Wenn im Schlussteil der Dritten Symphonie Halvor Haugs plötzlich mittels Tonband ein Sprosser (die nordische Nachtigall) zu singen beginnt und sich die Hauptmotive des Werkes um diesen Gesang herum völlig zwanglos gruppieren, dabei zugleich die musikalische Entwicklung so schlüssig zum Ende führen, dass einzig dieser Ausklang für das Stück passend erscheint, dann merkt man als Hörer, dass man Zeuge eines Triumphs künstlerischer Originalität geworden ist, wie er nur einem Komponisten gelingt, dessen für die Welt und für seine innere Stimme gleichermaßen offenes Ohr ihn zu einer Persönlichkeit von ausgeprägter Eigenart hat werden lassen. Dass Haug für den Vogelruf nicht auf ein beliebiges Tondokument zurückgriff, sondern auf eine von ihm selbst gemeinsam mit dem Dirigenten Ole Kristian Ruud während einer Wanderung gemachte Aufzeichnung, verdeutlicht, welch große Bedeutung dem intensiven Erleben der Natur und ihrer elementaren Klangphänomene für seine kompositorische Arbeit zukommt. Eine seiner Tondichtungen setzt im Gewand des Streichorchesters dem Gesang der Tannen ein Denkmal, die vor seinem Arbeitszimmer standen, bis sie einem Bauprojekt zum Opfer fielen. In einer andern übersetzte er eine Winterlandschaft in Musik. Zu seinen Frühwerken, die ihn ab den 1970er Jahren bekannt machten, gehört eine der spannendsten Unternehmungen Die Stille hörbar werden zu lassen – ein veritables kleines Instrumentaldrama für Streichorchester. Von den Tagesmoden des Musikbetriebs unbeirrt, ist der 1952 geborene Norweger stets den Weg gegangen, der ihm als der richtige erschien. Er gehört zu jenen Komponisten, deren Schaffen eine Kategorie für sich bildet, an welchen alle Versuche, sie einer bestimmten „Schule“ oder „Stilrichtung“ zuzuordnen, scheitern müssen. Am 20. Februar wird Halvor Haug, einer der großen skandinavischen Tondichter unserer Zeit, 70 Jahre alt.
Halvor Haug wurde in Trondheim geboren und wuchs in Bærum nahe Oslo auf. In seiner Kindheit spielte Musik eine wichtige Rolle: Er erlernte frühzeitig das Klavier- und Trompetenspiel und gehörte insgesamt neun Jahre lang einem Bläserensemble an. Jedoch war das Musizieren damals nur eines von vielen Interessengebieten eines Jungen, der sich bevorzugt in der freien Natur aufhielt und viel Sport trieb. Mit 17 Jahren begann er, sich intensiver mit klassischer Musik auseinanderzusetzen, und nahm bald darauf ein Studium am Østlandets Musikkonservatorium in Oslo auf, wo sein Theorielehrer Kolbjørn Ofstad (1917–1996) sein Kompositionstalent erkannte und ihn ermutigte, seine ersten Klavierstücke für Orchester zu bearbeiten. 1973 ging Haug nach Helsinki und studierte ein Jahr lang an der Sibelius-Akademie bei Erik Bergman (1911–2006), einem der Pioniere des Modernismus in Finnland, und dem vor allem als Symphoniker bekannten Einar Englund (1916–1999), dem er gründliche Unterweisungen in russisch geprägter Orchestrierungstechnik verdankte. Nachdem er sein Studium in Oslo bei seinem früheren Lehrer Ofstad abgeschlossen hatte, schrieb er mit dem Symphonischen Bild 1975/76 sein erstes von ihm als vollgültig anerkanntes Werk. Das Stück erregte die Aufmerksamkeit der Dirigenten Okko Kamu und Per Dreier, die es in ihre Programme aufnahmen und dadurch dem jungen Komponisten zu ersten Erfolgen verhalfen. 1978 brach Haug zu einem einjährigen Aufenthalt nach London auf, den er vorrangig dazu nutzte, das reiche Konzertleben der Weltstadt auf sich wirken zu lassen. Während seiner Zeit in England war ihm der große Symphoniker und Streichquartettmeister Robert Simpson (1921–1997) ein anregender und verständnisvoller Mentor: „Er half mir, auf das zu vertrauen, was meine innere Stimme mir sagt: Was du fühlst, ist richtig für dich selbst.“
Nach Norwegen zurückgekehrt, arbeitete Haug zwei Jahre lang als Musikkritiker, lebte dann aber nur noch seinem kompositorischen Schaffen. Mit den orchestralen und kammermusikalischen Werken, die er während der 1980er Jahre komponierte, vor allem den ersten beiden Symphonien, etablierte er sich endgültig im norwegischen Konzertleben. Zum wichtigsten Förderer wurde ihm Ole Kristian Ruud, der von 1987 bis 1995 als Chefdirigent des Trondheimer Symphonie-Orchesters wirkte und mehrere Werke Haugs uraufführte. Als einer der meistbeachteten norwegischen Komponisten seiner Generation erhielt Haug zahlreiche Kompositionsaufträge, die teils mit wichtigen öffentlichen Anlässen verbunden waren. Seine letzten drei Symphonien schrieb er 1993 und 2002 für das Symphonie-Orchester Trondheim bzw. 2001 für die Osloer Philharmonie. Die „Symphonische Vision“ Insignia für Kammerorchester wurde 1994 zur Feier der Olympischen Winterspiele in Lillehammer komponiert. 1996 war er offizieller Komponist des Kammermusikfestivals Stavanger, auf welchem sein Zweites Streichquartett zur Uraufführung gelangte. Sein 1997 entstandener symphonischer Liederzyklus Glem aldri henne (Vergiss sie nie) war ein Auftragswerk seiner Geburtsstadt Trondheim im Vorfeld ihrer 1000-Jahr-Feier.
Leider sind seit 20 Jahren keine neuen Werke Halvor Haugs mehr in der Öffentlichkeit bekannt geworden. Die Vierte und Fünfte Symphonie, die kurz hintereinander 2002 zur Uraufführung gelangten, belegen, dass sich der 50-jährige Komponist auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft befand. Angesichts dessen kann man es nur bedauern, dass ihn der Ausbruch einer chronischen Erkrankung anscheinend dauerhaft an der Fortführung seiner schöpferischen Arbeit hindert. Haugs Werke sind in den letzten Jahren gerade in Deutschland auf besonderes Interesse gestoßen, und die noch nicht lange zurückliegende Veröffentlichung dreier bislang ungedruckter Kompositionen im Münchner Verlag Musikproduktion Höflich zeigt, dass der Komponist – dessen Musik hauptsächlich vom schwedischen Verlag Gehrmans herausgegeben wird – weiterhin die Verbreitung seiner Musik aufmerksam verfolgt.
Haugs Werkverzeichnis umfasst etwa 40 Kompositionen. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf symphonischer Musik, doch liegen aus seiner Feder auch eine Anzahl kammermusikalischer Werke vor. Für Singstimmen schrieb Haug nur wenig, und es erscheint charakteristisch, dass die menschliche Stimme bei ihm immer in einem symphonischen Kontext auftaucht: als Mezzosopransolo in dem Orchesterliederzyklus Glem aldri hemme, als Kinderchor in dem „Symphonischen Epos“ Menneskeverd og fred (Menschenwürde und Frieden), und als wortloser Doppelchor für Frauenstimmen in der Zweiten Symphonie.
Stilistisch ist Haug von Anfang an ein ganz eigener Kopf, was sich namentlich zeigt, wenn man seine Musik mit der seiner Lehrer vergleicht. Serielle Techniken, wie überhaupt die Idee eines vorgefertigten musikalischen Materials, wie sie für Erik Bergman zunehmend Bedeutung erlangten, haben für Haug nie eine Rolle gespielt. Auch blieb Einar Englunds klassizistisches Formideal ohne Einfluss auf ihn. Mit Robert Simpson teilt er dagegen die Aufbruchsstimmung ins Unbekannte, die der Anfang seiner Werke regelmäßig hervorruft – nicht ohne Grund trägt ein Orchesterwerk Haugs den Titel Il Preludio dell‘ ignoto – und die freie Formung mittels permanenter Verwandlung weniger motivischer Zellen, die keinerlei Vorhersehbarkeit der musikalischen Entwicklung, sehr wohl aber den Eindruck kräftiger Naturwüchsigkeit aufkommen lässt. Der deutlichste Unterschied zwischen beiden Komponisten liegt in ihrer Tempogestaltung. Während für Simpson gleichsam das Allegro der Normalzustand ist und die langsamen Abschnitte seiner Werke sehr oft einen vorbereitenden oder nachklingenden Charakter aufweisen, bewegt sich Haug bevorzugt in mäßigen und langsamen Tempi, die sich in besonderen Momenten zu rascherer Bewegung steigern. Sein untrügliches Gespür für tonale Bezüge sorgt dafür, dass die Spannung dabei nie verloren geht. Gern lässt er voneinander weit entfernte Harmonien unmittelbar aufeinandertreffen und führt dadurch dem musikalischen Geschehen neue Kraft zu.
Haug beschrieb seinen Schaffensprozess als „nicht bewusst auf intellektuelle Art, eher emotional. Schwierigkeiten, Gegensätze, Spannung trage ich in mir. Energie ist von zentraler Bedeutung.“ Zwar verliert er beim Komponieren nie den Anfang des Stückes aus den Augen, ebenso wenig den Höhepunkt, auf den dieser zustrebt, doch hat ihn der Schaffensprozess – Robert Simpsons Satz, dass Komponieren „kontrollierte Inprovisation“ sei, dürfte auch auf Haug vollkommen zutreffen – mitunter zu Lösungen geführt, die ihn selbst überraschten. So erkannte er erst nach weit fortgeschrittener Arbeit an der Dritten Symphonie die Integration des bereits erwähnten Nachtigallenrufs als bestmöglichen Schluss des Werkes. Dies war sein Tribut an das „Unergründliche Leben“, das der Symphonie den Titel gab.
Haugs Musik macht keine Umschweife und besticht durch ihre emotionale Direktheit. Zu seinem 70. Geburtstag kann man dem Komponisten nur wünschen, dass sie auch weiterhin innerhalb wie außerhalb seiner Heimat treue Freunde und weite Verbreitung finden möge.
