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Henzes „Floß der Medusa“ mit Cornelius Meister geht unter die Haut

Capriccio C5482; EAN: 8 4522105482 7

Capriccio hat eine weitere Aufführung von Hans Werner Henzes (1926-2012) Oratorium „Das Floß der Medusa“ veröffentlicht – diesmal live. Unter der Leitung von Cornelius Meister spielen und singen das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, der Arnold Schoenberg Chor sowie die Wiener Sängerknaben. Die Solisten sind: Sarah Wegener (La Mort), Dietrich Henschel (Jean-Charles) und Sven-Erich Bechtolf (Sprecher/Charon).

Nachdem es um Henzes Oratorium Das Floß der Medusa, dessen geplante Uraufführung Ende 1968 durch einen Polizeieinsatz vereitelt wurde und so den vielleicht größten Konzertskandal der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte verursachte, lange still war, sorgte wohl die Flüchtlingskrise im Mittelmeer in den letzten Jahren für eine gewisse Renaissance dieses echten Meisterwerks – bis hin zu szenischen Realisationen (Amsterdam, Berlin). Ende 2019 hatte SWR Classic eine Aufnahme aus der Elbphilharmonie (vom 15.–17. 11. 2017) mit dem kürzlich verstorbenen Dirigenten Peter Eötvös herausgebracht – siehe unsere Kritik mit ein paar näheren Infos zum Werk. Nun gibt es eine weitere – nur zwei Wochen ältere (!) – Einspielung, diesmal live aus dem Wiener Konzerthaus. Capriccio hätte mit dieser Veröffentlichung allerdings nicht sechs Jahre warten müssen: Die Aufführung mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Leitung von Cornelius Meister liegt auf demselben Niveau wie die des SWR Symphonieorchesters. Das fordert geradezu zum direkten Vergleich heraus. Die Erstaufnahme auf Deutsche Grammophon – der Mitschnitt der Generalprobe von 1968, dirigiert vom Komponisten – fällt nach Meinung des Rezensenten eigentlich in allen Belangen schwächer aus, bleibt als historisch ganz ungewöhnliches Dokument aber weiterhin interessant.

Die Akustik der Elbphilharmonie – sicher nicht jedermanns Sache – kommt Eötvös‘ Streben vor allem nach Durchsichtigkeit dieses riesig besetzten Oratoriums gut entgegen, was aufnahmetechnisch entsprechend eingefangen wurde. Das Wiener Konzerthaus hat bei etwas mehr Hall – wohl nicht zuletzt deswegen braucht Cornelius Meister auch ca. 4½ Minuten länger – gleichzeitig mehr Wärme. Dies kommt gerade den Chören der Lebenden zugute – die anfangs nur von Bläsern begleitet werden. Später wechseln sie ja – bis auf die dann solistisch agierenden 14 Überlebenden – ins von den Streichern dominierte Reich der Toten. Eine erstaunliche Transparenz wird jedoch gleichfalls in Wien erreicht. Die Dynamik über alles scheint dabei hier größer.

Meister zielt ganz bewusst auf Drama – das gelingt über weite Strecken. Die Bemerkung Christoph Bechers im ansonsten ordentlichen Booklet zum unmittelbaren Schluss des Werks, dass Meister sich hier dafür entschied, die ursprüngliche Version sogar zu verstärken, ist allerdings schlicht falsch: Tatsächlich lässt der Dirigent – ebenso wie Eötvös – nach Charons abschließenden Worten „Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück[…], fiebernd, sie umzustürzen“ im Orchester Henzes Revision von 1990 spielen, wo der Schlagzeug-Rhythmus des „Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh“-Protestrufs melodisch eindringlich umwölkt wird, letzteren zusätzlich noch vom Chor verbatim skandieren. Das steht so in keiner Partitur, sondern reflektiert anscheinend nur die Situation, dass Henze sich seinerzeit als Reaktion auf die gar nicht erst begonnene Uraufführung zusammen mit einigen Studenten auf dem Podium eben dazu hinreißen ließ. Musikalisch widersprüchlich: Die ursprüngliche Fassung enthält zwar nur besagten, reinen Schlagzeug-Rhythmus, wirkt jedoch insbesondere durch die – auch nicht notierte – Beschleunigung in Henzes eigener Einspielung brandgefährlich, wohingegen die revidierte Fassung fast als visionäre Apotheose aufgefasst werden könnte. Beides zugleich ist eher Murks.

