradition die wendige Phrasierung, die sich natürlich nicht in spritziger Kleinteiligkeit verzettelt, sondern stets den Blick aufs Ganze heftet, wie auch die beseelte Sanglichkeit und rhythmische Urkraft, die nicht gestelzt prätentiös von Höckchen zu Stöckchen hüpft, sondern aus dem zugrundeliegenden Momentum schöpft.

Von Ottorino Respighis ‚Gli Uccelli’ habe ich nie auch nur annähernd so zauberhafte und bis ins Zerbrechlichste vitale Aufführung gehört. Man achte zum Beispiel nur einmal darauf, wie unwiderstehlich sich das neobarocke Rustico in ‚La Gallina da Jean-Philippe Rameau’ artikuliert und entfaltet.

Auch Benjamin Brittens kapriziöse Frank Bridge-Variationen und Igor Strawinskys aparte Farben- und Gestenwelt ‚Apollon musagète’ erfahren mustergültig organische, in jedem Moment wunderbar feine und klar charakterzeichnende Darbietungen. Sehr schön auch, wenngleich nicht ganz so am Kern des Idioms, die beiden stilisiert schreitenden Tänze Debussys mit dem Harfensolisten Karel Patras.

Bleiben die beiden tschechischen Meister, die hierzulande heute kaum jemand kennt. Ilya Hurník (1922-2013) erweist sich als musikantischer Architekt eines dissonanzgewürzten, kurzweiligen, dabei aber in klarer Formgebung verankerten Neobarock mit einem spezifisch böhmischen Einschlag, wie wir das – in ornamentisch komplexerer Faktur – auch teilweise von Martinů kennen. Sein Konzert ist viersätzig, mit entschieden kontrastierenden Charakteren, mit einem spielerisch filigranen Element auch bei harter, kurz abgerissener Artikulation, und außer dem ausgezeichneten slowakischen Oboisten Stanislav Duchoň wirkt der Komponist selbst am Klavier mit, was uns natürlich auch ahnen lässt, wie sehr die Musik hier im Sinne des Komponisten erarbeitet wurde. Diese Musik mag nicht groß sein, doch sie bietet mehr als distinguierte Unterhaltung und einprägsame Gesten.

Ein anderes Kaliber freilich noch ist Jiří Pauer (1919-2007), dessen reife Symphonie für Streicher das Zeug hätte, auch heute noch eine effektvolle Bereicherung des Streicherrepertoires zu sein. Pauer knüpft an das Bartók’sche Barbaro an, mit wuchtigen, dissonanzfreudigen Akkordbildungen, sehr zielstrebig angelegten Steigerungen, couragierten Schichtungen und einer die Entwicklungen offenkundig gliedernden, klar formulierten Motivik, die an und für sich die geringste Leistung des Komponisten ist. Es sind eindeutig nicht die etwas unbedeutenden markanten Motive, die die Qualität dieser Musik ausmachen, sondern die Art ihrer Durchführung. Der große langsame Mittelsatz eröffnet eine andere, tragische Einsamkeit auslotende Welt – man kann hier gar an Schostakowitsch denken –, doch der originelle Aufbau beinhaltet einen plötzlichen Scherzo-Ausbruch, dem – zunächst wie ein Trio scheinend – eine äußerst leidenschaftliche, getragene melodische Entfaltung folgt, die sich zu höchster Spannung steigert. Überraschenderweise kehrt das Scherzando nicht wieder, sondern der Abbau der Spannung leitet direkt in das breite Haupttempo über, in welchem das ergreifende Stück endet. Auch im schnellen Schlusssatz sind es erhebliche Tempo- und Strukturkontraste, die unerwartet eintreten und das Werk mit ganz eigenem Leben erfüllen. Darüber sieht man gerne über einige vielleicht allzu oberflächliche Effektfolgen hinweg, die zunächst sehr animierend wirken können, sich jedoch bei öfterem Hören, wenn es nicht so fantastisch gespielt wird wie wir, auch schnell abnutzen könnten. Dieser Einwand gilt aber auch für eine Vielzahl von Musik, die regelmäßig in unseren Konzertsälen zu hören ist. Den Namen Pauer sollte man sich merken, denn es gibt nicht gar so viel Musik auf solchem Niveau in der tschechischen Musik seit Martinů.

Fazit: eine grandiose Box von einem der besten Ensembles in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, das mit einer Eindringlichkeit und charakterfesten Unbedingtheit, auch einem ausgesprochen fein geschulten Korrelationsvermögen und höchstkultivierter Abstimmung in allen Bereichen agiert. Jeder Streichorchesterleiter sollte diese Aufnahmen kennen. Auch die klangliche Aufbereitung der Aufnahmen aus den Jahren 1960-81, die davon profitiert, dass diese bereits damals exzellent verwirklicht wurden, ist sehr ansprechend, rund, brillant und natürlich. Und der Booklettext von Petr Kadlec erzählt in sehr anrührender Weise die Geschichte Vlachs und seines Kammerorchesters.