Verzeichnis der Werke Halvor Haugs
Halvor Haugs Kompositionen sind bei Gehrmans Musikförlag (Stockholm), Norsk Musikforlag (Oslo) und Musikproduktion Höflich (München) erhältlich. Die nicht verlegten Werke können über den Notendienst der Norwegischen Nationalbibliothek Oslo (NB noter) bezogen werden.
Zum zweiten Mal hatte ich das Glück, den Festspielen in Bergen beiwohnen zu dürfen. Drei Tage verbrachte ich in Norwegens zweitgrößter Stadt, besuchte Proben und Konzerte. König Haakon VII eröffnete 1953 die ersten Festspiele, welche sich auf Edvard Griegs „Musikkfest i Bergen“ von 1898 beriefen. Mittlerweile gelten sie als größtes Musikfest Nordeuropas, welches einmal jährlich im Lauf von 15 Tagen mehr als 200 Veranstaltungen bietet. Mehrere Bühnen und Festzelte zieren Bergen in der Zeit der Festspiele und auch die Häuser der Komponisten Edvard Grieg (Troldhaugen), Ole Bull (auf der Insel Lysøen) und Harald Sæverud (Siljustøl) öffnen ihre Pforten für mehr oder weniger kleine Wohnzimmerkonzerte. Besonders fällt dabei die Intimität auf, die sich das Festival trotz des enormen Besucheransturms gewahrt hat: Die Musiker interagieren mit dem Publikum und sitzen, wenn sie gerade nicht auf der Bühne stehen, oft selbst im Zuschauerraum. Schnell kommt man ins Gespräch mit anderen Hörern oder den Musikern, man fühlt sich sofort aufgenommen.
Die Anreise von München am 23. Mai dauerte mit Stopp in Oslo
etwa vier Stunden und mit der Byban (Stadtbahn) braucht man etwa eine
dreiviertelte Stunde direkt zum Bypark (Stadtpark). Schon hier begegnete mir
Musik: Bei jeder der 26 Stationen erklingt eine andere Melodie, beim Ausstieg
zu Siljustøl natürlich ein Klavierstück Sæveruds und bei Troldhaugen Griegs
Klavierkonzert.
Direkt nach meiner Ankunft eilte ich bereits ins erste
Konzert: Das Concerto Copenhagen spielte alle sechs Brandenburgischen Konzerte
Bachs in der Håkonshallen, geleitet von Lars Ulrich Mortensen am Cembalo. Das
imposante Gebäude mit seinen düsteren Steinwänden und den kunstvoll verzierten
Fenstern wurde 1247-1261 vom König Håkon Håkonsson im Königshof als Festsaal
errichtet und im späten 19. Jahrhundert grundlegend restauriert und
wiederhergestellt. Der große Saal eignet sich ideal beispielsweise für
Chorkonzerte, ist jedoch deutlich zu groß für Auftritte mit historischen
Instrumenten aus der Barockzeit, wie ich bei den Brandenburgischen Konzerten
bemerkte. Selbst bei mir in der achten Reihe kam kaum Dynamik an, die Musik
verlor sich nach oben zur hohen Decke hin. So lässt es sich schwer sagen, ob es
den Musikern oder rein der Akustik der Halle zu verschulden war, dass die erste
Violine die anderen Streicher vollkommen überdeckt hat und noch weniger vor den
Flötistinnen Katy Bircher und Kate Hearne Haltmachte, deren kunstvolle Soli im
vierten Konzert sich fast zur Unhörbarkeit auflösten. Die im F-Dur-Konzert
hinzukommende Oboe kam etwas besser zum Vorschein. Neben der ersten Geige trat
meist auch das Cembalo überlaut auf, besonders das fünfte Konzert wurde mehr
zum Solokonzert als zum Concerto Grosso, die Flöte verblasste vollkommen und
selbst die Geige fiel teils hinter dem Clavier zurück. Am besten gelang das
B-Dur-Konzert mit den phänomenalen Bratschensolisten John Crockatt und Simone
Jandl, die enorme Fülle und Farbe aus ihren Instrumenten lockten. Man muss dem
Concerto Copenhagen zugutehalten, dass sie mit größter Leidenschaft und
Spielfreude musizieren, die wirklich ansteckend auf das Publikum wirkte –
schade hingegen, dass sie darüber hinaus den Bezug zu stimmigen Tempi missachteten.
Gerade bei einer so gewaltigen Halle mit für diese Besetzung schwieriger Akustik,
hätten ruhigere Tempi sich wohltuend auf den Gesamteindruck ausgewirkt; statt
dessen rasten die Musiker durch die Randsätze, überspielen so zahllose
harmonische und kontrapunktische Finessen, und nahmen selbst die mit Adagio
überschriebenen Sätze zügigen Schrittes.
Nachdem ich den folgenden Tag hauptsächlich Proben des bevorstehenden Hvoslef-Konzerts beiwohnte, hörte ich am Abend eine erfrischende Gegendarstellung, was man aus der Akustik der Håkonshallen herausholen kann. Der Edvard Grieg Kor (Hilde Hagen, Ingvill Holter, Turid Moberg, Daniela Iancu Johannessen, Tyler Ray, Paul Robinson, Ørjan Hartveit und David Hansford) sang die Fire salmer op. 74 von Edvard Grieg (Arr. Tyrone Landau), Sæterjentes søndag von Ole Bull und Aften er stille von Agathe Backer-Grøndahl (Arr. Paul Robinson), sowie drei Sätze aus Griegs Holbergsuite arrangiert von Jonathan Rathbone für Chor. Der Bariton Aleksander Nohr sang das Solo in Griegs Salmer mit einfühlsamer und sonorer Stimme, ging klanglich auf den erweiterten Edvard Grieg Kor, hier geleitet von Håkon Matti Skrede, ein und verschmolz mit ihnen zu einer Einheit. Beim letzten Psalm, Im Himmel, stieg er zur gläsernen Rosette auf und ließ seine Stimme feinfühlig von oben aufs Publikum herunterregnen. Zwischen den vier Psalmen trat Silje Solberg an der Hardingfele (Hardangerfiedel) auf, zauberte echt norwegischen Flair in den Saal, in enormer stilistischer Fülle der markanten, dissonanzgeladenen Tonsprache nordischer Folklore. Die folgenden Werke sang das Oktett des Chors alleine, wobei sich die Stimmen vortrefflich mischten. Leicht und frisch klangen sie, durchdrangen die polyphonen Strukturen und stimmten die einzelnen Melodielinien genauestens aufeinander ab. Zuletzt gab es drei Sätze aus Griegs Holberg-Suite, wobei sich das Arrangement vor allem auf die Streichorchesterfassung stützt, sich jedoch den menschlichen Stimmen anpasst – eine wirklich funktionierende Bearbeitung!
Direkt im Anschluss fuhr der Bus nach Troldhaugen, dem Wohnsitz von Edvard Grieg, wo sich auch dessen Grab sowie sein Komponierhäuschen befinden. Mittlerweile steht neben dem Haus ein Konzertsaal und ein Museum, doch das heutige Konzert findet in Griegs Wohnzimmer auf seinem Steinway von 1892 statt: Paul Lewis spielt die Diabellivariationen op. 120 Ludwig van Beethovens. Vorletztes Jahr durfte ich selbst feststellen, wie anders sich Griegs Steinway im Vergleich zu heutigen Klavieren spielt und welch enorme Flexibilität vom Pianisten verlangt wird, dem Anschlag, Pedal und Klang die volle Substanz zu entlocken. Paul Lewis fiel dies leicht, problemlos differenzierte er in Anschlag und Pedalisierung, holte aus jeder der 33. Veränderungen Beethovens eine eigene Klangwelt. Die einzelnen Variationen setzte er deutlich voneinander ab, was ihnen einerseits für sich betrachtet Kontur verlieh und ihre Besonderheiten unterstrich, andererseits jedoch die zwingende Finalkonvergenz unterminierte. Den Akkorden gab Lewis Kern und Griff, ohne sie donnern zu lassen, die Gedanken der jeweiligen Veränderung meißelte der Pianist deutlich heraus. Vor allem die Rhythmik bedachte Lewis, fokussierte sich auf die punktierten Noten und ließ sie deutlich hervorstechen. Nachher gab es sogar noch eine kleine und beschauliche Zugabe, eine Seltenheit nach solch einem Koloss – leider handelte es sich bei dieser nicht wie erhofft um Bachs Goldbergvariationen.
Der folgende Tag drehte sich für mich in erster Linie um die Familie Sæverud; zunächst ging es zum Haus von Harald Sæverud, Siljustøl, und am Abend gab es ein Konzert ausschließlich mit Werken seines jüngsten Sohns, Ketil Hvoslef. Eine Alm, norwegisch Støl, sei das Zentrum der Welt, sprach der Komponist Harald Sæverud einmal, und so bezeichnete er auch sein Haus, wenngleich das gewaltige Gebäude auf dem 176.000 Quadratmeter großen Grundstück zunächst einmal wenig wie eine Sennhütte wirkt. Erst wenn man hineingeht in das Anwesen, erkennt man den lieblichen und naturverbundenen Charme: wir finden vorwiegend recht kleine und liebevoll detailliert eingerichtete Zimmer, die hauptsächlich aus Stein und Holz bestehen. Alles wurde so gelassen, wie Sæverud es im Jahr seines Todes 1992 hinterließ. Jeder Gegenstand hat eine Geschichte und wenn man einmal die Angehörigen des Komponisten nach ihnen befragt, so sprudeln sie förmlich über vor Anekdoten über alle noch so unscheinbaren Einzelheiten. Fertiggestellt wurde Siljustøl 1939 im Geburtsjahr Ketils, ermöglicht durch die wohlhabende Familie von Haralds Frau Marie Hvoslef, und umspannt eine gewaltige Parkanlage mit urtümlich wirkenden Wäldern und einen riesigen See, den Sæveruds Familie einen ganzen Sommer lang ausgehoben hat – mittlerweile befindet sich auch ein Golfplatz auf dem Grundstück, wenngleich ich mir nicht vorstellen kann, dass dies in Sæveruds Sinne gewesen ist, der ja doch die Natur und die Natürlichkeit jeder Künstlichkeit vorzog.
