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Eugen Engels „Grete Minde“: Wiederentdeckung der Oper eines Unentdeckten

Orfeo C260352; EAN: 4 011790 260228

Fast 90 Jahre nach ihrer Fertigstellung war die Uraufführung von Eugen Engels (18751943) Oper „Grete Minde“ im Februar 2022 am Theater Magdeburg unter Leitung von Generalmusikdirektorin Anna Skryleva schon eine kleine Sensation, die auch überregional hohe Beachtung fand. Ein erstaunliches Beispiel für bislang im Verborgenen schlummerndes Opernschaffen; hier eines der Öffentlichkeit bis dato völlig unbekannten deutsch-jüdischen Hobbykomponisten, der 1943 von den Nazis ermordet wurde, dessen einziges Bühnenwerk jedoch als Partitur überlebte, die erst von der Enkelin ihres Schöpfers ans Licht gebracht worden war. Der Live-Mitschnitt der Premiere auf Orfeo ist zumindest eine hörenswerte Rarität.

Nicht ganz zu Unrecht wurde bei der Wiederentdeckung und Uraufführung von Eugen Engels „Grete Minde“ hinterfragt, ob angesichts der Unmengen an Opern, die es bislang nie auf eine Bühne geschafft haben, nicht allein das persönliche Schicksal des Komponisten die entscheidende Rolle gespielt haben dürfte. Eugen Engel – geboren 1875 im masurischen Teil des damaligen Ostpreußens, später hauptberuflich Kaufmann in Berlin – war als engagierter deutsch-jüdischer Bildungsbürger insbesondere der Musik zugewandt. Privat hatte er Kompositionsunterricht bei Otto Ehlers genommen, war aber anscheinend weitgehend Autodidakt. Nach 1905 wurden zwar einige Werke von Laienmusikern aufgeführt – eine abendfüllende Oper war allerdings schon ein anderes Unterfangen. Dass Engels Wahl des Stoffes hier ausgerechnet auf Theodor Fontanes Novelle „Grete Minde“ fiel, der ein historisches Ereignis zugrunde liegt, erscheint zunächst merkwürdig, da die typische, distanzierte und lakonische Sprache des Dichters wenig Opernhaftes bietet. Engels Librettist Hans Bodenstedt – der später als überzeugtes NSDAP-Mitglied der Nazi-Propaganda zuarbeitete und nach dem 2. Weltkrieg Karriere beim NWDR machte – verfasste den Operntext bereits 1914, und der Komponist arbeitete somit bald 20 Jahre an seinem Projekt. Nach der Vollendung 1933 war natürlich an eine Aufführung in Deutschland nicht mehr zu denken, und auch die Korrespondenz mit Bruno Walter, Leo Blech und Edwin Fischer ebnete keine neuen Wege außerhalb der Heimat. Während Engels Tochter Eva 1935 nach Amsterdam floh und 1941 in die USA gelangte, wurde Eugens geplante Ausreise über Kuba im letzten Moment vereitelt: Sein Schicksal endete 1943 in der Mordmaschinerie des Vernichtungslagers Sobibor.

Eva Lowen versuchte kurz, den Namen ihres Vaters bekannt zu machen, aber erst Eugens Enkel beschäftigten sich ab 2006 intensiver mit dessen kompositorischen Hinterlassenschaften. Der Weg bis zur Uraufführung von „Grete Minde“ in Magdeburg ist einigen glücklichen Umständen geschuldet, hauptsächlich der Tatsache, dass die neue Generalmusikdirektorin, die Russin Anna Skryleva, von dem Stück absolut überzeugt war. Das Theater scheute dann keine Kosten und Mühen, das Werk auf die Bühne zu bringen. Einige Qualitäten von Engels Arbeit werden sofort deutlich: Zunächst einmal funktioniert – unerlässlich für eine Oper – das richtige Timing. Bodenstedt hat die Handlung klug gerafft, behielt die in Fontanes Fassung enthaltenen „Volkslieder“ bei, und bietet in den Szenen gelungene, essenzielle Psychogramme der Protagonisten. Die Geschichte der Margarete von Minden, die durch Fontane stark abgewandelt wird, soll hier nicht dargestellt werden. Engels Musik, inspiriert einerseits durch Werke wie Wagners Meistersinger oder Leoncavallos Verismo in I Pagliacci, andererseits durchaus noch von Carl Maria von Weber, wechselt geschickt zwischen Massenszenen, die oft heiter und gezielt volkstümlich wirken, und recht bewegenden Auseinandersetzungen der Hauptfiguren. Musikalisch erstaunt vor allem Engels versierte Instrumentation, die zumeist Richard Strauss, Humperdinck – mit dem der Komponist in Kontakt stand – und Schreker als Vorbildern folgt, teils (Glockenspiel etc.) Korngold-nah klingt. Skryleva hat das Orchester leicht ausgedünnt – etwa vier statt sechs Hörner –, erreicht so ein hohes Maß an Durchsichtigkeit und ermöglicht ihrem Sängerensemble immer adäquates Durchkommen.

