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Gleich zwei Weltklasse-Klangkörper beim „räsonanz“ Stifterkonzert der musica viva

Dieter Ammann, Jonathan Nott, OSR – © Astrid Ackermann für musica viva/BR

Das räsonanz Stifterkonzert der Ernst von Siemens Musikstiftung fand dieses Jahr wieder im Rahmen der musica viva des BR im Münchner Prinzregententheater statt. Wohl zum ersten Mal überhaupt gastierte am Donnerstag, 29. September 2022, das Genfer Orchestre de la Suisse Romande unter seinem Chef Jonathan Nott in München. Dazu gesellte sich für die Uraufführung von Rebecca Saunders‘ „Wound“ noch ein zwölfköpfiges Solistenensemble aus Mitgliedern und Gästen des Pariser Ensemble Intercontemporain. Außerdem erklangen Pierre Boulez‘ „Messagesquisse“ mit dem Solocellisten Léonard Frey-Maibach sowie die beiden Orchesterwerke „Boost“ und „Glut“ des Schweizers Dieter Ammann, der dieses Jahr seinen 60. Geburtstag feierte.

Die räsonanz Stifterkonzerte der Ernst von Siemens Musikstiftung erfreuen ja seit einigen Jahren einerseits mit ihrer Vorgabe, gerade besonders aufwändige, bereits nach ihren Uraufführungen hochgerühmte Orchesterwerke in Perfektion erneut zur Diskussion zu stellen. Daneben bringen sie im Rahmen der musica viva auswärtige Klangkörper nach München, die hier sonst eher selten bzw. gar nicht zu hören sind – etwa 2019 das London Symphony Orchestra unter Simon Rattle. Kaum zu glauben, dass das 1918 vom legendären Ernest Ansermet gegründete Orchestre de la Suisse Romande mit immerhin 112 festen Mitgliedern zum allerersten Mal in München zu Gast ist. Unter seinem nun auf Lebenszeit gewählten, britischen Chefdirigenten Jonathan Nott durfte man auf ein äußerst anspruchsvolles Programm gespannt sein.

Die nun in Berlin lebende Britin Rebecca Saunders (* 1967) erhielt 2019 den Hauptpreis der EvS Musikstiftung. Dem Rezensenten war schon Anfang der 2000er Jahre ihr besonderes Händchen für mittlere Kammermusik- bzw. Ensemblebesetzungen aufgefallen. Nun führt Saunders mit dem großangelegten, 38-minütigen Stück „Wound“ für Soloensemble und Orchester diese spezielle Begabung mit ihrer stetig gewachsenen Erfahrung mit vollem Orchester zusammen. Tatsächlich könnte man das Werk als Konzert bezeichnen, bei dem 12 Solisten – des von Boulez gegründeten Ensemble Intercontemporain – als Einheit und das Genfer Orchester sich unentwegt die Bälle zuwerfen. Mit anfangs sehr dunklen Klangfarben entwickelt sich schnell ein andauerndes, energetisches Spiel zunächst recht kleiner, aggressiver Wellenbewegungen in unterschiedlichsten, aber immer interessanten Klangmischungen. Dabei fungiert etwa das Akkordeon (im „großen“ Orchester) als Ersatz für elektronische Quellen. Überraschend, dass diese Kleinteiligkeit auf Dauer keineswegs langweilt und trotz nicht überschaubaren Formverlaufs recht organisch zu gewaltigen Steigerungen führt.

Mit Jonathan Nott hat das Orchestre de la Suisse Romande nun offenkundig einen Chef gefunden, mit dem sich eine ganz erstaunliche Symbiose zu ergeben scheint. Wer Notts Anfänge kennt, wird anerkennen müssen, wie stark sich der Dirigent nicht nur in seiner äußerst präzisen Zeichengebung weiterentwickelt hat. Man kann nur darüber staunen, wie ihm seine Musiker insbesondere die immer aktive Nachzeichnung der komplexen, auch heftigen Dynamik – gerade bei Saunders – sozusagen aus der Hand fressen. Jedoch seine größte Leistung ist, den weitgespannten Bogen, die musikalische Entwicklung, ohne den nötigen Blick aufs Detail zu vernachlässigen, in Spannung zu halten. Ohne hier über bildhafte Allusionen wie Hineingreifen oder Aufreißen im Kontext von Wunde zu spekulieren: Die Musik wirkt so wie ständig wechselnder Lichteinfall aus verschiedenen Perspektiven. Saunders ist mit Wound jedenfalls ihr bisher beeindruckendstes Orchesterwerk gelungen – gewaltiger Applaus für eine Weltklasse-Uraufführung.