Heute stand das Wohnzimmer in Siljustøl voll: Der steinerne Anbau an das Zimmer, in dem Sæverud seine Gäste empfing, wurde nun wie das restliche Zimmer auch mit Stühlen vollgepfropft, um genügend Hörern das Konzert zu ermöglichen. Zwei Nachwuchskünstler gaben ihr Debut im Rahmen der Festspiele: der Tenor Eirik Johan Grøtvedt und der Pianist Eirik Haug Stømner. Auf dem Programm standen fünf Lieder von Edvard Grieg, die ersten zwei Lette Stykker op. 18 von Harald Sæverud, Schumanns Dichterliebe op. 48 und fünf frühe Lieder aus op. 10 und 27 von Richard Strauss. Mit den jungen Musikern haben die Festspiele zwei aufstrebende Talente entdeckt, die es zu fördern wert ist. Enormes Potential steckt in der Stimme des Tenors Eirik Johan Grøtvedt, der eine enorme Vielfalt an Emotionen glaubhaft und mitfühlbar vermittelt, dabei angenehm weich bleibt und ein wunderbares Timbre besitzt. Mich erstaunte, wie dialektfrei Grøtvedt deutsch sang, man erkannte fast keine nordische Färbung des Tonfalls. Einmal mehr spielte leider die Akustik gegen die Hörer, denn der Raum war diesmal zu klein für eine starke Stimme im Forte, wenn sie direkt vor der ersten Publikumsreihe abgefeuert wird und an den Steinwänden vielfach zurückklingt. Der Flügel des Komponisten ist natürlich genauestens auf den Raum abgestimmt und kann sich gut entfalten. Eirik Haug Stømner konnte vor allem in Schumanns Dichterliebe überzeugen, die er dynamisch, fließend und vielseitig begleitete, sich minutiös auf den Tenor einrichtete. Auch bei Strauss kamen diese Eigenschaften zum Tragen, und lediglich in den zwei fragilen Sæverud-Miniaturen fehlte es ihm noch an Kontrolle über den Anschlag, Abstimmung der Akkorde in sich und zwingender Stringenz der Linien. In Griegs Liedern schwelgten beide Musiker miteinander in den reichen Ausdruckswelten, ohne diese zu überziehen.
Das Highlight und einer der wichtigsten Beweggründe für
diese Reise war das am Abend stattfindende Konzert anlässlich Ketil Hvoslefs
80. Geburtstags (auch wenn dieser erst im Juli liegt). Am Vortag hörte ich
bereits bei den Proben zu und sprach die restliche Zeit mit Ricardo Odriozola
und Glenn Erik Haugland um Leben und Musik des Komponisten. Programmiert waren
die Streichquartette Nr. 1 (1969) und 4 (2007; rev. 2017) [gespielt von:
Ricardo Odriozola, Mara Haugen, Ilze Klava und Ragnhild Sannes], welches heute
erstmalig aufgeführt wurde, das Trio für Sopran, Alt und Klavier (1974; rev.
1975) [Mari Galambos Grue, Anne Daugstad Wik und Einar Røttingen], Octopus Rex
für acht Celli (2010) [John Ehde, Finlay Hare, Markus Eriksen, Tobias Olai
Eide, Ragnhild Sannes, Marius Laberg, Carmen Bóveda, Milica Toskov] und das
Konzert für Violine und Pop Band (1979) [Ricardo Odriozola, Einar Røttingen,
Håkon Sjøvik Olsen, Benjamin Kallestein, Peter Dybvig Søreide, Thomas Linke
Lossius und Sigurd Steinkopf]. Ketil Hvoslef wurde 1939 in Bergen geboren und
wuchs in Siljustøl in Frieden und Harmonie auf; anfangs wollte er Maler werden,
gab diesen Traum allerdings auf, als sein Lehrer ihm vorwarf, zu wenig Aussage
zu vermitteln. Seine Laufbahn als Komponist beschritt er eher durch Zufall,
indem er, nur für sich selbst, ein kleines Klavier-Concertino schrieb. Als dies
sein Vater Harald Sæverud bemerkte, übertrug er ihm sogleich einen Auftrag für
ein Bläserquintett, zu welchem er keine Zeit hatte – oder keine Lust. Als Ketil
sich dazu entschied, sich dem Komponieren zu verschreiben, nahm er den Namen
seiner Mutter an, um nicht zwei Sæveruds als Komponisten zu haben und diese
immer zu verwechseln. Vater und Sohn unterscheiden sich deutlich in ihrer
Musik, nicht nur in den präferierten Genres (Sæverud verehrte die Symphonie und
eher klassische Besetzungen, Hvoslef schreib nicht eine Symphonie und widmete
sich ungewöhnlichen Instrumentalkombinationen), sondern auch musikalisch: Sæveruds
Inspiration lag bei Mozart und den Klassikern sowie in der Natur, die er
regelmäßig in Töne bannte; Hvoslefs Zugang ist abstrakter, er nennt
beispielsweise Strawinsky als Idol und bringt immer ein technisch-mechanisches
Element in seine Werke. Die Musik Hvoslefs lebt von Kontrasten und unerwarteten
Überraschungen: Nur selten finden wir eine Melodielinie oktaviert in gleicher
Dynamik und Ausdrucksweise, viel eher trennt sie eine kleine Non, eine Stimme ist
laut und eine leise, eine gebunden und eine abgesetzt. Es gibt Platz für Lyrik
und Sinnlichkeit, aber sie wird schnell unterminiert von anderen Elementen, plötzlich
ad absurdum getrieben oder direkt von Anfang an immer wieder gestört. Das
Material reduziert Hvoslef so weit wie möglich, er beschränkt sich in jeder
Hinsicht auf das Wesentliche und sieht eben darin den Reiz. Dabei funktionieren
seine neuartigen Formen jedes Mal aufs Neue. Als ich ihn danach fragte, wie er
denn eine Form schaffe beim Komponieren, antwortete er: „Ich denke nicht an
Form. Ich schreibe ein Thema, und das Thema gibt dann vor, wie es weitergehen
muss.“ Hier findet sich eine Ähnlichkeit zu seinem Vater: Beide sehen das Thema
als Knospe, aus der dann eine Pflanze erwächst. Ist die Knospe eine
Sonnenblume, so muss auch eine Sonnenblume daraus sprießen, wobei jede Blume natürlich
anders aussieht; aus einem Ahornkeim gedeiht ein Ahorn. Hier liegt der Instinkt
des Komponisten. Tatsächlich kann man Hvoslefs Kompositionsprozess als
Gegenteil jedes Akademismus‘ bezeichnen, dieser scheint ihm teils gar zuwider
zu sein – was nicht bedeutet, dass er nicht hoch intelligent und zutiefst
reflektiert arbeitet. Ein Gespür besitzt Hvoslef auch dafür, wie lange er einen
Gedanken verfolgen kann, ohne dass er öde wird, ohne dass etwas Neues kommen
muss. Er strapaziert die Idee so lange wie möglich, dann erst verwirft er sie;
oder er unterbricht sie vorzeitig für einen vollkommen anderen Einfall, dem er
sich gerade widmen will. Auch hier finden wir eine Gemeinsamkeit zu seinem
Vater: Beide lassen sich gerne einnehmen von einem interessanten Detail und
fokussieren dieses für eine gewisse Zeit, wobei sie alles andere vergessen. Beim
Vater geschieht dies in seiner Musik durch plötzliche Einwürfe, die das Stück
unterbrechen, ohne einen Grund dafür zu haben und ohne noch einmal
wiederzukehren. Hvoslef bindet sie teils mehr in den formalen Verlauf ein,
bleibt aber ebenso fasziniert von ihnen. In den Proben achtete er hauptsächlich
darauf, dass die Partitur genauestens und vor allem deutlich eingehalten wird;
er notiert äußerst präzise und besteht dann auch auf das, was dort geschrieben
steht.
Die Werkeinführungen gestaltete der Komponist bei seinem
Ehrenkonzert selbst. Zum 1. Streichquartett sagte er, sein damaliger Lehrer bat
ihn, nie wieder so zu komponieren wie bisher, und als Trotzreaktion schuf er,
während er fror (erneut solch ein Detail, dass nur durch die Absurdität so viel
Beachtung findet), dieses konturlose und zutiefst komplexe Werk voller Effekt
und beinahe komischer Abstraktheit. Das Trio für zwei Sängerinnen und Klavier
bedient sich keiner existierenden Sprache – ich hörte es heute zum ersten Mal
auf war hingerissen von den sanften Reibungen zwischen den Stimmen und der
dynamischen Bandbreite, die Hvoslef hier entfaltet. Man kann diese Musik nicht
entspannt hören, sondern horcht immer auf, gespannt, was als Nächstes kommt.
Octopus Rex für acht Celli (der Titel wurde entliehen von Strawinskys Oper
Oedipus Rex) verfolgt den Gedanken einer einzigen Kreatur mit acht Armen, die
zwar an sich flexibel ein Eigenleben führen können, doch aber als Einheit
zusammengehalten werden. Hvoslef lässt die Celli teils alle die gleichen
Melodien von acht unterschiedlichen Starttönen aus spielen, teils spaltet er
sie auf in zwei bis drei Gruppen, die vollkommen verschiedene und scheinbar
unabhängige Ideen spielen, aber doch irgendwie in Kontext miteinander stehen.
Erst im allerletzten Ton vereinen sich alle acht Tentakelarme auf die
Schlussnote D. Nach der Pause folgt die Uraufführung des vierten
Streichquartetts, dem der Komponist noch einen Tag zuvor zwei kleine Revisionen
mitgab; herbe Kontraste durchziehen das Quartett und die Pausen erhalten großen
Stellenwert, dynamisch teilen sich die Musiker oft in zwei Gruppen ein, von
denen eine Pianissimo und eine Fortissimo spielt, während sie völlig anderes
Material gegeneinander aufbringen. Die Keimzelle ist ein betonter Rhythmus auf
die Noten f“ und g“: Sowohl die rhythmische Figur als auch der Doppelton gestalten
die gesamte Form des einsätzigen Quartetts. Als letzten Programmpunkt hören wir
das Konzert für Violine und Popband, welches als Auftragsstück auf einem
Rockfestival uraufgeführt wurde und damals mehr als fehl am Platz wirkte. Auch
heute lässt das Werk durch die skurrile Besetzung aufmerken, dabei gehört es
musikalisch gesehen zu den klassischsten und gradlinigsten Werken Hvoslefs. Der
Komponist beruft sich auf mehrere „Patterns“ die immer und immer wiederkehren,
dabei allerdings die Taktstruktur immer wieder auf die Probe stellen, da sie
meist aus 7 oder 13 Achtelnoten bestehen – und dies bei klarem Viervierteltakt.