Wollte Engel hier eine Art spätromantische „Volksoper“ schreiben? Die dafür aufgewandten Mittel erscheinen eher naiv und sind Anfang der 1930er schon klar aus der Zeit gefallen. Trotzdem gelingt, die stets unterschwellig vorhandenen Religionskonflikte kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg durchgängig zu thematisieren. Wirklich berühren dann etliche Dialog-Momente, so der Tod von Gretes Partner Valtin oder die Zuspitzungen im dritten Akt. Etwas übernommen hat sich der Komponist leider in der rein dramaturgisch durchaus zwingenden Schlussszene. Wenn Grete Tangermünde abfackelt und mit ihrem Sohn schließlich im brennenden Kirchturm als eine Art Fanal zu Tode kommt – die historische Figur endete auf dem Scheiterhaufen –, will die Musik dann trotz erkennbarer Rückgriffe auf Wagners „Feuerzauber“ der Walküre nicht so recht zünden. Sowas beherrschten etwa Schreker oder Strauss doch um Klassen besser.

Die Leistungen der Magdeburgischen Philharmonie und des Chores sind fast makellos. Skryleva schafft es, die heterogenen Momente dieser leicht querständigen Oper unter einen Hut zu bringen. Bei der Sängerriege zeigen sich die Damen den männlichen Protagonisten deutlich überlegen, allen voran die großartige Raffaela Lintl in der Titelrolle: emotional mitreißend, dabei immer mit klanglich ausgewogener Sopranglut. Auf gleichermaßen hohem Niveau bewegt sich Kristi Anna Isene als Trud. Von den Herren begeistern allenfalls Marko Pantelić als Gerdt sowie Benjamin Lee als Hanswurst, wo hingegen Zoltán Nyári (Valtin) ziemlich blass agiert. Bei den kleineren Rollen hört man teils nicht deutlich genug akzentuiertes Deutsch – sei’s drum.

Der Live-Mitschnitt – eine Co-Produktion mit Deutschlandradio Kultur – ist aufnahmetechnisch ohne Tadel, mit den üblichen Einschränkungen einer Bühnenaufnahme. Nur hätte man für eine CD-Veröffentlichung auf gute fünf Minuten (!) Schlussapplaus gerne verzichten können. Die Booklet-Infos der Dramaturgin Ulrike Schröder sind ausführlich, das Libretto ist komplett abgedruckt. Was bleibt? Zündende Melodien oder gar Ohrwürmer hat „Grete Minde“ nicht zu bieten; die Dramatik hält sich in Grenzen. Bruno Walter lobte zwar Eugen Engels solides Handwerk, vermisste dabei jedoch jegliche Individualität. Dem darf man zustimmen, muss dabei aber anerkennen, dass diese Oper zumindest funktioniert – wenn die Beteiligten mit so viel Herz an die Sache herangehen wie in Magdeburg. Einmal mehr reift die Erkenntnis, wie groß doch die Zahl ungehobener, hörenswerter Opernschätze tatsächlich sein mag. Auf CD eine willkommene Rarität – die es schon in die Vierteljahresliste des Preises der deutschen Schallplattenkritik schaffte –, muss sich die Repertoirefähigkeit dieser Entdeckung erst noch erweisen.

[Martin Blaumeiser, Dezember 2023]

Verblüffende Jugendwerke

Orfeo, C 763 093 D; EAN: 4 011790 763323

Das Stuttgarter Kammerorchester unter Michael Hofstetter nimmt alle dreizehn Kammersymphonien von Felix Mendelssohn auf drei CDs auf. Die Box erschien bei Orfeo.

Die Streichersymphonien von Felix Mendelssohn sind weit mehr als bloße Studienwerke oder Kompositionsübungen, es ist von der allerersten an eigenständige und auf ihre Art abgeschlossene Konzertliteratur von handwerklicher Beherrschung und geistiger Inspiration, wie sie viele Kollegen seiner wie unserer Zeit selbst in ihrer Reifephase nicht erreichen. Gedacht waren sie für die Aufführung im häuslichen Bereich, heute sollten sie jedoch auch öffentlich erklingen.

Eine strenge Ausbildung prägte die Kindheit Felix Mendelssohns, der ab seinem sechsten Lebensjahr in Deutsch und Französisch, Mathematik, Kunst und Musik ausgebildet wurde, ein Jahr später (1816) Violin- und Klavierunterricht erhielt. Ab 1818 erhielten Felix und seine Schwester Fanny Privatunterricht in mehreren Fächern. Die Kinder mussten in allen Bereichen hohe Bildung vorweisen können, wurden stets zum Lernen angehalten. Die musikalische Ausbildung legten die Eltern in die Hände von Carl Friedrich Zelter (1758-1832), selbst Autodidakt und hauptberuflicher Maurermeister, der jedoch durch intensive Forschung an alter Musik technische Meisterschaft entwickelte und in hohen Kreisen, vor allem mit Johann Wolfgang von Goethe, verkehrte, was ihm gesellschaftliche Prominenz sicherte. Die Meinungen über Zelter gehen weit auseinander: Als wichtigster musikalischer Bezugspunkt für Felix Mendelssohn nimmt er auf jeden Fall eine Vorrangstellung bezüglich dessen musikalischer Entwicklung ein, auch wenn das Genie des Jungen sich wohl auch „von selbst“ (?) entwickelt haben würde. Die Streichersymphonien entstanden unter seiner Aufsicht und zumindest die frühen spiegeln die Haupteinflusspunkte Zelters (CPE Bach, Händel etc.) deutlich wider.

