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[Rezensionen im Vergleich:] Unorthodoxe musikalische Zeitreise

Lucy Jarnach spielt am 24. September 2016 um 20 Uhr
im Kleinen Konzertsaal im Gasteig: Schubert, Grieg, Jarnach, Greif

Wenn es in der Welt richtig zuginge, müssten alle Menschen einen ebensolchen Weltblick besitzen wie Bismarck, ein ebensolches Gehirn wie Kant, einen ebensolchen Humor wie Busch, ebenso zu leben verstehen wie Goethe und ebensolche Lieder singen können wie Schubert.  (Egon Friedell 1878-1938)

Und es ging in der Welt richtig zu an diesem Samstag-Abend im Kleinen Konzertsaal im Gasteig in München, als die Pianistin Lucy Jarnach sich an den Steinway-Flügel setzte und die ersten Akkorde der G-Dur-Klaviersonate D894 erklingen ließ. Denn was Egon Friedell uns in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit über Franz Schubert so hellsichtig beschreibt, das stimmt ja. Diese auch heute noch immer wieder überraschende und  berührende Sonate aus Schuberts letzten Schaffensjahren, sie ist und bleibt ein Mysterium – wenn der spielende Musiker sie so erlebbar werden lassen kann, wie uns das die junge Lucy Jarnach besonders eindrucksvoll vom ersten bis zum letzten Ton vorspielte, nein, besser, vorlebte, „vorsang“. Denn Schuberts himmlische Melodien und höchst überraschende Harmonien – seiner damaligen Zeit genau so voraus wie die seines hochverehrten Kollegen Beethoven, wenn auch von völlig anderen Ideen und Möglichkeiten geschöpft  – müssen erst einmal zusammenhängende Gestalt gewinnen und singen und klingen, wenn sie uns erreichen sollen. Mit aller geheimnisvollen Neuartigkeit, die auch heute, 250 Jahre später so in Bann schlagen kann, wie sie Lucy Jarnach mit verzaubernder Kantabilität und wohllautendstem Klang auf dem Steinway-Flügel hervorspielte. Drei langsame Sätze und ein schnellerer vierter, dann war der erste Teil des Abends in seiner Verzauberung vorüber. (Wieder einmal musste ich daran denken, dass Schubert viele Jahre lang nur ein abgespieltes Tafelklavier zur Verfügung stand, was würde der wohl heute für Ohren machen (können)!)

Der zweite Teil begann mit einer kurzen Erklärung der Pianistin zu Edvard Griegs Ballade g-moll op. 24 von 1878, einem Stück, was sehr vielen Zuhörern noch immer ziemlich unbekannt sein dürfte. Ein melancholisches, an ein norwegisches Volkslied angelehntes Thema wird im Lauf der Komposition in 14 Variationen abgewandelt: sowohl harmonisch als auch melodisch, in allen Klangregistern des Flügels.

Was mich an Griegs Klaviermusik schon immer fasziniert , ist seine weit in die Zukunft weisende Harmonik, eine Tonalität und Klanglichkeit, die teils sogar den Impressionismus eines Debussy schon vorweg zu nehmen scheint. Und auch bei den viel bekannteren Lyrischen Stücken ist für mich wieder und wieder erlebbar, dass Grieg eben nicht nur der leicht fassliche „Unterhaltungs-Komponist“ kleiner Formen war, sondern in vielen seiner Werke – wie das auch Lucy Jarnachs Spiel sehr überzeugend zum Ausdruck brachte – ein durchaus in der Entwicklung vorausschauender Künstler und Komponist war.