Eine Dreitonfigur mit chromatischer Fortführung bildet den Ausgangspunkt und
beinahe jedes Motiv lässt sich auf diesen zurückführen – teils ganz deutlich,
teils unmerklich (wie das Blatt schwer auf den Stamm schließen lässt, obwohl es
klar dazugehört). Ursprünglich wurde das Konzert für Trond Sæverud geschrieben,
den Sohn Ketil Hvoslefs, heute spielt Ricardo Odriozola den Solopart, doch wie
Trond nahm auch er sich verschiedene Musiker aus der Klassik- und
Jazz/Pop/Rock-Szene für seine „Band“. Das Violinkonzert wurde tontechnisch vollständig
abgenommen und in den Raum projiziert, was ebenso gewissen Rockflair verlieh
und jedes Instrument zur Geltung brachte. Im Grunde genommen spielt nämlich
jeder ein Solo in diesem Konzert für nur sieben Musiker, weshalb ich es sogar
eher als Concerto Grosso betiteln würde. Den ganzen Abend über spielten die
beteiligten Musiker, 19 an der Zahl, durchgehend auf höchstem Niveau. Ricardo
Odziozola und Einar Røttingen leiteten die einzelnen Stücke jeweils an und
setzten Hvoslefs Partituren minutiös um, ohne dabei das lebendige Musizieren zu
vernachlässigen. Alles wirkte frisch, spannend und neuartig, dabei trotz (für
ein Konzert mit ausschließlich zeitgenössischer Musik erstaunlich) großem
Publikum intim und familiär. In Hvoslefs Kammermusik geht es derartig stark um
das Miteinander, dass den Einzelnen herauszupicken und zu betrachten keinen
Gewinn bringen würde: Und die Gemeinschaft war phänomenal bei den anwesenden
Musikern, die so präzise hörten und interagierten.
Am nächsten Tag ging mein Flieger bereits in der Früh: doch
zuvor blieb die ganze Nacht hell, da sich die Sonne nach einigen verregneten
Tagen endlich blicken ließ. Und so konnte ich noch einmal die Beschaulichkeit
von Bergen genießen mit seinen vielen Holzhäusern, Grünanlagen, historischen
Gebäuden und den zahlreichen Musikbühnen, die für die Festspiele aufgestellt
wurden.
The following guest contribution was written by the Spanish-Norwegian violinist, composer and conductor Ricardo Odriozola:
I would like to introduce you to a major young composition talent from Norway. Before that, however, allow me to introduce myself. I am a violinist and sometime violist, composer and conductor. The last 31 and half years I have worked as a violin and chamber music teacher at the Grieg Academy in Bergen, Norway. I have also recorded very many CDs, mostly of contemporary (or Twentieth Century) music but also more standard repertoire, such as J.S. Bach’s sonatas and partitas for solo violin or (not quite so standard, but accessible, nevertheless) violin music by Ole Bull. You can check these out here.
Although I have a deep respect and interest for the violinist’s craft (which, as a frequent performer on that instrument, is essential) my heart has always beaten the fastest for those who create or channel music: composers, songwriters, improvisers …
In the past three and a half decades I have been exceptionally fortunate to be able to work with many remarkable composers, mostly in Norway, but also in Denmark, England and the United States. In 2017 I released a book about five of them. It is called “Opus Perseverat” and can be purchased through Musik Produktion Hoeflich. The same edition has given me the opportunity (since May 2016) to publish the score and parts of a Norwegian work once a month. All of the above means that, although a great amount of work remains to be done on behalf of all the composers represented in the book and the monthly publications, there is at least a sense of momentum: some work is being done for them, and their music is gradually becoming available in beautiful editions.
Getting
started in the music world is very hard and even more so if one happens to be a
composer. With so much music available, why should one devote one’s precious
time and attention to listening to new music by unknown young composers?
The
question cannot be answered with a single sentence.
However,
I can say the following: as a very self-centred young man with his head in the
clouds I was given enormous encouragement and support by many older and wiser
people. When I eventually grew up sufficiently to see the world around me with
a degree of objectivity, I decided that, given the chance, I would do my best
to provide the same level of support to those younger than me who came within
my sphere. Fortunately, there have been many such people in the past thirty odd
years.
In
the academic year 2016-2017 fate landed me with the privilege of tutoring an
exceptional talent. She was then a Master student of composition at the Grieg Academy,
and her name is Trine Franksdatter.
Some biographical details
Trine
Fransdatter was born in Lørenskog on September
26th 1990. On the very same day, some twenty kilometres to the East, the great
Norwegian composer Harald Sæverud was having his last composition premiered in Oslo. Trine grew up in a
farm near Drøbak (south of Oslo),
the place she calls home.
She is number twelve
in a flock of fourteen siblings (seven boys and seven girls) and grew up in an
essentially Christian family; an uncommonly harmonious one, apparently: they have
always, and do still get on really well among themselves. Trine started writing
her own music very early on but it was only when she began attending the distinguished
Toneheim music Folk High School in Hamar (some 130 km. north of Oslo) that she began to compose
seriously. Gaining access to notation software made it easier to produce
musical material that could be readily handed over to friends. In a family the
size of hers, sharing had become second nature for Trine. Being able to give
her music to other people was, in her view, her contribution to making the
world a little bit better. For, Trine Franksdatter has never been attracted to
the „enfant terrible“ role.
[In our first supervising session at the Grieg Academy
(a year before I became her composition tutor) I asked her (apologizing for the
inherent silliness of the question): „what kind of music do you
write?“. „Beautiful and melodious“, she replied. There was not a
hint of conceit in her answer. She simply has a firm conviction that what she
wants to deliver to the world she is in has to be edifying and beautiful.]
Eventually she felt that, in order to get a robust composer’s education in Norway (without going too far afield), she had to try to get into the Norwegian Music Academy in Oslo. She applied there for the bachelor program in 2010 but was turned down. Undeterred, she enrolled in the private Staffeldtsgate Music School for a year. It proved to be a pivotal year in her development. She was one of only four classical musicians there, and the only composer. At Staffeldtsgate she started a choir that eventually became the excellent female vocal quintet Franksdatter Vokalensemble (earlier called Staffeldtsgate Vokalensemble) that concentrates exclusively on singing Trine’s music. You can hear them here.
In 2011 she
applied again to the Norwegian
Music Academy.
Wiser from her experience the previous year, she now delivered a bizarre
electronic music composition as hear audition piece.
She was
accepted.
Her experience there was mixed. There was great camaraderie and mutual respect among her composer classmates. The teaching staff was a different story. By and large, the favoured style among the latter was the so-called „avant-garde“ aesthetic, rooted in post World War 2 Darmstadt ideals and strongly coloured by the French spectral school. In other words, what in Norway is so eloquently referred to as „pling-plong“. A lot of the course work consisted of analyzing works in that style, which bored our young composer to distraction. Having never intended to rebel, she now began doing so (out of dejection, rather than from any wish to make a point) by spending a lot of time in her classes doodling or sleeping. This eventually infuriated one of the teachers, who told her she had no business being at that school and that she should quit. Shaken by this confrontation, she in fact contemplated quitting half way through her studies. However, after a summer of turmoil she returned to the academy, stronger in her purpose, and embarked on the composition of what would become her graduation piece, a substantial music theatre work called „Koydon“. It is one of her greatest achievements to date, and an excellent work on many levels.
In 2015 Trine
decided to pursue her Master degree at the Grieg
Academy in Bergen. Her timing was, ostensibly, not the
most auspicious. The Academy’s long standing and much loved composition teacher
Morten Eide Pedersen had died suddenly the previous fall, leaving the
department in the hands of substitutes. Although these were highly qualified,
the stability that Pedersen had built over 18 years was proving difficult to
maintain.
I was Trine’s
supervisor for the required written assignments of her study. In time she began
showing me some of the music she was working on. We seemed to hit it off and
she was happy with the feedback I was giving her. She took the unprecedented
step of applying for permission to have me, the academy’s violin associate professor,
as her composition instructor for her entire second year. [The previous year,
after the untimely passing of M.E. Pedersen, I had helped another very gifted
composer for a few months. but that is another, very pleasant story]. Her wish
was granted and, for me, this resulted in one of the happiest years I have had
at work.
Trine is a
hard, conscientious worker. She sets herself very ambitious goals and delivers
on every level.
For her Master study she decided to create another big piece of music theatre. It was going to be about God (I did mention she is ambitious!). Well … that is the quick way to describe it. She called it „The mirror: a music theatre about the First Cause“. I was privileged to witness the birth of this work, from its first sketches and extra musical ideas through to its completion. I got to conduct its premiere at two performances given in Bergen in early May 2017.
For the past
year and a half Trine Franksdatter has been working at a number of part-time
teaching jobs and has recently signed a contract with the Norwegian music
publishing house Cantando.
At the
venerable age of 28, this is the extent of her outer biography so far. For her
inner biography I need to refer to her music.
Trine Franksdatter’s music: reinventing the wheel
Not (I hasten
to claim) a negative notion at all! Quite the contrary: all great artists (as
well as spiritual leaders) have, through the ages, made us aware of what we,
deep inside, already knew, but always in delightfully new and original ways
that stem from their innermost being. Trine Franksdatter’s music does not set
out to teach us anything. It does not purport to have found the Holy Grail. It
neither is narcissistic nor does it intend to proselytize. It is simply a
superbly crafted representation of her view of the world. Even when she deals
with serious matters, she can seldom avoid laughing at herself through the
music she writes. And hers is a music that, more than merely occasionally, is
touched by the divine spark.
A glance into Trine’s website reveals 85 titles to her credit (with two or three omissions). They are in varied formats, but vocal music (songs and a capella works) constitute a high percentage of her production. As you will see, there is also a small number of chamber works, some music for film, electronic pieces, music for solo piano and some occasional music, such as music for weddings that often embraces folk and pop styles with remarkable abandon. Not to forget two substantial pieces of music theatre, a mass, a work for wind ensemble and a three children’s operas (one of them written in cooperation with other composers).