Nach der Pause steht, zwischen zwei Werken des in Deutschland noch nicht genügend beachteten Schweizers Dieter Ammann, Pierre Boulez‘ Messagesquisse (1977) für Violoncello solo – hervorragend: Léonard Frey-Maibach – und 6 Celli (hier aus beiden Ensembles) auf dem Programm. Nur bei den schnellen, dichten Abschnitten greift Nott hier unterstützend ein. Der Kammermusik-Klassiker ist nicht oft zu hören, sorgt dafür stets für Jubel, wie natürlich auch bei dieser Aufführung. Dieter Ammann kam relativ spät auf die klassische Schiene, und man merkt seiner Musik durchaus die Jazz- und Improvisationserfahrungen an. An seinen Stücken für großes Orchester tüftelt er teils jahrelang; die Ergebnisse sind dann allerdings in jeder Hinsicht faszinierend. Zuletzt hatte Ammann mit einem wirklich bahnbrechenden Klavierkonzert (Gran Toccata, 2019) bewiesen, auf welchem Niveau er sich mittlerweile bewegt, und das Stück geht hoffentlich weiter seinen Siegeszug um die Welt.

Als sie aus der Taufe gehoben wurden, hatten Boost (2001) und Glut (2016) ebenfalls sogleich für Furore gesorgt: Völlig zu Recht, wie die grandiose Darbietung heute erneut zeigt. Stimmige Farbigkeit mit einem bis ins Detail ausgearbeitetem Klangspektrum – dessen oft überbordende Schönheit in der Tat nicht zuletzt auf Ammanns perfektem Umgang mit den Erkenntnissen der französischen Spektralisten beruht – sowie enorme, dabei emotional immer nachvollziehbare Kontraste auf engstem Raum sind ein echtes Festmahl für ein an neuer Musik interessiertes Auditorium wie auch für das Orchestre de la Suisse Romande. Die Souveränität und die offensichtliche Begeisterung der Musiker übertragen sich so unmittelbar auf das Publikum. Nott – der Boost bereits uraufgeführt hatte – geht an den rhythmisch besonders exaltierten Stellen fast tänzerisch mit, zelebriert Ammanns mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks erstellte, wirklich schwierige Partituren mit Inbrunst. Am Schluss des Konzertes gibt es kein Halten mehr, und man muss der EvS Musikstiftung für das mehr als überfällige Gastspiel dieses Spitzenorchesters seinen Dank aussprechen.

[Martin Blaumeiser, 30. September 2022]

Französische Spezialitäten, nivelliert auf hohem instrumentalen Niveau

Albert Roussel: Bacchus et Ariane-Suiten op. 43 Nr. 1 & 2; Claude Debussy/orchestr. Ernest Ansermet: Six Épigraphes antiques; Francis Poulenc: Les Biches-Suite
Orchestre de la Suisse Romande, Kazuki Yamada
Pentatone SACD PTC 5186558 (EAN: 827949055867)

Ein grandioses französisches Programm mit einem der Traditionsorchester, die sich seit jeher dafür zuständig sehen, auf einem Label, das für herausragende Klangqualität bekannt ist: Da ist die Vorfreude groß.