Im Anschluss daran folgte eine Sonatine über eine alte Volksweise, op. 33 (eigentlich ist es eine Komposition von Leonhard Lechner (1553-1606), die dem Stück zu Grunde liegt) von Philipp Jarnach, dem Großvater der Pianistin, der von 1892-1982 lebte und seine entscheidenden Impulse von Ferruccio Busoni (1866-1924) bekam. Diese Sonatine spielte Lucy Jarnach mitnichten aus einer verwandtschaftlichen Verehrung für ihren Großvater, sondern zeigte uns, was für ein wunderbares Stück Musik da unter ihren Händen zu uns sich entfaltete, durchaus tonal und melodiös, aber doch ein Stück zeitgenössische Musik aus dem 20. Jahrhundert.

Das letzte Stück des Abends des frühverstorbenen französischen Komponisten Olivier Greif – dürfte den allermeisten Konzertbesuchern sicher völlig unbekannt gewesen sein, wie die Musik dieses aberwitzigen Franzosen leider bei uns bis heute so gut wie gar nicht auftaucht. Er wurde 1950 als Sohn eines jüdisch-polnischen Neurochirungen  geboren, der die Gräuel in Auschwitz überlebte. Diese Tatsache beeinflusste die Musik seines Sohnes, der mit 9 Jahren anfing zu komponieren. Aus «Le Rêve du monde» (1993)

Spielte Lucy Jarnach den dritten Satz «Wagon plombé pour Auschwitz». Das Thema ist eine jiddische Melodie, die allerdings nach kurzer Zeit durch gewalttätige „Schüsse“ zerrissen wird, darstellend die Horrorszenen, denen die in den Viehwagons Eingesperrten dann in Auschwitz ausgesetzt waren. Das unfassbare Grauen so auf einem Klavier darstellen zu können, ist eigentlich unvorstellbar, trotzdem ist es dem Komponisten und auch der Pianistin gelungen, in diesem kompakten Stück all das auf sehr eindrückliche Weise den Zuhörern zu vermitteln.

Großer, verdienter Beifall für die Pianistin und ein Programm, das so sicherlich im ach so konservativen München – noch dazu zur Wiesn-Zeit – noch nie zu hören war.

Mit einer kurzen Zugabe (‚Fast zu ernst’ aus Schumanns op. 15, den „Kinderszenen“) entließ uns Lucy Jarnach in einen sehr nachdenklichen Abend.

(Auch die „Gräuel“ dieses Abends seien ganz am Rande erwähnt, also der vollendete Amateurismus des lokalen Veranstalters, der das Konzert miserabel beworben hatte und sowohl dem unterzeichnenden Kritiker eine Pressekarte als auch der Künstlerin Blumen verweigerte. Sein Mangel an Professionalität wurde jedenfalls mit einem fantastischen Auftritt belohnt.)
Oder, um mit Egon Friedell abzuschließen:
„Es gibt Menschen, die selbst für Vorurteile zu dumm sind.“

[Ulrich Hermann, September 2016]

[Rezensionen im Vergleich:] Beispielhafte Klanglichkeit mit Tiefenwirkung

Im Rahmen der Reihe »Winners & Masters« gab Lucy Jarnach am letzten Samstag (24.9. 2016) einen Klavierabend mit Werken von Schubert, Grieg, Jarnach und Greif und überzeugte durch hochdifferenzierte Klanglichkeit, die den an Fallstricken reichen Werken die nötige Tiefenschärfe verlieh.