The pieces I
am going to comment on can be heard on Franksdatter’s soundcloud page (unless
otherwise stated):
I will discuss
a few of Franksdatter’s works in no particular order.
ORDET (“The Word” – 2013)
This
thoroughly wonderful work was my introduction to Trine Frankdatter’s music. I
got to know it through her webpage and I liked it so much that I decided to
perform it. Thanks to Trine’s enterprising talent, a concert of her music was
scheduled in the Bergen Sacred Music autumn festival in 2015, with Ordet as the centrepiece. We recorded
it the next day.
„Kyrie“
presents the majority of the elements that will play out throughout the work: a
juxtaposition of inward and outward expressions, a sense of quiet devotion and
a frequent use of what the composer calls „sacral clusters“, i.e.
pan-diatonic harmonies that include many of the tones of the diatonic scale
simultaneously. These create a feeling of hovering tonality, where the tones
circle around a centre but are unaffected by gravity.
There are many
instrumental commentaries. Sometimes they are interspersed in between sections
of the liturgical text, but the work also contains three interludes that act as
links between the movements. The first one flows seamlessly from the Kyrie and
sets the stage for the joyful and extrovert „Gloria“. The second
intermezzo is the more introspective of the three and prepares for the
wide-encompassing „Credo“. In this movement there are elements of medieval
organum and a subtle use of dissonance during the ‚Crucifixus‘ section. The ‚Et
in Spiritum Sanctum‘ section is one of the loveliest and more inwardly ecstatic
moments in the piece. The movement ends on a single, unaccompanied note.
The third
intermezzo is good-natured and warm in character, spiced by teasing mordents
played by the oboe. This acts as an earthier kind of relief after the spiritual
calm of the Credo and does not at all prepare the listener for what is the one
truly unsettling moment in the piece: the „Sanctus“ movement. The
music seems keenly aware that it is addressing a higher power of unfathomable
greatness. Subtle dissonance reappears and the music grows to almost unbearable
intensity, before suddenly returning to its opening sombre mood, as if a giant
bubble has been burst. After several very earnest minutes, the music attempts
to break into dance before finally bursting into an intoxicatingly joyful song
of praise.
The quietly
contemplative a capella „Benedictus“
follows, giving way to the final and longest movement, „Agnus Dei“. This
movement opens in a desolate mood before a short instrumental passage leads the
music into a more serene realm where the Kyrie theme makes a reappearance.
Seemingly out of nowhere the final theme of work emerges, an achingly beautiful
and deeply mournful melody in G minor that sweeps everything before it. The
music of this movement seems to probe deeply into its own raison d’ètre,
ultimately providing a remarkably fulfilling conclusion to the entire work.
Ordet is, arguably, the first example
of Franksdatter’s imaginative use of instrumental colour, which she would
further develop in subsequent works.
An earlier
live performance can be accessed from the aforementioned soundcloud.
While Ordet shows Franksdatter at her best in combining voices and instruments, a capella writing has always been the medium in which her natural feeling for melody, harmony and musical flow shines most brightly. Nowhere is this more evident than in the delicate setting for female voices of Camilla Collett’s beautiful poem I haven da Marie Kaltenborn var død(In the garden when Marie Kaltenborn died – 2014). The music captures perfectly the dignified wistfulness of this elegy that looks backwards with affection and forwards with courage.
Sancta Maria (2009,
written for the composer’s vocal quintet) is another consummate miniature, perfectly
balanced in form and texture, overtly sacral and devotional in character and
wholly satisfying in its brevity.
KOYDON (the legend of the ocean people) (2014)
An
ambitious piece of music theatre, lasting around 75 minutes. Although written
in 2014, the idea had been around in its composer’s mind for some time. The
ocean people (a community that, originating from the earth, moved underwater at
a time remote from the piece’s time frame) love to sing and dance and are very
aware of the beauty of their bodies. And, of course, they speak their own
language. Trine enlisted the services of Linn Iren Sjånes Rødvand, a brilliant
linguist (as well as a member of the Franksdatter Vocal Ensemble) in order to
develop the language of the people of Koydon, which is called Omakoy. In the story, Elohim (a God-like
figure) is the sole inhabitant of „The Land“, a piece of earth that
was once the abode of the ocean people (before they decided to leave). Elohim, weary
of his loneliness, decides to visit his old people. Naturally, conflict arises.
He is barely remembered through ancient songs and, at best, as a legend. The
people of Koydon consider their visitor as an impostor and a nuisance, finally
throwing him out violently.
The
music is, generally, melodious and harmonically elaborate in Elohim’s
interventions, while the music of the ocean people tends to be invigoratingly rhythmical
and harmonically static. Some of the work’s more memorable themes have a
definitely filmic flair. Makadia (a young girl who has just made her rite of
passage into womanhood – and the only Koydon denizen to give Elohim the benefit
of the doubt) is portrayed and accompanied by very lively and rhythmically
intricate music. A few short, tense passages in the work border on atonality.
The use of a full orchestra gave the composer the opportunity to further develop her imagination in the use of tone colours. This horn of plenty was starkly absent from her next music theatre project, on which she embarked directly after Koydon: a children’s opera in German, in which the „orchestra“ consisted of a single saxophone player. Judging from the short video available to watch on the Internet, Franksdatter managed to get maximum results out of such constraining premises, and it appears to be a very amusing show that leads the audience through several physical locations. It is called Das Schlossgespenst und der Bergtroll, and you can watch excerpts of it here.
In
Dance of Abundance (2014) Franksdatter
gives ample expression to a quality common to a lot of her music: a wide-eyed
sense of wonder at the beauty of the world. Even in this short piano quintet composition,
the music communicates, without any text, devotion and deference (to nature, to
higher powers…?). The first half of the piece has the enchanted air of the
outdoors. Its contemplative music gives way to the dance proper, luscious in
texture (we are dealing with abundance, after all) and largely based on a
ground. After a short flashback to the introduction, the dance turns into song
before returning to its infectious triple metre. For the brief ending, the
music returns again to the contemplative atmosphere of the beginning. We are
left wanting more, or rather, wondering „what happens next“ (arguably
a desirable quality for any piece of art).
We
get a very similar impression (albeit in an even more meditative atmosphere) from
Hellige Øyeblikk (Sacred Moments – 2011), a sonic collage
consisting of a thoroughly improvised piano part (entirely on the white keys,
except for a single F sharp in the highest register) accompanied by diverse
sounds from nature (birds, water, a breeze, a child’s laughter…) and a
discreet background vocalise. Literally, a piece-of-music (and a very beautiful
one at that).
Childlike
innocence spills over to the title of another atmospheric piece, Such a happy place, Geez! (2012), the
result of playful experimentation in the recording studio. A folk-inflected
voice intones a mellifluous melody in the Lydian mode on top of warm keyboard
pads. It has a strong Scandinavia-meets-the-Middle-East vibe to it. This brief
piece ends with a small, unassuming but effective and lively dance that elicits
the smile towards which the title hints.
Some
of the same balmy Oriental Night ambience can be felt at either end of the solo
piano piece Flukt (Escape- 2009). This is an effective piece of
mood-painting that gains momentum (as it simultaneously sheds its subtlety) towards
the middle (the „escape“ part?), regaining its composure at the end.
Humour
often lurks behind Franksdatter’s music and in some cases it comes to the fore
and takes centre stage. This is most obvious in the uproariously funny and
cheerful Gåsekrek i mannejakten (the goose rascal in the man hunt –
2016). On the score cover we see a drawing of what looks like a rather
inebriated goose and, overleaf, a fully clothed female skeleton sits on a bench
covered in spider webs. The caption reads „waiting for the perfect
man“.
Written
for wind band, Gåsekrek… is a
feast of rhythm, colour and good fun. In the first two minutes and 15 seconds
of the piece, the composer takes her language to the outer fringes of tonality
and throws short comical motifs across the ensemble, all in the service of the
silliness represented by the mischievous goose. We are not to know how the daft
avian creature managed to get itself mixed in a woman’s hunt for a perfect man,
but it certainly creates a lot of havoc. The central part of the piece is an
infectiously merry dance, based on a song called „Man hunt“ (which,
however, does not appear in the composer’s work list). It has a lyrical theme
and goes through some genuinely tender moments, before the goose re-enters the
stage and manages to sabotage all sense of order created by the previous music.
I challenge anyone to listen to this piece without a happy smile upon his or
her face.
[Note:
since the writing of this article the live recording of this work has been
taken down from the composer’s soundcloud for legal reasons. If you wish to
hear the work, please contact the composer, provided that you will under no
circumstance share the file publicly]
SPEILET (The
mirror – 2015-16) is, as I mentioned above, a very ambitious piece of music
theatre, for which Franskdatter prepared extensively with characteristic zeal
and meticulousness before even writing a single note.
The
story, in short: a young girl who is deeply dissatisfied with herself and her
life finds herself in her bedroom having a conversation with her physical body.
To make matters even more interesting, her spirit shows up and invites her to
take a journey with her, leaving her physical body behind. The spirit
introduces the girl’s soul to five different representations of God, in proper
Biblical order: the Inventor (or creator: a hopelessly enthusiastic male
character full of excitement at all the things he manages to create), the Judge
(a stern and dogmatic lady who claims everything is preordained), the King
(whom the girl is only allowed to hear, and who tells her that she is a miracle
and that she was known and loved before she incarnated), the Prophet (played by
the same singer as the Judge: a lovesick prima Donna type whose lover is
unfaithful to her) and the Man (a Jesus type, played by the same singer as the
Inventor, and the one who ultimately heals the girl and helps her to see
herself the way he sees her). Every time the spirit leads the girl’s soul to
meet a new manifestation of God they go through a mirror. At the end, it is in
the mirror that the girl is able to see herself as “The Man” sees her. The work
itself is constructed as a mirror of sorts, with the symmetry of the singing
roles and the music of the spirit, which appears before the first deity and
after the last. The work begins and ends in the girl’s bedroom.
I
will not describe the music, which goes through many styles, moods and
textures. Will only state that it is thoroughly delightful and, often, deeply
moving. It portrays the personalities of each of the God representations, and
that of the girl’s spirit with extraordinary insight. In one of the scenes the
music even embraces something close to objective art, in the form of an angel
choir.