Waren schon die Leistungen der Chöre in der SWR-Aufnahme grandios, legen in der Wiener Aufführung der Arnold Schoenberg Chor – unter der erprobten Einstudierung Erwin Ortners – und die Wiener Sängerknaben noch eins drauf. Präzision und Ausdrucksstärke gehen hier derart Hand in Hand, dass man nur andächtig staunen kann. Die Qualitäten der Orchester lassen sich hingegen nicht gegeneinander ausspielen, beide Male absolut überzeugend. Meister wagt es allerdings, viele Details ganz unverfroren naturalistisch zu verstehen: Oft hört man bei seiner Darbietung etwa wirklich Klänge, die unmittelbar das Meer assoziieren usw. Also auch hier noch Hans Werner Henze auf den Spuren Richard Strauss‘? Diesen Vergleich hat der Komponist bekanntlich verabscheut…

Ungeachtet, wie die Rolle des Sprechers/Charons (Sven-Eric Bechtolf) live eingepegelt gewesen sein mag: In der Aufnahme gerät sie mir jedenfalls künstlich viel zu sehr in den Vordergrund. Bechtolf ist abgesehen davon o. k., kommt aber nicht wirklich an Peter Stein heran. Sarah Wegener als La Mort singt stimmlich ausgezeichnet, erscheint allerdings emotional blasser als Camilla Nylund. Dafür begeistert Dietrich Henschel in allen Belangen: Wärme, ergreifende Textausdeutung und intonatorische Treffsicherheit machen ihn zum bisher besten Jean-Charles auf Tonträgern. Dagegen wirkt Peter Schöne über Strecken fast zu artifiziell.

Muss man also eine der 2017er Aufnahmen klar vorziehen? Nein – aber Konkurrenz belebt nun hoffentlich auch für Henzes aufrüttelndes Oratorium das Geschäft. Mehr Dramatik, leichter Vorsprung für die Wiener Chöre und ein herausragender Dietrich Henschel bei Meister; mehr Analytik, stellenweise knackigere Tempi und ein beeindruckender Peter Stein bei Eötvös. Unter die Haut geht das in beiden Fällen und macht Cornelius Meisters Einspielung zumindest zu einer hochwertigen Alternative und unbedingt empfehlenswert.

Vergleichsaufnahmen: Camilla Nylund, Peter Schöne, Peter Stein, SWR Vokalensemble, WDR Rundfunkchor, Freiburger Domsingknaben, SWR Symphonieorchester, Peter Eötvös (SWR Classic SWR19082CD, 2017); Edda Moser, Dietrich Fischer-Dieskau, Charles Regnier, RIAS-Kammerchor, Chor & Orchester des NDR, Hans Werner Henze (Deutsche Grammophon 449 871-2, 1968)

[Martin Blaumeiser, 7. April 2024]

Mustergültiges Martin-Requiem mit Leif Segerstam

Capriccio C5454; EAN: 8 45221 05454 4

Vom immer noch stark unterschätzten Requiem des schweizerischen Komponisten Frank Martin gab es bislang lediglich zwei Aufnahmen aus Kirchen. Nun brachte Capriccio die immerhin schon 43 Jahre alte, musikalisch ganz vorzügliche Produktion des ORF mit Leif Segerstam aus dem Wiener Musikverein auf den Markt, gekoppelt mit Janáčeks ebenfalls selten zu hörendem „Vaterunser“.

Frank Martin (1890–1974), der gerne auch seine eigenen Werke dirigierte, gehörte bis zu seinem Tode durchaus zu den meistgespielten zeitgenössischen Komponisten in Europa. Leider teilt er mit etlichen anderen Kollegen das etwas unverständliche Schicksal, danach relativ schnell aus dem Fokus des öffentlichen Interesses geraten zu sein – trotz des ungemein hohen Niveaus seines Schaffens. Als einer der wenigen Komponisten vermochte er, noch aus der Tradition der Spätromantik und des Impressionismus kommend, ein relativ stabiles harmonisches Fundament mit teils zwölftönigen Techniken in Einklang zu bringen. Die expressive Kraft von Martins Musik kommt vor allem in seinen Vokalwerken zum Tragen. Das 1971/72 entstandene Requiem hat der Komponist 1973 noch selbst in Lausanne zur Uraufführung gebracht (der Mitschnitt ist auf Jecklin nach wie vor erhältlich). Martin schreibt zu seinem Alterswerk: „Was ich hier versucht habe auszudrücken, ist der klare Wille, den Tod anzunehmen, den Frieden mit ihm zu machen.“ Mit relativ sparsamen Mitteln – etwa nur 2-faches Holz – wird dennoch ein eindrucksvolles Bekenntnis von enormer Energie abgelegt, das sich mühelos mit den bedeutendsten, dabei doppelt so langen Requiem-Vertonungen messen lassen kann.