So unprätentiös wie die Pianistin Lucy Jarnach die Bühne betritt, so wenig benötigt ihr Klavierspiel irgendwelche „Mätzchen“, um ein äußerst anspruchsvolles Programm mitreißend zu bewältigen. Einen Klavierabend mit Schuberts sperriger, großer G-Dur-Sonate (op.78, D. 894) zu beginnen, erfordert Mut und Konzentration. Bei allem Gefälligen, das bei Schubert streckenweise das Ohr des Zuhörers als Oberfläche umschmeichelt, ist die eigentliche Herausforderung, die vielen versteckten Untiefen, die uns der Komponist immer fast gleichzeitig unterjubelt und die oft in kleinsten Details stecken, klanglich deutlich herauszuarbeiten. Und zwar ohne dass die Formkonzepte – in diesem Falle der Sonate – in ihrem Fluss zu absichtlich gestört werden, was dann zudem die berüchtigten schubertschen „Längen“ in Einzelereignisse, auf die quasi mit dem Finger gezeigt wird, zerfasert. Am Tag zuvor hatte ich mir noch die 1987er Aufnahme von Alfred Brendel angehört (der von 2003 bis 2009 mit Lucy Jarnach arbeitete), und war überrascht davon, wie schwer ihm dies anscheinend ausgerechnet bei dieser Sonate gefallen ist. Hatte ich Brendel mit den drei letzten Sonaten (D. 958-960) mehrfach begeisternd im Konzert gehört, so irritierten mich bei der G-Dur-Sonate merkwürdige, allzu „demonstrative“ Rubati, unklare Akzente und eine nicht konsequent abgestufte Dynamik – bereits im wirklich langen Kopfsatz. Bei Lucy Jarnach ist nach der ersten Seite klar, dass sie Schubert völlig vertraut und allein durch ihre makellose Anschlagskultur und eine diskrete, aber vollkommen adäquate Pedalbehandlung auch die kleinsten Differenzierungen, nicht nur harmonischer Art, bewältigt. Sie überzeugt mit einem warmen, auch noch im Pianissimo homogenen Klang, der weder vulgär basslastig noch spitz in der Höhe ist, dort je nach Anforderung luzid oder brillant. Ihr Artikulationsspektrum reicht vom gesanglichen Legato bis zu trockenem, detailreichen Stakkato, ohne jemals zu verschmieren oder den melodischen Zusammenhang zu verlieren. Das erklingt alles so natürlich und dabei spannend, dass der Verzicht auf alle Wiederholungen, die die Partitur anzeigt, vielleicht nicht nötig gewesen wäre. Die ersten beiden Sätze werden hier zu staunenswerten Klangwundern. Im Menuetto scheint sich Jarnach anfangs ein so langsames Tempo zuzutrauen, dass man es richtig „auf drei“ hätte empfinden können. Das hält sie nicht wirklich durch; immerhin kann sie das Trio aber im gleichen Tempo nehmen – Brendel bremst im Trio und macht es dadurch in seiner Simplizität geradezu lächerlich. Auch die oft überraschende Dynamik versteht die Pianistin richtig. Beim Finale bringen sie einige kleinere Unsicherheiten beim Auswendigspiel dann leider etwas aus dem Konzept – aber insgesamt ist dies eine Schubert-Interpretation auf allerhöchstem Niveau.

Nach der Pause folgen drei höchst interessante Werke, denen allen jeweils ein Lied als Grundsubstanz dient – und die von der Künstlerin kurz anmoderiert werden, was wegen des fehlenden Programmhefts dankbar aufgenommen wird. Die leider viel zu wenig gespielte Ballade g-moll, op. 24 von Edvard Grieg – eigentlich ein Variationssatz – erfordert enorme Virtuosität, mehr als seine Sonate oder sogar das Klavierkonzert. War Komponieren als Therapie die Initialzündung für dieses Werk, kann man die Krise, in der sich der Komponist um 1875 befand, geradezu nachempfinden: Hier ist alles auf wackeligem Boden, gewagt, aber dabei unkonventionell und innovativ. Gegen Schluss gibt es eine wahnwitzige Steigerung ins Delirium bzw. Nirgendwo, die auf einer herausgemeißelten Es-Oktave als lang ausgehaltenem Vorhalt endet, bevor nochmals ganz verhalten das Thema wiederkehrt. Gerade bei solchen Kontrasten ist Lucy Jarnach in ihrem Element und kann deren Wirkung durch kluge Disposition des Vorausgehenden souverän aufs Publikum übertragen. In den auch rhythmisch schwierigen, schnellen Variationen gewahrt sie völlige Durchsichtigkeit.