Der Überschaulichkeit halber ordne ich die Symphonien in drei Gruppen ein, die allerdings nur gedachten Kategorien entsprechen und der organischen Entwicklung einer jeden einzelnen im Kontext nicht im Wege stehen sollten. Die erste Gruppe umfasst die ersten sechs Streichersymphonien, die alle 1821 komponiert wurden und in konsequenter Dreisätzigkeit schnell – langsam – schnell konzipiert wurden. In der Entwicklung dieser sechs Symphonien kann manch eine Gemeinsamkeit zu derjenigen der ersten sechs Klaviersonaten von Mozart gesehen werden (Mozart zählte neunzehn Jahre, als er diese Sonaten komponierte, Mendelssohn schrieb die ersten Streichersymphonien zwölfjährig). Im Umfang sind die sechs 1821 komponierten Symphonien noch recht gering, dafür dicht in der musikalischen Textur. Von der ersten Symphonie an zeigt sich fundiertes technisches Können besonders auf kontrapunktischer Ebene: Insgesamt neigt Mendelssohn noch dazu, seinen Satz zu überfrachten. Allein von der ersten zur dritten Symphonie zeigt sich eine beachtliche klangliche Verfeinerung, die sein unaufhaltsames Streben wie sein eigenes Reflektieren versinnbildlicht. Jedes einzelne Werk experimentiert mit neuen Elementen und Charakteristika. In der vierten Symphonie probiert er eine langsame Einleitung aus (was er ab der Achten dann zum Standard macht) und lässt im Andantesatz erstmalig Elemente seiner späteren, romantischeren Tonsprache durchschimmern. Mendelssohn begann allmählich, seinen Satz aufzuklären, was in der Sechsten schließlich zu klanglichen Erfolgen führte. In dieser entdeckte er zudem das Menuett als Zwischensatz für sich, was die Tore öffnete für viersätzig konzipierte Formen.

In eine zweite Gruppe ordne ich die Symphonien 7-9, diese bestehen nun je aus vier Sätzen, wobei zu der bisherigen Form an dritter Stelle je ein Menuett oder im Falle der 9. Symphonie ein Scherzo hinzutritt. Im Gegensatz zu dem Menuett der Sechsten, das als alleiniger Mittelsatz größeren Umfang benötigt und so zwei Trios besitzt, haben die der Symphonien aus der zweiten Gruppe je nur ein Trio. Zudem wachsen die Symphonien in ihrer Gesamtlänge deutlich an, verdoppeln bis verdreifachen ihre Spieldauer. Die gesamte Konzeption wirkt nun symphonischer, es gibt deutlichere Kontraste und nachvollziehbarere Wechselspiele zwischen den Stimmen: Mendelssohn operiert sparsamer mit seinen Mitteln, verteilt sie ökonomischer. Allgemein verfeinert sich sein Gespür für Klang; dies führt unter anderem dazu, dass er beginnt, die Stimmen aufzufächern, um den Gesamtklang weiter auszudifferenzieren. In der siebten Symphonie begnügt er sich damit, lediglich Celli und Bass eigenständiger zu führen. Ab der Achten experimentiert er mehr: Im Adagiosatz kommen nur Bratschen und tiefe Streicher zum Einsatz, die Bratschen jedoch unterteilt er in drei Sektionen. In der Neunten knüpft er hieran an und teilt die Bratschen in zwei Sektionen, im Andante gibt es zudem insgesamt vier Violinstimmen. Die Zweiteilung der Bratschen etablierte sich von nun an als Standard für ihn.

Da von der zehnten wie der dreizehnten Symphonie je nur ein Kopfsatz überliefert ist, können diese formal nicht eingeordnet werden. Eine dritte Gruppe bilden daher lediglich die elfte und zwölfte Symphonie, welche ich als experimentale Symphonien bezeichnen würde: Mendelssohn geht vollends an oder gar über die Grenzen des Genres, experimentiert mit neuen Formmodellen und Ideen; er ist bereit für das volle Orchester. Mit fünf Sätzen und einer Spieldauer von 40 Minuten erreicht die Elfte ganz neue Dimensionen – im Scherzo nimmt der Komponist zudem Schlagwerk (Pauken, Triangel und Becken) hinzu, schreit also förmlich nach dem Symphonieorchester. Er bleibt dabei, die Bratschen in zwei Teile zu separieren, was die Mittellage facettenreicher ausgestaltet. Die Faktur wird noch luzider und er behandelt seine Mittel noch sparsamer bis hin zur Einstimmigkeit, wodurch er ein größeres Spektrum an Klangfarben erhält. Die Besonderheit der g-Moll-Symphonie Nr. 12 liegt vor allem im Kopfsatz, welcher nach einer langsamen Einleitung in einer großen Fuge zwei Themen durchführt. Hier kehrt Mendelssohn wieder zur dreisätzigen Form zurück, wobei das Finale die Hälfte der Länge ausmacht.

