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Eine Nacht in Estland

Ondine, ODE 1335-2; EAN: 0 761195 133521

Das Estnische Nationalsymphonieorchester unter Olari Elts spielt symphonische Dichtungen von Heino Eller. Auf dem Programm stehen Öö Hüüded (Nachtrufe), die symphonische Suite Valge Öö (Weiße Nacht) sowie Videvik (Dämmerung) und Koit (Morgendämmerung).

Heino Eller gehörte zu den Vätern estnischer Musik. Als junger Mann spielte er in Estlands erstem Symphonieorchester und dem ersten Streichquartett, später wirkte er als Pädagoge maßgeblich auf die jüngere Generation estnischer Komponisten ein, so auf Arvo Pärt, Eduard Tubin und Lepo Sumera. Guido Adler verlieh Eller bei einem Besuch aus Wien den Titel „Estnischer Sibelius“ und bescheinigte ihm, Griegs nordischen Stil erfolgreich weiterzuführen und ihn geschickt mit Elementen des Impressionismus und Expressionismus zu würzen. Wie auch Sibelius begann Eller als Violinist und ließ sich im namhaften Konservatorium von St. Petersburg ausbilden, wo er allerdings scheiterte, da er zu spät begann – durch zu intensives Üben verletzte er sich die Hand und musste seinen Traum aufgeben. Vier Jahre lang studierte er in Folge dessen Jura, bevor er sich erneut am Konservatorium einschrieb, diesmal für Komposition, worin er 1920 absolvierte.

Zu dieser Zeit hatte er seine beiden symphonischen Dichtungen Videvik, Dämmerung, (1917) und Koit, Morgendämmerung, (1918, orchestriert 1920) bereits abgeschlossen und begann mit der Arbeit an dem weitaus umfangreicheren Werk Öö Hüüded, Nachtrufe, (1920-21), alle auf dieser CD zu hören. Es offenbart sich ein tonal verwurzelter, farbenreicher und prägnanter Stil, der tatsächlich gewisse Parallelen zur Musik von Jean Sibelius aufweist, aber auch Hinweise auf die Beschäftigung mit den deutschen Komponisten gibt, namentlich Wagner und noch präsenter Strauss. Eller, der sich rein der Instrumentalmusik verschrieb (bemerkenswert besonders, da Estland für seine Vokalmusik bekannt ist), weist enorme Kenntnisse der Orchestration auf, die sich auf der Höhe kontinentaler Komponisten befindet. Weite Melodien prägen das Bild, versprühen eine nordische Melancholie und bittere Zärtlichkeit. Sanfte bis aufbrausende Wellen schäumen auf, geben magischen Glanz und impressionistischen Schleier. Der Stil spricht an, lockt, intensiv zu Hören und in der Musik zu entdecken, in ihr aufzugehen.

Gemeinsam mit dem Estnischen Nationalsymphonieorchester nahm Olari Elts bereits das Violinkonzert, die Zweite Symphonie, die Phantasie und eine Symphonische Legende von Eller auf, legt nun mit einer zweiten CD-Veröffentlichung nach. Dabei besticht das Feingefühl der Musiker, alle orchestrale Farben aufblühen zu lassen, ohne dass darunter die Transparenz des Stimmgeflechts leiden würde. Elts spornt die Musiker an, große Bögen zu ziehen und sanglich intensiv in den weiten Melodien aufzugehen. Frei von kontextlosem Effekt oder zurschaustellerischer Geste tauchen Orchester und Dirigent in diese Musik ein und präsentieren sie liebevoll dem Hörer wie eine Einladung, diese zu selten gespielten Werke mit ihnen zu teilen.

[Oliver Fraenzke, April 2020]

Im All

Ondine, ODE 1303-2; EAN: 0 761195 130322

 

Olari Elts dirigiert die Tapiola Sinfonietta in Werken des 1959 geborenen Esten Erkki-Sven Tüür. Solist in Illuminatio für Bratsche und Orchester von 2008 ist Lawrence Power, in Whistles and Whispers from Uluru für Blockflöten und Streichorchester von 2007 ist Genevieve Lacey zu hören. Als letztes spielt das Orchester noch Tüürs 2010 komponierte Achte Symphonie.

Erkki-Sven Tüür avancierte in den letzten Jahrzehnten zu einem der bedeutendsten Komponisten Estlands, steht mittlerweile neben Arvo Pärt als bekannteste Zeitgenosse des baltischen Staats da und genießt ähnliche Reputation wie die Järvi-Dynastie. Gründe für diese ansteigende Popularität gibt die Musik genug: Sie ist eigenwillig, unorthodox und wiedererkennbar, zugleich verständlich und auf eine bestimmte Weise eingängig. Innere Geschlossenheit und sinnfällige Form geben dem Hörer Halt, der Komponist bezeichnet seine Vorgehensweise in dieser Hinsicht als „vektorielles“ Komponieren. Klanglich darf es gerne auch etwas abgedreht, „spacig“, sein, ein Gefühl der Schwerelosigkeit stellt sich immer wieder ein. Tüürs Musik bewegt sich im All, hinreißende Klangbilder glühen auf und verglimmen auf der kontinuierlichen Reise durch farbenprächtige Musiklandschaften, der Hörer wird in eine fortwährende Faszination hineingezogen.

Illuminatio, „eine Pilgerreise hin zum ewigen Licht“, wie Tüür es bezeichnet, ist beispielhaft für angesprochene Merkmale dieser Musik, die omnipräsente Bratsche bewegt sich durch die galaktische Vielstimmigkeit hindurch und reflektiert das Erlebte, bis sie schließlich vom Orchester überrannt wird und nur noch in geisterhafter Ferne nachklingt. Whistles and Whispers from Uluru verlangt dem Blockflötisten alle nur erdenklichen Techniken ab, wodurch denn auch einmalige Effekte entstehen – bestechend ist vor allem der plötzliche Didgeridoo-Sound durch paralleles Spielen und Singen. Erweitert wird diese Klanglandschaft durch elektronische Einwürfe, die besonders mit Kopfhörern oder zu echtem Stereoklang fähigen Lautsprechern geradezu überirdisch erscheinen. Die Achte Symphonie wirkt beinahe kammermusikalisch und ist relativ klein besetzt, verdient aber durch Bedeutung und Gehalt ihren würdigen Platz inmitten der bislang neun gezählten Symphonien Tüürs.

Die Tapiola Sinfonietta unter Olari Elts bezaubert mit meditativer Ruhe und Empfänglichkeit für musikalische Phänomene. Die Musiker selbst sind ergriffen von der Musik, können allerdings abstrahieren, sich distanzieren und reflektieren, wodurch eben dieses Gefühl sich auch auf den Hörer überträgt. Unglaubliches leisten die beiden Solisten: Lawrence Power geht phänomenal auf das Orchester ein und reagiert augenblicklich auf dessen musikalische Impulse, bis es an ihm ist, die Führung zu übernehmen, von wo an ihm dann das Orchester folgt. Dies, was ein wahrhafter Solist können sollte, wird von Power eindrucksvoll demonstriert. Genevieve Lacey lässt nichts übrig vom Klischee der Schul-Blockflöte. In die höchsten Höhen schraubt sie sich auf den kleinsten Vertretern ihres Instruments, spielt zeitweise auch zwei Flöten zeitgleich, nichts ist ihr zu schwierig oder komplex. Dabei behält sie virtuose Leichtigkeit und inniges Gefühl, wandelt flexibel zwischen schlichtem Effekt und substanziellem Musizieren.

[Oliver Fraenzke, März 2018]