Dass die Künstlerin eine ganz besondere Beziehung zum heute fast vergessenen kompositorischen Werk ihres Großvaters Philipp Jarnach hat, verwundert nicht. Die Sonatine über eine alte Volksweise, op. 33 erweist sich als höchst intelligente, keineswegs rückwärtsgewandte und pianistisch anspruchsvolle Komposition, mindestens auf dem Niveau etwa eines Paul Hindemith, die auch beim Publikum offensichtlich gut ankommt. Hier passt jedes Detail. Lucy Jarnach endet dann aber noch mit einem Schocker: In Deutschland immer noch völlig unterschätzt, hat der viel zu jung verstorbene französische Komponist Olivier Greif (1950-2000) ein beachtliches pianistisches Oeuvre hervorgebracht, darunter einige großformatige Sonaten. Man kann diese Musik getrost der musikalischen Postmoderne (eh‘ ein Passepartout-Begriff) zurechnen. Jedenfalls vertraut Greif noch der Tonalität, auch wenn er sie regelmäßig durchbricht – dann aber bedingt durch musikalischen Ausdruck, weniger durch kaltes Kalkül. Ein krasses Beispiel ist der Satz Wagon plombé pour Auschwitz aus der Sonate «Le rêve du monde» (1993). Die schrecklichen Assoziationen, die schon der Titel evoziert, werden hier musikalisch überzeugend mit recht einfachen Mitteln – wie man sie eigentlich schon aus dem Schluss des Trauermarsches von Beethovens Eroica kennt – zur gnadenlosen, apokalyptischen Gewissheit. Das ist aber eben nicht plump-plakativ, sondern absolut berührend. Lucy Jarnach scheut sich hier nicht vor extremen dynamischen Kontrasten, die nötig sind, um die Brutalität, mit der das zugrunde liegende Synagogenlied – und offensichtlich nicht nur das! – vernichtet wird, zwingend zu verdeutlichen. Ergriffenheit beim Publikum nach dieser Darbietung, die auch mit „Fast zu ernst“ aus Schumanns Kinderszenen als Zugabe nicht mehr zu relativieren ist. Dafür dann verdient großer Applaus.

Für derart beseeltes, klangschönes Klavierspiel und solch kluge und überraschende Programme jenseits ausgetretener Pfade sollte es im immer noch klavierverrückten München ein größeres Publikum geben, als in den Kleinen Konzertsaal im Gasteig passt. Sicherlich nicht nur mir wäre es eine echte Freude, diese junge Künstlerin auch hier noch öfters hören zu dürfen – vielleicht auch einmal mit einer kompletten Greif-Sonate?

[Martin Blaumeiser, September 2016]

Genie und Wahnsinn

Triton TRI331195, ISBN: 3 760229 161957

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Olivier Greif spielt live auf zwei CDs zwei seiner letzten Werke für Klavier Solo, „Les Plaisirs de Chérence“ und „Portraits et apparitions“. Zudem gibt er zu letzterem eine französischsprachige Einführung.