Das Stuttgarter Kammerorchester liefert eine formidable Gesamteinspielung dieser insgesamt dreizehn Streichersymphonien ab, die besonders durch ihren luftig-leichten Klang begeistert. Dirigent Michael Hofstetter verzichtet auf große Geste, sondern hält die Musik schlicht und geradlinig. Er verfolgt die Entwicklung musikalisch mit und passt sein Orchester den Gegebenheiten der Musik an – vor allem behalten die Symphonien dadurch die ausgelassene Jugendlichkeit, die sie charakterisiert, trotz der grandiosen handwerklichen Leistung. Überschwänglich lebendig präsentiert Hofstetter die frühen Symphonien, verleiht den späteren dann mehr Kontrast, differenziert deutlicher aus und gibt ihnen allgemein gewisse Reflexion ganz im Sinne des reifenden Mendelssohn. Ich bewundere den heute selten anzutreffenden Mut, einige der Wiederholungen auszusparen, die in den Noten vermerkt sind: Wenn sich die Musik zu weit vom Ausgangspunkt entfernt hat, macht die Rückkehr ebendorthin oft keinen Sinn mehr, was auf Kosten der Formverständlichkeit geht. Gerade in den umfangreicheren, späteren Werken hätte ich sogar auf noch ein paar mehr Wiederholungen verzichtet. Die Tempi übersteigert das Orchester teils, so dass die Allegri vor allem der früheren Symphonien zu rasch davoneilen und fast durchgehend Alla Breve-Stimmung evozieren, während die Andante-Sätze schleppen: Hier wäre Mut zu subtileren Kontrasten wünschenswert, sich auf die Gratwanderung einzulassen, die Tempi zu relativieren, ohne dass dabei die Gegensätze verschwimmen oder die Musik in den Randsätzen stockt. Technisch bewundernswert gelingen die Unisonostellen, die brillant aufeinander abgestimmt erklingen, sowie die mehrfach separierten Stimmen, wo die Stimmgruppen auch ihr Miteinander im Gegeneinander beweisen.

[Oliver Fraenzke, November 2020]

Skride folgt der Musik

Orfeo, C 950 191; EAN: 4 011790 950129

Béla Bartók steht im Zentrum von Baiba Skrides neuen CD-Produktion. Gemeinsam mit dem WDR Sinfonieorchester Köln unter Eivind Aadland spielt sie das zweite Violinkonzert Sz 112 und die beiden Rhapsodien für Violine und Orchester Sz 87 und Sz 90.

Neben dem Klavier inspirierte vor allem die Geige die musikalische Vorstellungskraft von Béla Bartók. Durch ihre Verwandtschaft mit Fiedeln eignet sich dieses Instrument perfekt für die Darstellung folkloristisch angehauchter Werke; außerdem kann sie problemlos Mikrointervalle realisieren. Die beiden Violinkonzerte und die beiden Rhapsodien (insbesondere die erste) zählen nach wie vor zu den meistgespielten Konzertstücken der Moderne, ihre rhythmische Kraft, prächtige Virtuosität und die formale Ausgewogenheit machen sie zu wahren Publikumslieblingen.

Baiba Skride folgt der Musik. Die technisch-mechanischen Höchstschwierigkeiten meistert sie beiläufig, während sie sich mental auf den Fluss der Musik fokussiert. Skride hält das Ganze im Auge, sie weiß um die verwinkelten Abzweigungen und plötzlichen Charakterwechsel, deren Übergänge sie adäquat ausgestaltet. So entsteht ein nachvollziehbarer Zusammenhang selbst in den großen Dimensionen des Violinkonzerts. Dabei besitzt sie eine hinreißende Tongebung, die entsprechend der Musik nicht zu lyrisch, ebenso aber nicht zu harsch erscheint, sondern kernig und voll; ergriffen, aber nicht sentimental; distanziert, aber nicht kalt. Die beiden volksmusiknahen Rhapsodien, die Béla Bartók traditionell in Lassù und Friss teilte, erklingen beinahe spielerisch leicht nach dem gewaltigen Violinkonzert. Dennoch nimmt Skride sie nicht leitfertig, sondern sucht auch in ihnen die innermusikalischen Bezüge und entlockt den Werken durch ihre Spielfreude reinste Eleganz.