Speilet is
not only the latest work of substance that Franksdatter has produced to date;
it is also the culmination of all the best traits her music has had on offer up
to that point. And, I am confident in believeing, a stepping stone to further
inspired works.
You
can watch Speilet here:
* *
* * * * *
I am wary of
flinging around often misused words such ad „genius“ and
„masterpiece“. „Genius“ is a realm that exists in actuality
and is as real as the Grand Canyon or your
vacuum cleaner. I would argue that anyone who has embarked on an artistic path
has visited that realm at least once, usually very early in life. The event
that inevitably follows such an early visit is a rapid fall back down to earth,
landing on an object sharp enough to always remind us what it was like up
there. We then spend the rest of our lives searching for it. Some find it from
time to time and are graced with relatively extended stays. Others are able to
remain there for most of the time. The latter are those who effect a positive and
lasting change on the face of History. They are also, generally, difficult
people to be around.
A masterpiece
is, in short, a consummate work of art. A piece so coherent, so robust of
constitution within its premises, that it can withstand the passage of time and
remain impervious to criticism (or what passes for it, which is often little
more than a fanciful expression of likes and dislikes).
I have not undertaken the writing of this article because I consider Trine Franksdatter to be a genius or because I believe she has written numerous masterpieces. I will, however, suggest that she has, in fact, paid a fair number of visits to that realm, from which she has returned with some precious treasures that she has generously chosen to share with us. And I firmly believe that Ordet and Speilet (in particular, but not exclusively) – and, in the smaller format, Sancta Maria and I haven da Marie Kaltenborn var død – have the makings of a masterpiece.
The reason I
have written this article is that Trine Franksdatter’s music has touched me
deeply and it has enriched my life. Because I have great faith in her talent
and a genuine respect and affection for her as a person, and I strongly feel
that she has the mark of the master on her brow and that her best music is
still to come. I, for one, look eagerly forward to hearing it.
And if you,
dear reader, are looking to cooperate with a young composer who writes
beautiful, highly imaginative and good-natured music; an artist with whom it is
a joy to work; a disciplined and thoroughly ethical person who will deliver her
work on time and with impeccable craft… then I suggest you contact Trine
Franksdatter and give her further opportunities to reinvent the musical wheel
and make the world a bit more beautiful. I assure you will be very glad you did!
Ein mehrtägiges Festival um eine Opernproduktion, das auf einer kleinen Insel stattfindet, etwa vier Stunden Bootsfahrt von der nächsten Stadt entfernt? Das klingt nach einem Abenteuer für mich: Und so mache ich mich erneut auf nach Norwegen, diesmal nach Røst.
Die Reise geht über Oslo nach Bodø, von wo aus die Fähre nach Røst ablegt. Nach etwa drei Stunden auf dem Schiff erhebt sich langsam eine Wand aus den Wogen, befremdlich und unwirklich. Je näher das Boot kommt, desto bedrohlicher wirken die Landmassen, die sich über den Horizont erstrecken. Durch das Teleobjektiv erkenne ich Häuser und allmählich teilt sich die Wand; sie erweist sich als eine Ansammlung unzähliger kleiner Inseln, die gedrängt aneinander aufragen. Røstlandet kommt in Sicht – in großzügiger Entfernung zueinander stehende Holzhäuser und manch eine Betonhalle zur Stockfischlagerung prägen den ersten Eindruck, dahinter erkenne ich die nun im Sommer leeren Holzgestelle, auf denen der Fisch getrocknet wird.
So befinde ich mich also auf Røstlandet, der südwestlichsten Insel der Lofoten. Die geringe Größe und Bevölkerungsdichte wirken für mich als Großstadtmenschen exotisch, doch eben hier liegt auch der Reiz. Weniger als 600 Menschen leben in der Røst-Kommune auf etwa 11 Quadratkilometern, die sich auf weit über 300 Inseln und Schären verteilen. Kleine Binnenseen und Wasserkanäle machen die Landschaft ebenso aus wie Steine und Wiesenflächen: Bäume findet man keine auf Røst, zumindest keine natürlich gewachsenen. Der Blick reicht weit über die Hauptinsel, denn der höchste Punkt befindet sich gerade einmal 12 Meter über dem Meeresspiegel. Auf der Ostseite befinden sich die meisten Häuser, und im Süden bei der Bootsanlegestelle; im Norden liegt eine Kirchenruine und im Nordosten ein Flughafen: wobei ich während meiner Zeit auf Røst nur ein einziges Mal eine Maschine habe starten sehen.
Mich beeindruckt die Mentalität hier in der Abgeschiedenheit. Kriminalität gibt es keine auf Røst, weshalb auch kaum jemand auf die Idee kommt, Wohnung oder Auto abzusperren. Warum auch? Selbst wenn jemand einbrechen würde, käme er – wenn überhaupt – bis auf die Fähre, und nicht weiter. Trotz eines beinahe familiären Zusammenhalts in der Gemeinschaft sind die Einwohner ausgesprochen offen gegenüber ihren Gästen und man findet schnell Anschluss an Gespräche. Natürlich hilft es hierbei wie auch überall sonst, die Landessprache zu können, jedoch beherrschen alle Einwohner auch Englisch und viele sogar etwas Deutsch. Es finden allerdings weniger Touristen nach Røst als auf die anderen Lofoten: Vielleicht aufgrund der Entfernung zu den anderen Inseln, vielleicht aufgrund der verschwindend geringen Größe. Doch es lohnt sich!
Das Querinifestival begann bereits am 1. August, ich stoße erst zwei Tage später dazu. Fünf Tage lang werden verschiedenartige Veranstaltungen angeboten, allen voran vier Aufführungen der Oper „Querini“ aus der Feder Henning Sommerros; doch auch andere Konzerte stehen auf dem Programm, ebenso wie Ausflüge. Ich werde später dazu kommen, was es mit Querini auf sich hat und warum ausgerechnet hier dieses riesenhafte Ereignis stattfindet.
Direkt nach meiner Ankunft steht bereits ein erster Konzertbesuch an: Die ebenfalls von den Lofoten stammende Sängerin Kari Bremnes tritt erstmalig auf Røst auf, wobei sie von Bengt Hanssen begleitet wird. Bremnes gehört zu den bekanntesten Stimmen Norwegens und entsprechend voll wird es in der Querinihalle, die 500 Plätze umfasst. Rein und schlicht trägt sie ihre Lieder vor, singt, wie für sich ganz alleine. Bengt E. Hanssen ersetzt eine ganze Band, indem er seiner Klavierstimme auch zahlreiche Effekte und Klänge anderer Instrumente beifügt. Herrliche Momente beschert uns der Musiker durch sein Joiken: Ein Joik ist ein samischer Gesang, in dem die Töne mehr Bedeutung tragen als die Worte.
Unterhaltsam geht es am nächsten Tag weiter mit Rasmus Rohde, der gemeinsam mit seiner „verdens beste band“ („weltbesten Band“) einige der erfolgreichsten norwegischen Lieder-CDs für Kinder eingespielt hat und zeigt, dass Musik alles andere als öde oder uncool ist. In seinen Liedern erzählt er von interessanten Mahlzeiten, reisenden Ballons, naiven Kuscheltieren und Sommererlebnissen. Er kann auf hohem musikalischem Niveau nicht nur den Kleinen ein Lachen entlocken. Denkwürdig bleibt der Moment, in dem Rohde die Stimmung kurz umschwingen lässt und von einem Flüchtlingskind singt, das seine Reise nicht überlebt hat. Gewagt, aber wichtig, den Kindern im Rahmen solch eines Konzerts diese Thematik näherzubringen.
Wenige Stunden später beginnt die Hauptveranstaltung: die vierte und somit letzte Aufführung der Querini-Oper von Henning Sommerro. Es ist die Geschichte des italienischen Handelsmannes Pietro Querini, dessen Schiff in einem Sturm vom Kurs abkam und sank. Nach langer orientierungsloser Reise strandete eines der Rettungsboote auf Sandøy, einer Nachbarinsel von Røst. Die überlebenden Männer wurden von einheimischen Fischern gefunden und gepflegt, wobei nur der örtliche Priester durch seine Lateinkenntnisse zwischen Italienern und Norwegern vermitteln konnte. Nach drei oder vier Monaten reisten Querini und die übrigen zehn Überlebenden der ursprünglichen 68 Männer zurück nach Italien; mit an Bord nahmen sie große Mengen an Stockfisch, der sich als Proviant für lange Reisen ideal eignet, und brachten ihn mit in die Heimat. Damit war Querini vermutlich der erste, der den Stockfisch importierte und somit eine bis heute bestehende Verbindung zwischen Nordnorwegen und Italien schuf. In den letzten Jahren kam auf Røst die Geschichte um Querini vermehrt in Erinnerung: Zunächst benannte man eine Straße nach dem Seefahrer, dann das Wirtshaus der Insel. Schließlich wurde die Idee geboren, die Aufzeichnungen Querinis über seine Abenteuer als Oper zu vertonen, was durch den Komponisten Henning Sommerro und den Librettisten Ragnar Olsen dann auch geschah und 2012 das Licht der Welt erblickte. 2018 wird die Geschichte nach 2012 und 2014 zum dritten Mal auf die Bühne gebracht, diesmal in neuer Inszenierung.
Die Oper zeigt das Geschehen vom Aufbruch in Venedig bis zu Querinis Rückkehr, wobei ein Kormoran (Soetkin Baptist) als omnipräsente Erzählerrolle fungiert. Die Wahl dieses Vogels wirkt nicht abwegig, er ist Wappentier von Røst und auch in Venedig heimisch. Insgesamt drei Liebesgeschichten durchziehen die Oper: Eine fromme Liebe verbindet Pietro Querini (Magne Fremmelid) und seine Frau (Anna Einarsson) und überdauert alle räumliche und zeitliche Distanz. Auch Bernardo (Eivind Kandal), Mitglied in Querinis Crew, sehnt sich nach seiner Maria (Jeanette Goldstein), die wie alle Frauen in Venedig geblieben ist. Diese wird allerdings von einem neuen Freier umgarnt (Jacob Abel Tjeldberg): Anfangs widersteht sie ihm, doch als die Crew noch immer nicht wiederkehrt und für tot gehalten wird, gibt sie nach. Am Ende kommt Bernardo zurück, und vergibt ihr. Eine dritte Liebesbeziehung entsteht zwischen Nicolo (Ivar Magnus Sandve), dem Diener Querinis, und Igna (Henriette Lerstad), einem Mädchen aus Røst. Obgleich die beiden nicht die Sprache des jeweiligen Gegenübers verstehen, spüren sie eine innere Verbindung. Als Querini aufbricht, um nach Venedig zurückzukehren, muss sich auch das Paar trennen, denn Igna wird auf Røst und Nicolo an Bord gebraucht. Das Ende der Oper zeigt, wie die Crew den Stockfisch in Venedig präsentiert und dort davon überzeugt. Ein Gabelstapler mit einer Palette Stockfisch fährt herein und eröffnet den Blick in unsere Gegenwart, in der noch immer Stockfisch von Norwegen nach Italien gebracht wird, wenngleich in anderen Mengen und mit anderen Mitteln.