Über Strecken dominiert – sowohl bei den Solisten wie im Chor – eine monodische Behandlung des Gesanges mit deutlichster Textverständlichkeit und empathischer Ausdeutung: Man höre nur den Beginn des Dies irae, wo nach dem bedrohlichen Einschleichen eines unheimlichen Schauders, der offensichtlich nicht von dieser Welt stammen soll (Schlagwerk plus Glissandi in Posaunen und Streichern), der Chor zunächst nur sprechend den „Tag des Zorns“ artikuliert; erst ab dem Tuba mirum bricht der Schrecken so richtig los. Dass Martin ebenfalls kontrapunktische Komplexität virtuos beherrscht, zeigt er uns im Kyrie. Ungewöhnlich, wie das abschließende Lux aeterna durchgehend im Fortissimo gehalten wird: alles in allem ein höchst persönliches Meisterwerk.

Die CD ist sicher als Hommage an den ehemaligen Chefdirigenten (1975–1982) des ORF Radio-Symphonieorchesters, Leif Segerstam, gedacht – dessen immer berstend zupackendes Musizieren sich auch hier wieder direkt auf die Zuhörer überträgt. Seine Solisten sind ausgezeichnet, neben der belgischen Altistin Ria Bollen, die schon bei der Uraufführung dabei war, vor allem ein stimmlich überzeugender Claes H. Ahnsjö und ein kraftvoller Robert Holl. Lediglich Jane Marsh neigt in der Höhe ein wenig zur Schärfe. Der Wiener Jeunesse Chor ist hochpräzise, aber letztlich zurückhaltender als die Kräfte aus Lausanne, die sich teils die Seele aus dem Leib zu singen scheinen. Die sorgfältig ausgearbeiteten Details erscheinen bei Segerstam und seinem Orchester mustergültig, was natürlich so nur im Konzertsaal gelingen mag. Deswegen ist für das Stück die neue CD ab jetzt musikalisch erste Wahl. Interessant, dass sich die Dirigenten aller drei nun verfügbaren Einspielungen bei der Tempowahl sehr einig sind und sich ziemlich exakt an die Vorgaben der Partitur halten. Aufnahmetechnisch übertrifft der Wiener Mitschnitt zwar nicht die für eine Kirche erstklassige Leistung von Jecklin aus der Kathedrale in Lausanne, ist jedoch um Klassen besser als einige leider – nur technisch! – recht misslungene Dokumente mit Segerstam von den Salzburger Festspielen. Klanglich bleibt für das Martin-Requiem allerdings die digitale Aufnahme aus der Kirche St. Georg, Stein am Rhein, unter Klaus Knall der Geheimtipp.

Leoš Janáčeks Vaterunser (Otčenáš) für Tenor, Chor, Orgel und Harfe von 1901/06 vertont nicht etwa das komplette Gebet, sondern bezieht sich auf fünf Gemälde des Polen Józef Męcina-Krzesz, die für eine Benefiz-Veranstaltung als „lebende Bilder“ umgesetzt wurden. Für Stammgäste der Wiener Staatsoper vielleicht nichts Neues – jedoch kennt man den Tenor Heinz Zednik auf Operngesamtaufnahmen fast ausschließlich im Charakterfach. Wie herrlich lyrisch er seine Stimme auch einsetzen konnte, beweist er hier (1987) geradezu exemplarisch. Allein deshalb sollte man diese gelungene Darbietung nicht missen.