Das Orchester integriert Skride als prima inter parens, so dass sie trotz der deutlichen Zurschaustellung des Soloparts nicht herausbricht, sondern nur in der Gemeinschaft wirken kann. Eivind Aadland erweist sich als präziser und luzide hörender Dirigent, der jede Stimme hörbar macht und ein geklärtes Bild freigibt, in dem die Effekte der Musik umso frappierender zur Geltung kommen. In den kleiner besetzten Passagen entsteht so eine beinahe kammermusikalische Wirkung, wonach die Tuttis deutlich kontrastieren.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2019]

Auf die Schnelle

Orfeo, C 929 181 A; EAN: 4 011790 929125

Zum Jubiläumsjahr publizierte Orfeo eine CD mit Werken Gottfried von Einems. Neben der Philadelphia Symphony op. 28 hören wir die Geistliche Sonate op. 38 und das Stundenlied op. 26 nach Bertolt Brecht. Franz Welser-Möst dirigiert die Wiener Philharmoniker und den ausschließlich im Booklet erwähnten Singverein der Gesellschaft der Musikfreude in Wien. In der Geistlichen Sonate singt Ildikó Raimondi, außerdem spielen hier Gábor Boldoczki an der Trompete und Iveta Apkalna an der Orgel.

Es wirkt doch alles recht auf die Schnelle zusammengeworfen: Die Aufnahmen der drei Stücke stammen aus unterschiedlichen Jahren, 2009, 2011 und 2016, und stehen weder inhaltlich noch bezüglich der Besetzung in einem schlüssigen Zusammenhang. Dieses Jubiläum wurde wohl etwas spät bedacht von den Verantwortlichen; da wurde also genommen, was gerade verfügbar war.

Am beachtlichsten gelingt dabei die Geistliche Sonate für Sopran, Trompete und Orgel op. 38, hier unzusammenhängend zwischen zwei Orchesterwerken platziert. Zwar ist ein gewisses Übermaß an Vibrato in der Singstimme zu beklagen, doch überzeugt die Triosonate im Gesamtbild durch Vitalität und Unverbrauchtheit. Gábor Boldoczki musiziert glasklar und nutzt die dynamisch-klanglichen Möglichkeiten seines Instruments souverän aus, Iveta Apkalna hält die Orgel kammermusikalisch im Zaum und besticht durch feine Registrierung.

Franz Welser-Möst belässt in den beiden Hauptwerken die Musik ungeschliffen, beinahe primitiv. Und wenn er doch einmal eingreift, herrscht Willkür – dass die Eingriffe aus einer tieferen Kenntnis der Werke hervorgingen, kann ich nicht erkennen. Die Philadelphia Symphony erstrahlt in Haydn’schem Witz, zeigt der fortschreitenden Avantgarde durch provozierend reine Tonalität die lange Nase. Warum also übertreibt Welser-Möst jede dynamische Akzentuierung und sabotiert dadurch die humoristischen Züge? Wieso fehlt dem Mittelsatz jegliche Unbeschwertheit und Sanglichkeit? Und weshalb muss das Finale zwingend so uncharmant und ernst wirken, wenn Einem die Symphonie dezidiert in klassischem Gestus schrieb und sie im Programm eher als Ouvertüre denn als Hauptwerk fungieren soll? Dies sind nur drei der vielen Fragen, welche diese Aufnahme in mir aufwirft, und die ich gerne verstehen würde.

Bekanntheit öffnet Türen, ob verdient oder nicht, doch von dieser Aufnahme würde ich letztlich abraten – wäre da nicht der Repertoirewert: drei hochkarätige Werke eines scheinbaren One-Hit-Wonders, der sich nicht nur als großartiger Opernkomponist, sondern in seinem gesamten Schaffen einschließlich Orchester- und Kammermusik als feinfühliger, umfassend begnadeter wie präzise formulierender Komponist entpuppt.

[Oliver Fraenzke, März 2018]

Historisch-gehaltvolles

Orfeo, C 916 172 A; EAN: 4 011790 916224

Hans Knappertsbuschs Konzert vom 14. Mai 1962 mit dem Kölner Rundfunkorchester in einem Programm bestehend aus Carl Maria von Webers Ouvertüre zur Oper Euryanthe op. 81, Ludwig van Beethovens Drittem Klavierkonzert c-Moll op. 37 und Johannes Brahms‘ Dritter Symphonie F-Dur op. 90 ist auf vorliegender Doppel-CD von Orfeo zu hören. Der Klaviersolist ist Géza Anda. Ein weiterer Live-Mitschnitt, vom 10. Mai 1963 mit Brahms‘ Variationen über ein Thema von Joseph Haydn op. 56a, ist beigegeben.

Die Reihe Orfeo d’Or rückt historische Liveaufnahmen ins Licht der heutigen Aufmerksamkeit. Einen ausgezeichneten Fang präsentiert sie mit der Entdeckung zweier Konzertaufnahmen aus den letzten Lebensjahren des Dirigenten Hans Knappertsbusch. In Mono gehalten, beleuchten sie seinen ausgereiften und gesetzten Dirigierstil zwar nicht in bester, doch ausreichender Audioqualität, um seine unglaubliche Intuition bezüglich der Musik zu offenbaren. Knappertsbusch war bekanntlich kein Freund des detaillierten Studiums und der langwierigen Arbeit an musikalischen Fragen. Umso erstaunlicher ist, wie viel er aus den Werken doch herausholte, wie genau er die Spannungsverhältnisse auszuloten und die Form zusammenzuhalten wusste.