Nicht nur die Rollenverteilung erweist sich als aufwendig mit genannten Solisten plus Rollen für Christofero aus Querinis Mannschaft (Magnus Berg), einer Hausfrau auf Røst (Hildegunn Pettersen), einem Fischer (Thomas Johansen) und dessen Tochter (Sofie Alexandra Arntsen), sondern auch das Bühnenbild. Die Szenerie wechselt immer wieder zwischen Italien und Norwegen; teils muss das Geschehen überblendet werden, um eine Gleichzeitigkeit der Handlung auszudrücken. Dies gelingt durch fahrbare Elemente wie ein Kirchenfenster, eine Treppe, eine Gondel oder die Löwensäule, die alle schnell auf die Bühne gebracht und ebenso schnell wieder herausgeschoben werden können. Dem Lebensstandard entsprechend gestaltet sich die Szenerie auf Røst schlichter: Ein großer Felsen prägt das Bild, später ergänzt durch ein Holzgerüst, auf dem der Fisch zum trocknen aufgehangen wird. Eine Videokulisse im Hintergrund erweckt die Bühne zum Leben, sie lässt rasche Übergänge zu und verleiht dem Sturm eine glaubwürdige Wucht.
Musikalisch steht die Querini-Oper zwischen den Stühlen, Henning Sommerro verpflichtet sich nicht einem Stil, sondern integriert unterschiedlichste Einflüsse in seine Musik. Dem Orchester vertraut Sommerro manche modernen Effekte an, die Sängerpartien setzt er konventioneller. Die aus Italien stammenden Rollen entleihen sich ihren Stil dem Belcanto, die norwegischen Partien ziehen ihre Kraft aus folkloristischen Elementen wie Borduntönen, spannungstragenden Intervallen und dem Joik. Liebesszenen stellt Sommerro gerne musicalartig-idealisiert dar, das Duett zwischen Nicolo und Igna könnte beinahe einem Disneyfilm entspringen. Allgemein ließe sich die Querini-Oper als „Hit-Oper“ bezeichnen, so wie es beispielsweise Carmen von Bizet ist: Eine Fülle an eingängigen Melodien schmeichelt dem Ohr, wiederkehrende Refrains gehen ins Ohr und prägen sich ein.
Das klingende Resultat ist herzergreifend. Das Engagement für dieses eine Event, die Aufführung eines wichtigen Moments der Inselgeschichte, und der Zusammenhalt als eingespieltes Team übertragen sich auf den Hörer. Die Mitwirkenden wollen ihr Bestes geben und so tun sie es auch. Bei Voraussetzungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, unterstützen sich alle gegenseitig in einem familiären Umfeld. Besetzt wurden die Rollen durch Profis wie Laien gleichermaßen: Manche der Sänger standen erstmals auf einer Bühne, andere regelmäßig seit Jahrzehnten; und die Erfahrenen spornen die Neulinge an, über ihre Grenzen hinauszuwachsen. Es erstaunt, dass auf einer so kleinen Insel so hohes musikalisches Niveau erklingt. Hervorgehoben sei dabei der Chor, der sowohl das Volk aus Venedig als auch die norwegischen Inselbewohner darstellen muss, jeweils mit der entsprechenden regionalen Färbung des Gesangs. Er steht ausgesprochen häufig auf der Bühne und wechselt in den kurzen Verschnaufpausen auch noch die Kostüme. Auch das Orchester leistet viel, die „Querini Sinfonietta“ unter Torodd Wigum wurde extra für das Festival zusammengestellt; sie erweist sich als gutes Team, das sowohl aufeinander wie auch auf die Sänger aktiv eingeht. Bestechend ist die Rolle des Querini durch Magne Fremmelid, einem sonoren Bass mit durchdringender Stimme und Blick für glänzende Details. Jeanette Goldstein überzeugt als Maria, spürbar fiebert das Publikum mit, als sich ihre Liebesaffäre zuspitzt. Heimliche Hauptrolle der Oper bleibt allerdings Soetkin Baptist als Kormoran: In Erinnerung bleibt sie durch ihre erstaunlich naturnahen Vogelrufe, aber auch durch ihren sinnlich-feinen Gesang von unbeschreiblicher Reinheit. Die aus Belgien stammende Sängerin lebt sich in ihre ungewöhnliche Rolle ein und geht in ihr auf, schauspielerisch wie sängerisch: Dieses Talent ist einer großen Entdeckung würdig!
Nach der Oper schließt sich eine Gala an, in welcher die Musiker von Querini noch Highlights aus anderen Opern darbieten. Die erste Hälfte steht im Zeichen von Bizets Carmen, danach tragen die Sänger noch einige ihrer persönlichen Lieblingsarien vor. Bei Carmen (in norwegischer Übersetzung!) steht vor allem der Spaß im Vordergrund, kecke Scherze und lustige Momente werden in die Musik eigebunden; die zweite Hälfte birgt manch einen Opernschatz, der gewissenhaft und reflektiert dargeboten wird.
Am kommenden Tag schließt das Querini-Festival traditionell mit einem Ausflug nach Skomvær, ein kleines Künstlerparadies südwestlich der Hauptinsel. Mit dem Boot kommen wir an Inseln mit Wikingergräbern vorbei, am „Tor zur Hölle“ und an Sandøy, wo Querini und seine Mannschaft 1432 gestrandet sind. Nur fünf Häuser stehen auf Skomvær, eines davon ist der vielbesungene und -abgelichtete Leuchtturm Skomvær fyr. Künstler aus aller Welt bewerben sich für einen dreiwöchigen Aufenthalt auf diesem Fleckchen Land, wo sie in Abgeschiedenheit arbeiten und sich von der Landschaft sowie dem einmaligen Licht inspirieren lassen können. Während unseres Aufenthalts sehen und hören wir einige der hier entstandenen Kunstwerke inklusive des von den Querini-Solisten vorgetragene Lied „Har du fyr?“ von Ola Bremnes. Bei dieser unbeschwerten Idylle kann ich mir kaum vorstellen, dass diese kleine Meereserhebung im Zweiten Weltkrieg strategisch umkämpft war und schließlich vermint wurde. Heute ist nichts mehr übrig von dieser dunklen Vergangenheit und der Blick auf die benachbarten Inseln und das Meer lässt zurückdenken an die vergangenen Tage. Die Zeit auf Røst wird mir lange in Erinnerung bleiben, alleine schon die Anreise auf der Fähre und die Herzlichkeit der Leute, die gemütliche Lebensführung und gleichzeitig der Ehrgeiz, gemeinsam Großes zu schaffen, und das alles in unverwechselbarer Landschaft und mit dem Gefühl von Freiheit.
Festspiele in Bergen: Grieghallen, Griegsalen; Edvard Grieg, Ralph Vaughan Williams, Sofia Gubaidulina; Bergen Filharmoniske Orkester, Edward Gardner (Leitung), Gidon Kremer (Violine), Ah Ruem Ahn (Klavier)
Festspiele in Bergen: Griegsalen; Gubaidulina, Kremer und das Bergen Filharmoniske Orkester (Foto von: Oliver Fraenzke)
Im letzten Konzert, welches ich im Rahmen der Festspiele in Bergen höre, läuft alles zusammen: Im Griegsaal der Grieghalle spielt das Bergen Filharmoniske Orkester unter Leitung von Edward Gardner das Offertorium der Festspielkomponistin Sofia Gubaidulina mit Gidon Kremer als Solist an der Geige, die Fantasie über ein Thema von Thomas Tallis von Ralph Vaughan Williams sowie das Klavierkonzert a-Moll op. 16 von Edvard Grieg. Am Klavier sitzt die Gewinnerin des letzten internationalen Grieg-Wettbewerbs Ah Ruem Ahn.
Sofia Gubaidulina hört das Ende im Anfang, spinnt einen roten Faden durch das gesamte Werk, und erst im letzten Ton erfüllt sich der vollständige Sinn. Sich auf reine Intuition beim Komponieren zu berufen, genügt der gebürtigen Russin nicht, sie benötigt einen mathematischen Hintergrund, der eine zwingende Logik und Stringenz ermöglicht. Es ist die Mitte zwischen den beiden Extremen, die anzustreben ist. Offertorium gehört zu den meistgespielten Werken Gubaidulinas und entstand durch die gegenseitige Bewunderung Gubaidulinas und Kremers, der es auch heute darbietet, 27 Jahre nach der Uraufführung. Der religiöse Kontext bleibt unüberhörbar, wie der Titel suggeriert; die Melodie basiert auf Bachs Musikalischem Opfer BWV 1079. Kremer nimmt das Konzert zurückhaltend und mit gewisser Distanz, lässt sich nicht von den ungeheuren Gefühlswelten überrumpeln. Den Ausdruck verlagert er nach innen, spürt ihn mehr, als ihn aktiv herauszuholen. So entsteht eine ehrliche und glaubwürdige Wirkung der Spiritualität, welche diese Musik durchdringt. Zwar mischt sich im Griegsaal das Zusammenspiel zwischen Solist und Orchester nicht immer, aber doch hören wir kontinuierliche Interaktion zwischen Gidon Kremer und Edward Gardner, der die Bergner Philharmoniker zu enormer Klangfarbenpracht anhält.
In Ralph Vaughan Williams‘ Fantasie über ein Thema von Thomas Tallis kommt der Streicherapparat des Bergen Filharmoniske Orkesters in voller Pracht zum Einsatz. Jede einzelne Stimmgruppe ist für sich vollendet, präsentiert runden und warmen Ton in zahllosen Schattierungen und dynamischen Details. Darüber hinaus verschmelzen sie zu einem miteinander wirkenden Ganzen, ein vielschichtiger und dreidimensional plastischer Klangraum entsteht, der zudem durch das Fernorchester bereichert wird.