Zu kaum einem Komponisten und Pianisten zugleich passt die an sich viel zu häufig verwendete Phrase von „Genie und Wahnsinn“ so trefflich wie zu Olivier Greif. Der Stil des zu früh verstorbenen Musikers ist vollkommen frei von jeglichem Denken in Schubladen oder Schulen und absolut unverkennbar eigentümlich. Seine Inspirationen holt er sich aus der gesamten Musikgeschichte, auch jenseits geographischer Begrenzungen, neben Chorälen und Namen wie Beethoven oder Schumann finden sich auch Anleihen aus dem HipHop oder von Lou Reeds „Take a walk on the wild side“. Jedes seiner Werke ist dabei höchst komplex und vielschichtig, Greif beherrscht die kontrapunktische Überlagerung verschiedenster Motive und Rhythmen in überwältigender Weise und nutzt dabei die Möglichkeiten des Klaviers bis ins Letzte und auch ins Abgelegenste aus. Nicht selten sind seine Kompositionen auf mehr als zwei Systemen notiert und nutzen parallel sämtliche Register der Klaviatur vollständig aus. Harmonisch ist das Schaffen Greifs schier unergründbar, in voller Akkordik durchbricht er die Grenzen des tonalen Denkens und schafft sich somit vollkommen unergründete Klangsphären. Trotz dessen bleibt seine Basis das Denken in Grunddreiklängen, die jedoch durch Aufspaltung in große Lagen und Hinzunahme greller Dissonanzen verfremdet und in der Kombination neuartig erscheinen. Die Wiedererkennbarkeit der einzelnen Sätze liegt vor allem an der prägnanten Rhythmik, die diese als roter Faden durchzieht und zusammen mit wiederkehrenden Motiven trotz aller Fremdartigkeit der Musik im Gedächtnis bleiben. Als zentrales Erkennungsmerkmal der Musik Greifs ist jedoch noch zu nennen die geballte, explosive Gewalt, die jedem seiner großen Werke innewohnt und durch extreme Dynamik und wie erwähnt dissonant verschärfte Harmonik in weitgespreizten Lagen deutlich zum Ausdruck kommt. Die resultierende Wirkung ist phänomenal, die Musik hämmert sich sprichwörtlich in den Kopf der Zuhörer ein – wie hier auch sehr schön mit dem Albumcover eines jungen, erstarrten Kopfes mit vielfarbiger Schädeldecke – ein Bezug auf „Mein junges Leben hat ein End‘ – Portrait de l’artiste en jeune crâne“ –, dargestellt.

Beim Hören wird augenblicklich der Eindruck erweckt, Greifs Musik sei nur auf ihn selbst zugeschnitten und kein anderer könne es nur ansatzweise so spielen. Mit größter Passion und innerer Ergriffenheit passt er sich jedem Stückcharakter exakt an und bleibt doch immer er selbst – stetig in mitreißender Obsession, bei der sich kein Zuhörer unangesprochen fühlen kann. Sehr gewaltig und bewusst gewalttätig knallen die Akkorde in die Tastatur und er tobt über die Klaviatur, als wäre es ein Schlachtfeld; und plötzlich, ganz unvermittelt, bricht es ab und er scheint nur mehr zu flüstern, wenngleich mit unverminderter Intensität und Empfindung. Auch scheint es, als habe er die Stücke besser im Kopf, als sie je auf dem Notenblatt niedergeschrieben sein können. Vielmals fügt Greif neue Dynamikabstufungen und unvermittelte Akzente ein, wie sie so überhaupt nicht im Notentext zu finden sind. Auch mit dem Tempo agiert Greif vielerorts frei, doch immer in einem den Zusammenhang gewährleistenden Maße. Es ist wahrlich erstaunlich, wie exakt er all diese höchstkomplexen und unglaublich wilden Werke live darbietet. Jede einzelne Stimme ist einzeln ausgestaltet und gar die einzelnen Akkordtöne perfekt ausgewogen und aufeinander abgestimmt. Die Fehlerquote ist in Anbetracht dessen weniger als marginal, und auch wenn vielleicht einmal ein kaum vernehmliches Stocken auftreten sollte, so lässt einen die schwindelerregende Intensität, strahlende Kraft und alles überwindende Musikalität gar nicht dazu kommen, dessen gewahr zu werden. So gerät der Hörer immer wieder ins Staunen, wie mitreißend und effektgeladen doch ein derart scharfkantiger und heftiger Anschlag sein kann.