Hervorgehoben sei allem voran eine Eigenheit, die Knappertsbusch ausmachte und die ich heute viel zu oft in Konzerten und Aufnahmen misse: Die Bewusstheit über Entspannung. Schließende Phrasenenden lösen Spannung auf, melodiöse Verläufe steigen nicht nur immer weiter bis zu einem finalen Schlag, sondern haben in den Regel eine Bogenform. Knappertsbusch weiß, diese auch entsprechend musikalisch zu realisieren, die Kraftpole in der Waage zu halten. Als einem der ganz wenigen gelingt ihm dies in den berüchtigten Tutti-Schlägen, wenn – typisch gerade bei einem Solokonzert – am Ende einer Phrase das gesamte Orchester einen mächtigen Akkord einwirft. Dieser wird von Knappertsbusch nicht unter den Teppich gekehrt, er behält seine Markanz, fügt sich jedoch in den Spannungskontext ein, ohne bezugslos herauszupoltern.

Auch die tiefen Stimmen erhalten unter Knappertsbusch besondere Beachtung, sie haben Eigenständigkeit und Luzidität, sind nicht bloße Stützen für den Glanz der Oberstimmen. Als drittes Charakteristikum sei die rhythmische Impulsivität zu nennen, besonders in der Konfliktrhythmik zwei-gegen-drei besticht vorliegende Aufnahme durch absolutes Gegeneinanderlaufen der Schichten ohne jede klangliche Mischung oder Verschleifung. Der Effekt ist enorm, innerliche Unruhe und Zerrissenheit fährt dazwischen und hebt besagte Passagen von der umgebenden homogenen Rhythmik ab. In der Brahms-Symphonie sorgt dies für die nötigen Kontraste, um die ausladende Form berechtigt erscheinen zu lassen.

Ebenso intuitiv und innerlich erspürt erklingt der Solopart des Dritten Klavierkonzerts von Beethoven unter den Fingern Géza Andas. Im ersten Satz nimmt er sich zwar einige oberflächliche Rubati heraus, um seine Virtuosität zu präsentieren, besticht dafür aber auch durch tiefe Aussage und natürliche Phrasierung, die einige versteckte Aspekte dieser Musik offenlegt. Beispielhaft hierfür sind die Gestaltung des Quartmotivs im ersten Satz oder die Hervorhebung anstatt Verschleierung enger gesetzter tiefer Akkordlagen mit all ihren dissonierenden Obertönen.

[Oliver Fraenzke, September 2017]

Unvollendbarkeit

Orfeo, C 922 171 A; EAN: 4 011790 922126

Die vierundzwanzig Études Frédéric Chopins, auf die beiden Opera 10 und 25 verteilt, sind in einer neuen Einspielung des israelischen Pianisten Amir Katz für Orfeo zu hören.

Zweifelsohne sind die 24 Etüden von Frédéric Chopin ein Meilenstein der Klavierliteratur. Nicht nur in technischer Hinsicht sind sie revolutionär, sondern auch hinsichtlich der Dichte des Ausdrucks und Klarheit der Aussage. Jede der Miniaturen ist für sich ein ganzes Universum, vereint Reduktion auf das Wesentlichste und Schlichtestes mit höchsten Anforderungen an die Finger- und vor allem auch Armtechnik. Dabei beschränkt sich jede der Etüden nur auf wenige Herausforderungen, und diese werden auf unterschiedlichste Weise beleuchtet, quer durch konträre Tonarten und Dynamikschattierungen geschleust, und verlangen somit Flexibilität, äußerste Präzision der Ausführung und nicht zuletzt physische Ausdauer. Obgleich natürlich ein zyklischer Zusammenhang besteht, müsste doch eigentlich jedes Stück für sich alleine betrachtet werden, auch hinsichtlich der pianistischen Darbietung.