[Christoph Schlüren, August 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Wahrhaft legendäre Aufnahmen

Supraphon, SU 4203-2; EAN: 0 99925 42032 1

„Legendary Recordings“ des tschechischen Violinisten und Dirigenten Josef Vlach erschienen nun bei Supraphon. Vier CDs mit Aufnahmen von Antonín Dvořák, Josef Suk, Wolfgang Amadeus Mozart, Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Benjamin Britten, Claude Debussy, Ilja Hurník, Jiří Pauer, Henry Purcell, Ottorino Respighi und Igor Strawinsky enthält die Box. Es spielt das Czech Chamber Orchestra, teils unterstützt durch das Prague Chamber Orchestra (Dvořák Op. 39 und Respighi), die Solo-Harfe in Debussys Tänzen übernimmt Karel Patras, in Hurníks Konzert für Oboe, Klavier und Streicher ist Stanislav Duchoň der Solist, Hurník ist selbst am Klavier zu hören.

 

Seinerzeit ein international legendärer Musiker, heute nur Liebhabern ein Begriff: Josef Vlach. Der 1923 geborene Tscheche studierte unter anderem bei Stanislav Novák und arbeitete intensiv mit Václav Talich zusammen, auch nach der Auflösung des damaligen (ersten) Tschechischen Kammerorchesters, welches Talich leitete. 1950 gründete Vlach das Vlach-Quartett, das bis 1957 bestand – aus ihm kristallisierte sich auch ein Kammerorchester heraus, welches nach dem ersten Konzert auf Wunsch Talichs den bis dahin mit ihm verbundenen Namen Tschechisches Kammerorchester annahm. Das Kammerorchester feierte europaweit riesige Erfolge in den 1960er- und 70er-Jahren. Vlach war bei all seinem Perfektionismus mit stundenlangen Proben und intensivster Vorbereitung doch als freundschaftlich-kameradschaftlicher und ruhiger Leiter geschätzt, so dass alle Proben freiwillig und ohne Druck stattfinden konnten (in der Freizeit der anderweitig hauptberuflichen Musiker!). Zwei Sätze Vlachs seien aus dem informativen Booklettext von Petr Kadlec zitiert, um einen Eindruck von seiner Maxime zu gewinnen: „Wir waren jung, nicht vom Professionalismus verdorben, Intrigen und Neid waren uns unbekannt und wir litten nicht unter ungesundem Stolz; wir behandelten einander gleich und fühlen uns alle frei.“; „Der Gemeinschaft zu dienen heißt auf egoistische Selbstgefälligkeit zu verzichten, nicht ich – sondern wir…“.

Beinahe unerhört scheint der Orchesterklang unter Josef Vlach, es herrscht eine durchgehende Wärme und eine spürbar tiefe Liebe zur Musik, eine stetige geistige Präsenz und eine Dichte, die jede Stimme als Individuum aufleben lässt und so ein atmend-pulsierendes Ganzes schafft von einer Qualität, von der man heute meist nur träumen kann. Schnell wird klar, was Vlach damit meinte, nicht vom Professionalismus verdorben zu sein: Es ist absolut keine Routine in den zu hörenden Aufnahmen zu vernehmen, die Musik entsteht frei und ohne jede Art von Mechanisierungen, sie ist im Moment empfunden und gelebt.

Wirklich überrascht war ich vor allem von Mozart (Divertimento in D-Dur KV 136, Adagio und Fuge c-Moll K 546, Eine kleine Nachtmusik KV 525), noch nie durfte ich seine Musik auf eine so durchreflektierte und durcherlebte Weise hören, die eine Frische hat, als würden die Stücke gerade eben das erste Mal das Licht der Welt erblicken. Den flächigen, weichgezeichneten Klang, welcher heute die Rezeption bestimmt, sucht man vergebens, Vlach lässt auch die herben Kontraste hervorscheinen. Gerade im grandiosen Adagio und Fuge c-Moll KV 546 kann er damit den Hörer erschüttern, hier zeigt sich Mozart von seiner progressivsten und wildesten Seite – und Vlach denkt nicht daran, dies zu glätten.