„Les Plaisirs de Chérence“ nannte Olivier Greif seine 1997 komponierte 22. Klaviersonate, die an sich eher eine fünfsätzige Suite denn eine Sonate ist, jedoch wie fast jeder Klavierzyklus seiner letzten Schaffensphase als Sonate betitelt ist. Die Sonate erhielt die Opuszahl 319, was den gewaltigen Werkumfang Greifs schauernd erahnen lässt. Wie fast immer betitelte Greif jeden seiner Sätze in individueller Weise, hier lauten sie: „Hallali de Gommecourt“, „Tombeau de Monsieur de Clachaloze“, „Égarements de La Roche-Guyon“, „Fantômes d’Haunte-Isle“ und „Le Carillon de Chérence“. Sehr eingängig ist vor allem der erste Satz durch seine pointierte Melodik, die durch stetig wechselnde Situationen den Satz durchzieht. Ziemlich amüsant ist die Grundidee des dritten Satzes, der den Rhythmus inklusive entsprechender Melodik von Lou Reeds „Take a Walk on the Wild Side“ als Grundmuster verwendet und freitonal ausarbeitet sowie kontrapunktisch mit fremden Motiven kombiniert. Die Aufnahme Greifs von 1998 zeigt ihn in gewohnt unergründlicher Stärke, Brillanz und packender Emotionalität.

Nach der Sonate befindet sich auf der ersten CD noch eine Präsentation über die ersten neun der „Portraits et apparitions“ vom Datum der Uraufführung am 31. Mai 1999. Bedauerlicherweise ist es für jemanden mit nicht überragenden Französischkenntnissen nur sehr schwer zu verstehen, und es liegt keine Übersetzung oder auch nur Zusammenfassung bei. Die Einführung ist sehr humorvoll gestaltet und Greif erzählt unter anderem über die Entstehungsgeschichte, darüber, dass er zuerst ein Stück für die Mutter und den Dackel einer Familie schrieb und dann beschloss, eine ganze Reihe von elf Stücken zu komponieren, welche ganz leicht sein sollen – was ihm allerdings nicht gelingt, und wo er sogar den Eindruck hat, dass, wenn er es spielt, der Komponist den Pianisten verflucht.

Diesen Eindruck erhält man sogar dann, wenn man es bloß anhört. Der über 60-minütige Zyklus aus elf Stücken ist durchzogen von technischen Höchstleistungen und maximalen strukturellen Schwierigkeiten, wobei die Musik immer unmittelbar ergreift und von unausweichlicher Ausrichtung bestimmt ist. Greif selber hat es vor seinem Tod drei Mal aufgenommen, wobei hier die letzte dieser Aufnahmen zu hören ist, wie der Booklettext von Brigitte François-Sappey erläutert. Die erste war die der Uraufführung, mit der zweiten war er nicht zufrieden, und die dritte und hier dokumentierte ist diejenige, die auch ihn selbst am meisten verzauberte – obgleich es nur zufällig von einem Freund mit nichtprofessioneller Ausrüstung spontan aufgenommen wurde, Flügel und Akustik suboptimal und gelegentliche Hintergrundgeräusche bemerkbar sind. Greif nannte den Zyklus den Höhepunkt seines Schaffens, auf welchen alle seine Werke zusteuerten. Was vorliegt, ist eine bunte Mischung aus verschieden langen Stücken, von denen bis auf das kürzeste Mittelstück „I mon waxe mod (Jouir: les larmes du corps)“ jedes einem seiner Freunde gewidmet ist. Immer wieder werden Werke der klassischen Literatur aufgegriffen, Choräle wie „Allein Gott in der Höh'“ und „Wir glauben all‘ an einen Gott“ werden Namen wie Beethoven, Schumann, Britten und Kurtág gegenübergestellt. Gerade die beiden Choräle verbindet Olivier Greif mit modernster Musik, und zwar HipHop und Rap. Den 63-minütigen Klaviermarathon meistert der Komponist in atemberaubender Genauigkeit und sowohl technischer als auch musikalischer Perfektion in höchstem Maße. Am Ende bleibt wohl keiner unberührt von der einmaligen, sowohl genialen als auch wahnsinnigen Musik von Olivier Greif.

[Oliver Fraenzke, August 2015]