Amir Katz stellt sich für Orfeo der Herausforderung aller 24 Études. Zuhause ist der israelische Pianist besonders in filigranen und feingliedrigen Passagen. Leichtigkeit und Beschwingtheit liegen Katz im Blut, er brilliert durch feine melodische Gestaltungsgabe in den wüstesten Notenfluten, in sämtlichen von Chopin mit brillante oder leggiero gekennzeichneten Stellen. So fließen Nummern wie Op. 10 Nr. 5, Op. 25 Nr. 2 und vor allem die berüchtigte Terzenetüde Op. 25 Nr. 6 in herrlicher Ungezwungenheit und Mühelosigkeit dahin, beeindrucken dabei mit gehaltvoller Ausdruckskraft. Auch in der gespreizten Lage vermag Katz den Fluss aufrecht zu erhalten, sei es mit phänomenalem Legato (Op. 25 Nr. 10), im spielerischen Staccato-Marcato (Op. 25 Nr. 4) oder mit Hervorhebung der verschiedenen Stimmen (Op. 10 Nr. 10). Nun wäre noch wünschenswert, dass Amir Katz sich auch einmal den einfachsten Melodien in gleicher Subtilität nähert wie er es in den komplexen Passagen so eindrucksvoll unter Beweis stellt. Die bloßen Melodien tragen nicht, haben kaum Volumen oder vokale Qualität, bleiben auf bloßer Tasten-Ebene. Wie herrlich wäre es, beispielsweise die Melodiestimme von Op. 25 Nr. 1 wirklich in ihrem sängerischen Ausdrucksspektrum zu vernehmen oder den Lento-Beginn von Op. 25 Nr. 7 als zarte Kantilene erfassen zu können. Besonders deutlich wird der Kontrast in der „Winterwind“-Etüde Op. 25 Nr. 11: Während die virtuose Hand fein und in bestechender musikalischer Qualität brilliert, bleiben die anderen Stimmen blass und fahl, der Choral wird in keiner Weise entfaltet. In den langsameren Etüden kompensiert Katz diese Schwäche mit schnellerem Tempo, hier wird sein Manko besonders  augenfällig. Ebenso in der „Schmetterlings-Etüde“ Op. 25 Nr. 9: da fehlt die Leichtigkeit und das „Torkeln“ des Daumens, da wäre leisere Grunddynamik und größere Verspieltheit erforderlich.

Auch bei Amir Katz wird einmal mehr ersichtlich, wie umfassend die 24 Etüden Chopins den Pianisten herausfordern, bei den allerwenigsten gelingen alle Etüden in einigermaßen gleichbleibender Qualität, kaum einer wird allen diametral entgegengesetzten Schwierigkeiten musikalischer Natur gleichermaßen gerecht. Auch bei technischer Perfektion und reflektierter Darbietung wird im Laufe des Zyklus ersichtlich, wo persönliche Stärken liegen und wo noch intensivere Erarbeitung von Subtilitäten vonnöten ist. Die Arbeit an solchen musikalischen Kristallen hört sicherlich niemals auf und genau das zeichnet diese Werke eben auch aus: die schiere Unmöglichkeit einer vollendeten Aufführung.

[Oliver Fraenzke, April 2017]

Mendelssohns Liebhaber

Felix Mendelssohn Bartholdy
Symphonien Nr. 1 c-moll op. 11 & Nr. 4 A-Dur op. 90 ‚Italienische’
Jörg Widmann: Ad absurdum. Konzertstück für Trompete & kleines Orchester (2002)
Sergey Nakariakov (Trompete)
Irish Chamber Orchestra, Jörg Widmann
Orfeo C 914161A (ISBN: 4011790914121)

Den 1973 in München geborenen Jörg Widmann kennen wir seit vielen Jahren als exzellenten Klarinettenvirtuosen und höchst erfolgreichen Komponisten, durchaus in beider Hinsicht als Überflieger unter den international renommierten deutschen Musikern seiner Generation. Dass Widmann auch dirigiert, mag zunächst weniger sensationell anmuten, denn man könnte bald auch fragen: welcher erfolgreiche Komponist und Instrumentalist versucht sich nicht in diesem so angesehenen wie einträglichen Metier. Aber nach Anhören der vorliegenden ersten CD einer Serie, die sämtliche fünf vom Meister selbst abgesegneten Symphonien umfassen wird, ist unstrittig: Widmann hat größere Begabung und mehr offenkundige Liebe zur Musik als die meisten seiner Kollegen, seien sie nun ursprünglich Komponisten oder Instrumentalisten. Als erster Gastdirigent führt er bei seinem erklärten Anliegen das Irish Chamber Orchestra ins Feld, live mitgeschnitten in drei Konzerten 2012, 2013 und 2014 in der heimischen University Concert Hall in Limerick. Die Live-Aufnahme tut der Sache gut, kann doch so eine ganz andere musikalische Folgerichtigkeit entstehen als bei dem Mikrogeschnipsel, wie es erst kürzlich vom Münchener Kammerorchester unter Liebreich bei Sony vorgelegt wurde, wobei dazu natürlich auch das hierfür erforderliche Niveau vorliegen muss – und dieses ist gegeben, dank Orchester und Dirigent.

Widmanns Mendelssohn-Projekt – in welchem die 12 Jugendsymphonien keine Aufnahme fanden, denen eine derart engagierte, präzise und freudvolle Einstudierung auch gut getan hätte – kombiniert Symphonien des Meisters mit Musik Widmanns, in diesem Fall – zwischen den beiden Symphonien – dem aberwitzigen Trompeten-(Anti)-Konzertstück ‚Ad absurdum’, welches in seiner grenzwertigen Gehetztheit vom Solisten Sergey Nakariakov phänomenal dargeboten wird. Gegen Ende schnappt ihm eine Drehorgel das überdrehte Leadership weg, und das Stück verendet geradezu bewusst kläglich – der Virtuose erstickt sozusagen am eigenen Irrsinn… Musikalisch kein ausgesprochen bedeutsames Werk, so eine Art mehrfach verlängerter Anti-Hummelflug, der Khatschaturian mit Wolfgang Rihm verheiratet, verblüfft Widmann doch immer wieder mit seinen hakenschlagenden Kapriolen und mit einem ins Leere laufenden Über-Elan, der dem Hörer ein sehr unterhaltendes, verrücktes Spektakel anbietet, das auch den Musikern bei allen Schwierigkeiten des hindernisreichen Parcours schelmische Freude bereiten kann. Der Dirigent hat die selbst angezettelte Schieflage bestens im Griff.