Ein wahres Heimspiel sind selbstverständlich Dvořák und Suk, die in spielerischer Leichtigkeit und mit größter Spielfreude erklingen. Aber auch die modernen Tschechen, die hier zu hören sind, können überzeugen: Ilja Hurník und Jiří Pauer. Wer sich von der idiotischen Diffamierung solcher ‚klassizistischen’ Musik als „Anachronismus“ lösen kann und auch eine definierbare Form und Struktur in moderner Musik akzeptiert, wird hier zwei großartige Komponisten für sich entdecken. Beinahe eine Haydn’sche Beschwingtheit und Leichtigkeit durchzieht das Konzert für Oboe, Klavier und Streichorchester von Hurník, nur wesentlich dichter und komplexer, gerade im Kopfsatz. Der Komponist sitzt selbst am Klavier, welches allerdings nicht solistisch auftritt, Stanislav Duchoň spielt die Oboe. Die Musik Pauers spielt mit Changierungen zwischen grellen Dissonanzen und sanften Entspannungen, immer in einer gewissen Doppelbödigkeit, in der teils durchaus ein beinahe sarkastischer Zug erkennbar ist, fast schon an Schostakowitsch gemahnend.

Wahre Klangmagie prägt die Serenade C-Dur Op. 48 von Tschaikowsky, ein sanfter Schleier verhüllt frei agierende Klanggewalten in gar unschuldig erscheinender Tanz-Geste, desgleichen im Andante cantabile – hier singt es wirklich! – aus dem ersten Streichquartett Op. 11.

In unserer Zeit entsteht immer mehr eine tiefe Kluft zwischen alter und neuer Musik, Hochschulen wie auch die Musikwissenschaft sind in zwei Lager gespalten. Wie wenig Sinn solch eine Trennung ergibt, stellt Vlach unmissverständlich klar, bei Purcell und auch dem historisierenden Respighi (Gli Uccelli, eine Suite für kleines Orchester, die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts paraphrasiert) wie bei Britten, Debussy (Karel Patras an der Solo-Harfe) oder Strawinsky. Vlach und sein Orchester teilen die gleiche Liebe für jede Musik, wie das breit aufgestellte Spektrum auch beschaffen sei.

Gesondert über die Streichersolisten zu sprechen, macht in dieser Aufnahme – ebenfalls für heutige Einspielungen undenkbar – wenig Sinn, derart integriert sind sie in den lebendigen Orchesterklang und teilen die selbe Freude und Zuneigung zur Musik mit dem Ensemble.

[Oliver Fraenzke, August 2016]

Respighi in neuem Licht

BIS – 2130 SACD

 Respighi

Ottorino Respighi (1879-1936)

Metamorphoseon (1930)
Ballata delle Gnomidi (1920)
Belkis, Regina di Saba, Suite (1934)

Orchestre Philharmonique Royal de Liège
John Neschling, conductor

Respighi? Wer ist denn das? Und gibt es von dem außer der Römischen Trilogie und der Antiche Danze ed Arie-Streichersuite überhaupt noch was? So eine Frage kann auftauchen, wenn es um die italienische Musik des frühen 20. Jahrhunderts geht. Na klar, Puccini mit seinen Opern, Mascagni, Leoncavallo, überall weltweit gespielt, aber Respighi?

Wie gut, dass diese neue CD mit solchen Unkenntnissen gründlich aufräumt, denn was das Orchestre Royal aus Liège (Lüttich) da präsentiert, ist allerbeste und wohlklingendste Musik eines Komponisten, dessen Werke leider immer noch allzu unbekannt sind. Das sehr ausführliche Programmheft weist auf seinen späteren Einfluss auf – vor allem – Filmkomponisten hin, denn Respighis Instrumentations-Kunst ist einfach umwerfend, hat er ja auch von Rimsky-Korsakoff entscheidende Anregungen bekommen. Ravel und Einflüsse von Strauss und Debussy sind zu hören, aber vor allem eine durch und durch melodiöse, oft auch überbordend rhythmische Struktur zeichnet diese Musik aus.

Wie ja Respighi die Anregungen von überall her aufgriff, was besonders bei seiner orientalisierenden Ballett-Suite Belkis von 1934 zu hören ist. Tanz war sicher eine der anregendsten Quellen für seine Musik, wofür die effektstrotzende Tondichtung „Ballata delle gnomidi“ von 1920 ein fesselndes Beispiel bietet.

Das Hauptwerk auf dieser CD ist das 1930 komponierte „Metamorphoseon“, Tema con variazioni, ein monumental aufgebautes Stück, das Respighis Meisterschaft der Orchester-Behandlung so deutlich werden lässt, dass ich mich frage, warum es nicht unzählige Orchester als Bravourwerk im Programm haben, es müsste für die Musiker eine Wonne sein, es spielen zu dürfen.

Die Aufnahme-Technik dieser hörenswerten CD ist bemerkenswert, lässt sie doch den ganzen Klangreichtum und die Fülle, die das Orchester unter seinem – in Brasilien geborenen und dort auch tätigen –Dirigenten John Neschling aufzubieten weiß, überzeugend in die Ohren und in das für diese „süffige“ Musik offene Gemüt dringen.

Vom Gesamtwerk dieses „europäischen“ Komponisten kommen hoffentlich noch viele, bislang unterschätzte Schätze zunehmend ans CD-Licht.

[Ulrich Hermann, August 2015]