Vergleichsaufnahmen (Martin): Capella Cantorum Konstanz, Collegium Vocale Zürich, Musicuria, Bläserensemble der Basel Sinfonietta – Klaus Knall (MGB CD 6183, 1999); Union Chorale et chœur de dames de Lausanne, Groupe vocal «Ars Laeta», Orchestre da la Suisse Romande – Frank Martin (Jecklin-Disco JD 631-2, 1973)

[Martin Blaumeiser, Juni 2022]

Erhabenheit, Grausamkeit und Transzendenz

Capriccio, C5423; EAN: 8 45221 05423 0

Mit der Veröffentlichung einer Rundfunkproduktion aus dem Jahr 1995 ist Egon Wellesz‘ Oper und Ballet verknüpfendes „kultisches Drama“ Die Opferung des Gefangenen nun erstmals auf CD zu hören. Unter der Stabführung Friedrich Cerhas wurde ein verdrängtes Meisterwerk wieder zum Klingen gebracht.

Viereinhalb Jahrzehnte nach seinem Tod ist Egon Wellesz vor allem als bedeutender Symphoniker bekannt, erschienen doch in den letzten zwei Jahrzehnten zahlreiche seiner Orchesterwerke auf CD, darunter sämtliche neun Symphonien. Sosehr es bereits angesichts dieser Werke berechtigt erscheint, Wellesz den großen österreichischen Komponisten des 20. Jahrhunderts zuzuzählen, sollte darüber nicht vergessen werden, dass er alle seine Symphonien zu einer Zeit komponierte, als er gar nicht mehr in Österreich lebte. Als er 1945, fast 60-jährig, mit der Arbeit an seiner Ersten begann, befand er sich schon sieben Jahre lang im englischen Exil. Es ist müßig zu fragen, wie sich Wellesz‘ Schaffen entwickelt hätte, wäre er nicht von den Nationalsozialisten vertrieben worden. In jedem Falle aber steht fest: Bis 1933 (in Deutschland) bzw. 1938 (in Österreich) war er einer der erfolgreichsten Bühnenkomponisten deutscher Sprache. Das auf der vorliegenden CD präsentierte Werk lässt verstehen, warum dies so war.

Die Opferung des Gefangenen vollendete Wellesz 1925, wenige Tage vor seinem 40. Geburtstag. Er bezeichnete das einaktige, knapp einstündige Werk als „kultisches Drama“, damit dem Umstand Rechnung tragend, dass es sich nicht ohne Weiteres einer musiktheatralischen Gattung zurechnen lässt: „Tanz, Sologesang und Chöre“ (so die Gewichtung der Akteure auf dem Titelblatt) wirken untrennbar miteinander zusammen, um die Handlung voranzubringen. Diese basiert auf Eduard Stuckens Übertragung eines alten Maya-Schauspiels, das Charles Etiénne Brasseur de Bourbourg 1856 in Guatemala aufgezeichnet hatte: Siegreiche Krieger führen Gefangene in den Palast ihres Königs, darunter einen Prinzen, der als Menschenopfer ausersehen ist. Sich in sein Schicksal ergebend, fordert er den König stolz auf, ihm Früchte und Tränke, dann kostbare Gewänder zu reichen, und tanzt mit den Sklaven und Sklavinnen, die ihm diese bringen. Er verlangt danach, mit der Tochter des Königs und anschließend mit dessen Kriegern zu tanzen, bevor er mit einem letzten Tanz Abschied von der Welt nimmt und sich opfern lässt. Diesen ritualisierten Verlauf charakterisierte Wellesz als „unentrinnbaren Mechanismus“. Gerade dass der Ausgang von vornherein feststeht, ohne dass sich die Möglichkeit bietet zu einem anderen Ende zu gelangen, dürfte den versierten Musikdramatiker, der als Historiker auch ein intimer Kenner der Operngeschichte war, gereizt haben. Die Figuren nehmen sich selbst als Teil eines Kosmos wahr, dessen Regeln feststehen. Das Leben, so sehr es gefeiert und genossen wird, wird nicht vom Tode losgelöst betrachtet. Widerspruchslos nimmt jeder seine Rolle darin ein und führt sie mit Würde zu Ende. Der Prinz weiß, dass er in der Rolle des Opfers seinen Bezwingern als gottgeweihtes Wesen gilt und nimmt daraus den Mut zu seinen Forderungen. An den siegreichen Kriegern bemerkt man, wie sich ihre Leidenschaften mäßigen: Verhöhnen sie den Gefangenen zu Beginn, und brausen noch auf, als er den Tanz mit der Königstochter fordert, verharren sie vor der Opferung in Ehrfurcht vor ihm und preisen ihn nach seinem Tod mit einem sakralen Hymnus. Der Komponist sah sich vor der Aufgabe, einer Mischung aus Erhabenheit, Grausamkeit und Transzendenz die adäquate dramatische und musikalische Form zu geben.