Das Genfer Orchestre de la Suisse Romande, einst unter seinem legendären Leiter Ernest Ansermet für Decca zuständig für Strawinsky-Aufnahmen und vieles andere, tritt mit seinem mittlerweile weltweit erfolgreichen japanischen, 1979 in Kanagawa geborenen Gastdirigenten Kazuki Yamada an, um eher selten, jedenfalls in Konzerten hierzulande kaum je zu hörende Meisterwerke französischer Musik der klassischen Moderne darzubieten. Roussels Suiten aus seinem erfolgreichen Ballett ‚Bacchus et Ariane’ gehören zum bekanntesten von diesem auch in seiner Heimat sträflich vernachlässigten Großmeister. André Cluytens, Charles Münch, Georges Prêtre, Charles Dutoit gehören zu den Dirigenten, die diese herrlich üppige und zugleich so charakteristisch querständige, eigenwillige Musik auch immer wieder im Konzertsaal präsentierten, und die Referenz dürfte bis heute Cluytens (für EMI, heute Warner Classics) zuzuschreiben sein, auch wenn bei ihm wie bei den anderen das Harsche, Ruppige dieser für französische Verhältnisse sehr bodenständig kraftvollen Musik besser umgesetzt, als das gleichfalls vorhandene zart Verästelte, klanglich fein Abzustimmende. Roussel ist auf jeden Fall der nächste Meister seiner Generation, gleich nach Debussy und Roussel, und allenfalls Paul Dukas und Florent Schmitt können ihm gleichwertig zur Seite gestellt werden. Unter diesen ist er jedenfalls in seinem reifen Schaffen der Unverwechselbarste. Sehr schade, dass ein Celibidache, der das besser konnte als irgendein anderer, von Roussel nur die Petite Suite und die Suite en fa (beide mit den Münchner Philharmonikern, bei Warner Classics) sowie die Dritte Symphonie (mit dem Orchestre National de France, beim japanischen Label Altus, nur Export) aufs Programm setzte.

Technisch spielt das Orchestre de la Suisse Romande unter Yamada vorzüglich, allerdings ohne besondere Finesse, es ist einfach nur tadellos solide, aber wo bleibt von Seiten des Dirigenten die Feinabstimmung der Akkorde, das Ausschöpfen der orchestral mischenden Farbpalette, das für die organische Verbidnung so unentbehrliche subtile Rubato? Nein, über korrekt – und vorzüglich aufgenommen – geht das nicht hinaus. Was natürlich in den späten Six Épigraphes antiques von Debussy, in der nicht genialen, aber sehr gekonnten Orchestration Ansermets, mit ihrer heikleren Faktur noch deutlicher zu spüren ist. In dieser Musik ist so viel mehr drin, als hier rauskommt, und das kann die beste Tontechnik nicht kompensieren! Am ehesten gelingt der frivole Schwung von Francis Poulencs neoklassizistisch unterhaltender Ballett-Suite ‚Les Biches’, wenn auch hier alles Hintergründige, Verfeinertere fehlt, und gewiss kein Sinn für den größeren Zusammenhang – der eben einer gewissen weitschauenden Bündelung der Energien von Seiten Yamadas bedürfte – zu finden ist. Fazit: toll zusammengestellt, exzellent aufgenommen, technisch tadellos und musikalisch mit Powerplay, aber relativ nichtssagend umgesetzt. Übrigens war auch schon Ansermet, wenngleich viel mehr auf die Aussage individueller Details bedacht, kein großer Klangalchimist und auch kein Meister durchgehend tragfähiger Spannungsentwicklung, sondern stets immer recht schulmeisterlich… Aber heute sollten wir doch eine gewisse Entwicklung erhoffen dürfen, auch wenn das kaum vorkommt, und vorliegende Einspielung durchaus auf der Höhe der Zeit ist.

Zum nicht sehr tiefgehenden Booklettext sei erwähnt, dass der Autor, der offenkundig erstmals mit der Musik Roussels zu tun hatte, fälschlich behauptet, Vincent d’Indy sei ein Schüler Roussels gewesen – es war natürlich umgekehrt. So etwas kann passieren, wenn man sich bei Wikipedia in der Eile verliest, doch dass auch die Übersetzer und die Redaktion es nicht bemerken, ist schon bemerkenswert. Schauen wir mal, wer das dann wieder abschreibt…

[Annabelle Leskov, Oktober 2016]