Den Anfang macht Mendelssohns Erste (eigentlich seine Dreizehnte!) Symphonie in c-moll, komponiert mit 13 Jahren. Sie ist ein hinreißendes Zeugnis früher Meisterschaft, in welcher auch deutliche Sommernachtstraum-Anklänge hervorscheinen, und das Studium des Mozart’schen symphonischen g-moll Niederschlag gefunden hat, ohne dass dies wirklich von Belang wäre, denn: es ist bereits ureigenster Mendelssohn von schlagender Originalität und souveräner Formung, mit all seinem überbordenden Reichtum, seiner Kunst der periodenübergreifenden melodischen Verknüpfung, all der Klarheit und Farbenfreude der Mendelssohn’schen Orchestration, und jenem rhythmischen Drive, der ihm mehr zu eigen war als seinen romantischen Zeitgenossen. Widmann neigt zu forschen Tempi – auch dies in Übereinstimmung mit den überlieferten Intentionen des Komponisten. Im selben Geist kommt die Italienische Symphonie daher, die Mendelssohn ja niemals abschließend für den Druck vorbereitet und daher nicht mit einer Opuszahl versehen hat. Widmann lässt die etablierte Erstfassung spielen, die auch mir als die gelungenere erscheint. (Mendelssohn hat alle Sätze außer dem Kopfsatz teils gravierend überarbeitet, doch diese 2. Fassung ist erst vor wenigen Jahren erstmals im Druck erschienen, bei Bärenreiter, und wird nach wie vor kaum gespielt.) Kraft, Schwung, Leichtigkeit, kontrollierter Übermut, unsentimentale Innigkeit, Finesse der Artikulation und Phrasierung – hieran besteht hier kein Mangel, was die Aufnahme fast allen anderen, die der Markt offeriert, weit überlegen sein lässt. Natürlich kann man ein paar Kleinigkeiten monieren, und das hängt auch damit zusammen, dass das Niveau so außerordentlich ist: In einigen Sätzen wird zu Beginn ein etwas schnelleres Tempo angeschlagen, als sich dann wirklich sinnvoll durchhalten lässt – besonders offenkundig im Kopfsatz der Italienischen; die Phrasierung der Streicher am Beginn des langsamen Satzes von op. 11 könnte noch freier, unabhängiger vom Takt ausschwingen, auch könnte sich der Klang der melodieführenden Geigen im Andante con moto der Italienischen noch feiner den Flöten-Arabesken anschmiegen; das Fortissimo der Blechbläser schlägt gelegentlich über die Stränge, was von der Tontechnik nur teilweise ausgebügelt werden kann; überhaupt besteht der Mangel, dass das Fortissimo öfters von Anfang an so stark ist, dass am Höhepunkt keine weitere Steigerung möglich ist; auch kann ich nicht sehen, dass die (vorgeschriebene) Wiederholung der Exposition der Kopfsätze der Gesamtdramaturgie dienlich wäre, womit Widmann zwar dem Common sense der scholastischen Musikwissenschaft entspricht, wo ich jedoch gerade von ihm eine unkonventionell mutige Selbständigkeit der Wahrnehmung erwarten möchte. Besonders erfreulich ist, dass nicht nur das forsch Vorwärtsdrängende, Stürmische entfesselt zum Zug kommt, sondern auch das Lyrische, Kantable innig durch- und erlebt wird. Diese Aufnahmen sind jedenfalls musikalisch allem um Lichtjahre voraus, was die ‚historische Aufführungspraxis’ (Harnoncourt, Brüggen, Gardiner usw.) hervorgebracht hat – denn hier agiert ein Dirigent, der diese Musik in all ihren Facetten liebt und sein ganzes Feuer und seine Anmut in den Dienst ihres Gedeihens stellt. Jörg Widmann offenbart sich als ein Urmusikant, und nun wäre es großartig, wenn er auch bei seinen Kompositionen mehr und mehr darauf achten würde, dass sich ein erlebbarer Zusammenhang über längere Strecken einstellt. Zugang hat er dazu, wie sich in seiner Liebe zu Mendelssohn erweist. Widmann ist ein stürmischer Liebhaber, auch wenn Wolfgang Stährs historisch paraphrasierende Formulierung im Booklet, dass wir hier „Mendelssohns Geist aus Widmanns Händen“ empfangen, reichlich affirmativ daherkommt. Stährs kenntnisreicher Text und ein sehr lebensnaher, weitgehend durchsichtiger Aufnahmeklang runden diese insgesamt gelungene Produktion ansprechend ab.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, August 2016]