Wellesz versucht gar nicht erst, daraus ein traditionelles Drama zu machen, stattdessen spitzt er die Ritualisierung weiter zu. Natürlich werden auch aufführungspraktische Erwägungen eine Rolle bei der Entscheidung gespielt haben, die Handlung zwischen Sängern und Tänzern aufzuteilen, doch angesichts der Vorlage erscheint dieser Schritt geradezu als die geniale Konsequenz, durch die genau der richtige Grad an Stilisierung erreicht wird, den das Stück zu seiner Umgestaltung in ein Musiktheaterwerk noch nötig hatte. Der Prinz wird somit zu einer reinen Tanzrolle. Bei seinem ersten Auftritt und vor der Opferung lässt er seinen Schildträger für sich sprechen, zwischen den Tanzszenen übernimmt dies der Chor der gefangenen Krieger. Auch der König bleibt stumm und ordnet lediglich mit seinen Bewegungen das Geschehen auf der Bühne. An seiner Statt spricht der Älteste des Rates. Als dritte Gesangsrolle gestaltet Wellesz den Feldherrn des Königs. Die wiederholt zu hörenden Einleitungsformeln und Ehrfurchtsbekundungen der Sänger („So lautet die Rede des Prinzen“, „Der Himmel und die Erde seien mit dir“) tragen ebenso zum Eindruck archaischer Strenge bei wie die beständig durchgehaltene Wechselrede der Figuren.

Die musikalische Gestaltung des Stückes ist ein Triumph des Symphonikers Egon Wellesz – und das 20 Jahre bevor er seine Erste Symphonie komponierte! Die Unerbittlichkeit, mit der die Handlung voranschreitet, zeichnet auch die Musik aus. Wellesz beginnt sofort in lebhaftem Tempo und baut parallel zum Einzug der Krieger mit rastlosen Bassläufen und einem markanten Fanfarenthema eine enorme Spannung auf, die noch während der rezitativisch gestalteten Auftrittsreden der drei Solisten nachwirkt. Nirgends versiegt der kräftig strömende musikalische Fluss, führt durch grandios gesteigerte Chöre ebenso wie durch beinahe kammermusikalische Momente, in denen die Sänger schweigen und sich das Orchester auf wenige Instrumente reduziert, und verknüpft die kontrastierenden Einzelszenen miteinander zur höheren Einheit. Wenn der Schlusschor die Musik der Einleitung wieder aufgreift, ist ein Kreis durchschritten, eine Entwicklung zu ihrem krönenden Abschluss gebracht. So eindrucksvoll und musikalisch zwingend dieser Schluss ist: Die eigentliche Klimax des Werkes findet sich unmittelbar vor der Opferung. Zum einzigen Mal im Stück ist hier ein Duett zu hören, zum einzigen Mal singen solistische Frauenstimmen. Ihr wortloses Klagen hinter der Szene durchbricht die martialische Atmosphäre und stellt einmal kurzzeitig die Ordnung in Frage, der sich alle Figuren des kultischen Dramas ohne Wenn und Aber fügen.

Wellesz war nicht nur Schüler Arnold Schönbergs, sondern auch der Autor der ersten Schönberg-Monographie. Schönbergs Beispiel dürfte ihn dazu ermutigt haben, nicht vor der Anwendung schärfster Dissonanzen zurückzuschrecken, doch zeigt sich bei Wellesz‘ schon frühzeitig, dass er sich gegenüber seinem Lehrer die künstlerische Unabhängigkeit bewahrt hat. So lässt sich Die Opferung des Gefangenen stilistisch kaum mit einem Werk Schönbergs vergleichen. Nicht nur Wellesz‘ Sicherheit im Aufbau rascher Tempi und seine Vorliebe für klar gegliederte Formen zeigt, dass seine Ästhetik nicht mehr die des „Fin de Siècle“ ist. Auch in der Harmonik ist der Wille zur Klassizität deutlich zu erkennen. Mit den Worten seines Generationsgenossen Heinz Tiessen lässt sich sagen, dass es Wellesz darum geht, „auch die atonalsten Tonverbindungen als entferntere Ausstrahlungen“ des auf die Naturtöne gegründeten Tonsystems „restlos erfassbar werden“ zu lassen. Die kadenzgebundene Dur-Moll-Harmonik und die freie Dissonanzbildung des frühen Schönberg schließen für ihn einander nicht aus. Die Opferung des Gefangenen kann man durchaus als ein Musterbeispiel dafür anführen, wie gut beides in den Händen eines Meisters, der Musik als Kunst der Synthese denkt, zusammenwirken kann.

Wie Wellesz‘ übrige Opern und Ballette verschwand auch die Opferung nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten von den Spielplänen. Friedrich Cerha ist es zu danken, dass das Stück nach über 60 Jahren wenigstens eine konzertante Aufführung erlebte. Unter seiner Leitung entstand 1995 die nun von Capriccio veröffentlichte Aufnahme mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien und dem Wiener Konzertchor, in der als Solisten Wolfgang Koch (Feldherr), Robert Brooks (Schildträger), Ivan Urbas (Ältester), sowie Hoe-Seung Hwang und Patricia Dewey (Vokalisen) zu hören sind. Sie ist ein starkes Plädoyer für dieses Werk, das es verdient hätte, dem Repertoire der Bühnen zurückgewonnen zu werden.

[Norbert Florian Schuck, November 2020]

Opernhafte Orchestermusik

cpo 777 962-2; EAN: 7 61203 79622 9

Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien spielt unter Leitung seines Chefdirigenten Cornelius Meister Orchesterwerke Alexander von Zemlinskys. Zu hören sind die Fantasie „Die Seejungfrau“ nach einem Märchen von Hans Christian Andersen sowie Vor- und Zwischenspiel aus der Oper „Es war einmal“.

Irgendwo zwischen Mahler und Schönberg findet sich ein Komponist, der im Schatten der Genannten blieb, aber gerade in den letzten Jahren doch vermehrt Aufmerksamkeit erhielt: Alexander von Zemlinsky. Mit Mahler verbanden den Tonsetzer eine langjährige Freundschaft, gegenseitige Werkaufführungen und tonsprachliche Gemeinsamkeiten; Schönberg war Zemlinskys Schüler, der auf seinem Weg Richtung Befreiung der Tonalität eine Zeit lang seinen Lehrer sogar mitriss (vergleiche das zweite Streichquartett Zemlinskys mit dem Quartett op. 7 Schönbergs – und, wenngleich räumlich entfernt, mit dem zweiten Quartett op. 31 von Josef Suk), bis es zum Bruch kam, da Zemlinsky sich weigerte, dem Schritt in die Dodekaphonie zu folgen.

Auf vorliegender CD sind zwei eher frühe Werke zu hören, die Seejungfrau von 1902/3 und zwei Orchesterstücke aus der Oper „Es war einmal“ von 1897/8, beide noch deutlich unter dem Einfluss Gustav Mahlers stehend. Die Seejungfrau hat ausschweifende Länge, überdehnt die Form geradezu, während Vor- und Zwischenspiel aus „Es war einmal“ vor allem Interludiumscharakter haben. Zemlinskys Musik besitzt etwas Schwärmerisches und Verträumtes – noch vor Komposition des Traumgörge -, damit aber auch etwas Oberflächliches und Klischeehaftes, der vernehmbare „Weltschmerz“ wirkt artifiziell und geradezu genießerisch ausgekostet. Das Opernhafte ist charakteristisch für Zemlinsky, auch in seinen rein orchestralen Werken, was ihn beim Versuch einer Kategorisierung beinahe als eine Art Opern-Mahler erscheinen lässt.

Das ORF Radio-Symphonieorchester unter Cornelius Meister geht sensibel auf die träumerische Klangwelt Zemlinskys ein, bleibt dicht und doch durchhörbar, nicht zu direkt, sondern schattenhaft verschleiert. Die Melodien erklingen sanglich und erspürt, die Höhepunkte werden vorbereitet, es wird flüssig in die retardierenden Momente übergeleitet. Diese Musik eine echte seelische Tiefe offenbaren zu lassen, ist eine kaum bewältigende Aufgabe und würde erfordern, eine Vielzahl an musikalischen Gefälligkeiten ungenutzt verstreichen zu lassen, den Fokus auf korrelierende Form und Nuancen der Harmonisierung zu verlagern, und so ist das formale Bewusstsein auch hier eher lokal begrenzt. Dafür besticht allerdings das ewig Fließende und den Moment Genießende, die Musik dankt das Zuhören mit schwelgenden Höhenflügen zwischen Hochstimmung und Melancholie.

[Oliver Fraenzke, August 2017]