Zuletzt hören wir Grieg im Griegsaal der Grieghalle in der Griegstadt Bergen. Die Gewinnerin des Griegwettbewerbs Ah Ruem Ahn präsentiert sein Klavierkonzert a-Moll op. 16, das schon von Franz Liszt in höchsten Tönen gelobt wurde und schnell seinen Weg in die großen Konzerthäuser fand, wo es heute nicht mehr wegzudenken ist. Wie auch schon bei ihrem Rezital in Troldhaugen verblüfft die Koreanerin durch ihr flüchtiges, hingeworfen wirkendes Spiel, das der Musik eine Ungezwungenheit verleiht, die an Improvisation erinnert. Sie lässt es zu, dass das Orchester sie im Kopfsatz teilweise dynamisch übersteigt, doch um so prächtiger kommt sie jedes Mal wieder aus der Tiefe hervor. Für das Bergen Filharmoniske Orkester gehört das Konzert zu den Evergreens, die sie stets auf neue darbieten müssen: Entsprechend bekannt ist allen Musikern diese Musik und jedes Detail des Zusammenspiels. Dennoch stumpfen die Instrumentalisten dadurch nicht ab, sondern nutzen die Werkkenntnis für feine Artikulation und bemerkenswertes Zusammenwirken, haben noch immer Freude an Griegs Musik.
Und mit dem Konzert klingt auch meine Zeit bei den Festspielen in Bergen aus, erfüllt von Musik und Eindrücken geht es zurück nach Deutschland. Doch Norwegen wird mich wieder anziehen: Die Offenheit der Musiker, die Ungezwungenheit und Suche nach immer umfassenderem Verständnis für die Musik gibt der Kultur in den skandinavischen Ländern einen besonderen Stellenwert.
Festspiele in Bergen: Domkirke St. Olav; Johann Sebastian Bach, Sofia Gubaidulina; Bergen Domkor, Kjetil Almenning (Leitung), Andreas Brantelid (Cello), Manuel Hofstätter, Gard Garshol (Schlagzeug), Sigurd Melvær Øgaard (Orgel)
Festspiele in Bergen: Domkirke St. Olav; Domkor, Kjetil Almenning und Andreas Brantelid (Foto von: Oliver Fraenzke)
Der Domkor Bergen unter Kjetil Almenning präsentiert ein Chorkonzert mit Musik von Johann Sebastian Bach und Sofia Gubaidulina in der Domkirke St. Olav. Nach Präludium und Fuge f-Moll BWV 534 mit dem Organisten Sigurd Melvær Øgaard singt der Chor die Kantate Fürchte dich nicht BWV 228. Die zweite Hälfte des Programms bildet Gubaidulinas Sonnengesang nach Francis von Assisi, am Solo-Cello sitzt Andreas Brantelid.
Die Thematik des Todes bindet Bachs Kantate „Fürchte dich nicht“ BWV 228 und Sofia Gubaidulinas Sonnengesang nach einem Text Franz von Assisis zusammen. Während Bachs Kantate für Beerdigungen geschrieben wurde, verfasste Assisi seinen Gesang über die Schöpfung und die Geschöpfe kurz vor seinem Tod, lobt Gott von der ersten bis zur letzten Sekunde des menschlichen Lebens. Anlässlich des 70. Geburtstags des Cellisten Mstislav Rostropovich vertonte Sofia Gubaidulina den Sonnengesang und überließ dem Jubilar eine gewichtige Solopartie. Der Cellist schlüpft gar in die Rolle eines Priesters und „segnet“ zuerst die Musiker und schließlich das Publikum durch den Klang eines Flexatons, den er beinahe wie Weihrauch verteilt. Auch die Basstrommel muss der Solist bedienen.
Bestens vertraut mit der Akustik in der Domkirke St. Olav, brilliert der Bergen Domkor unter Kjetil Almenning durch glasklaren Gesang und Verständlichkeit bis in die letzte Reihe. Charakteristisch für den Chor ist die Eigenständigkeit der einzelnen Stimmgruppen, die durch minimale Unterschiede der Klangfärbung voneinander abgesetzt werden. Die Gruppen hören aufeinander und platzieren die eigene Stimme bewusst im Geflecht der Kontrapunktik.
Geladen mit Pathos und Leidenschaft tritt Andreas Brantelid auf, verleiht jedem Ton Gewicht und Bedeutung. Die vollen 40 Minuten hält er diese Anspannung durch, was auch für den Hörer anstrengend, zeitgleich aber auch anregend ist. Im Wechselspiel geht Brantelid vor allem auf die beiden Schlagzeuger ein und kooperiert mit ihnen, den Chor betrachtet er mehr als unabhängige Schicht.
Festspiele in Bergen: Lysøen; Ole Bull, Franz Liszt, William Kroll, Wolfgang Amadeus Mozart, Dmitri Schostakowitsch; Catharina Chen (Violine), Jie Zhang (Klavier)
Festspiele in Bergen; Lysøen von außen (Foto von: Oliver Fraenzke)
Die Veranstaltungsorte der Festspiele in Bergen reichen auch über die Stadtgrenzen hinaus. In Ole Bulls Haus auf der Insel Lysøen spielen Catharina Chen und Jie Zhang am 27. Mai 2018 ein Konzert mit einem gemischten Programm. Zu hören ist Sæterjentes Søndag und Andante Maestoso von Ole Bull, Au Lac De Wallenstadt aus den Années de pélerinage von Franz Liszt, Banjo & Fiddle aus der Feder William Krolls, die 21. Violinsonate K. 304 e-Moll von Wolfgang Amadeus Mozart und die 24 Préludes von Dmitri Schostakowitsch op. 34a in der Fassung für Violine und Klavier.
Etwa eine Stunde Bootsfahrt von Bergen entfernt liegt Lysøen, die Lichtinsel, und birgt die Sommerresidenz von Ole Bull: Eine eigentümliche Villa in der typischen Machart der norwegischen Holzhäuser, aber durch unzählige Holzschnitzereien, bunte Fenster und kunstvolle Dekoration verziert – ein Ort von verschwenderischer Schönheit. Mit dem hohen Holzdach wirkt das Hauptzimmer beinahe wie ein Kirchenraum, hier findet das heutige Konzert statt.
Festspiele in Bergen; Lysøen von innen (Foto von: Oliver Fraenzke)
Catharina Chen und Jie Zhang machen aus dem Konzert eine Show, zu den Klängen von Ole Bulls Sæterjentes Søndag treten sie theatralisch auf die Bühne, verbinden durch subtile Übergänge die ersten vier Stücke; Chen tanzt durch den Raum und geht direkt auf den Hörer zu. Dabei geht allerdings nichts an der musikalischen Ernsthaftigkeit und Qualität verloren.
Wie auch die Zyklen von Bach, Chopin, Debussy und zahlreichen weiteren, umspannen die 24 Préludes von Dmitri Schostakowitsch alle zwölf Dur- und alle zwölf Moll-Tonarten, in prägnanter Kürze öffnen sie für kurze Zeit die Tore zu eigenartigen Klangwelten und verschließen sie sogleich wieder. In der heutigen Darbietung überzeugen sie durch ihre Schroffheit und Prägnanz, auch wenn sie mehr Kontraste hätten vertragen können. Am wenigsten liegt den Musikern die feine, zarte Musik Mozarts, der in seiner e-Moll-Sonate den Tod seiner Mutter verarbeitete. Chen und Zhang geben zu viel hinein in diese Musik, überfluten die zerbrechliche Welt Mozarts mit überschwänglicher Emotion. Doch genaue diese ist es auch, die die beiden Musiker auszeichnet und uns erinnerungswürdige Erlebnisse im ersten Konzertteil bereitet: Die beiden Stücke des Hausherren Ole Bull überragen durch ihre Passion und ihr unverfälschtes Gefühl, Liszt bleibt fromm und innig. Unterhaltsam gestaltet sich die Humoreske Banjo & Fiddle des 1980 verstorbenen Komponisten William Kroll, sie illustriert einen Wettstreit zwischen den Titelinstrumenten. Das Banjo stellt die Geige durch Pizzicato dar, die Fiedel wird durch Bogenspiel und Borduntöne davon abgehoben.
Die fröhliche Art von Catharina Chen und Jie Zhang steckt an, das Publikum bleibt aufmerksam und geht mit. Es ist eine Kunst für sich, das Publikum zu gewinnen und mitzureißen. Die Musiker des heutigen Konzerts präsentieren auf eindrucksvolle Weise, wie sehr doch der Hörer integriert werden kann in das Geschehen auf der Bühne – und die Trennung zwischen Musiker und Publikum verschwindet, alles wird zu einem einzigen Raum des Geschehens.
Festspiele in Bergen: Troldhaugen, Grieg Villa; Percy Grainger, Frederick Delius, Duke Ellington, Johann Sebastian Bach, Edvard Grieg; Ellen Nisbeth (Bratsche), Bengt Forsberg (Klavier)
Festspiele in Bergen: Griegs Villa, Troldhaugen um Mitternacht (Foto von: Oliver Fraenzke)
Transkriptionen der laut Percy Grainger „besten Komponisten“ für Bratsche und Klavier werden am 26. Mai 2018 in Griegs Wohnzimmer in Troldhaugen von Ellen Nisbeth und Bengt Forsberg dargeboten. Von Grainger hören wir Auszüge aus der Skandinavisk Suite (Arr. Ellen Nisbeth), Arrival Platform Humlet und To a Nordic Princess (Arr. Ellen Nisbeth und Hans Palmquist), des Weiteren stehen auf dem Programm die zweite Sonate von Frederick Delius (Arr. Lionel Tetris), Auszüge aus Anatomy of a Murder (Arr. Hans Palmquist), die Gigue aus der zweiten Violinpartita von Johann Sebastian Bach (Arr. Ellen Nisbeth) und die Sonate c-Moll op. 45 von Edvard Grieg (Arr. Ellen Nisbeth).
Als der australische Komponist Percy Grainger seine Liste der besten Komponisten schrieb, setzte er sich selbst „nur“ auf Platz 9, nach Delius und Ellington, aber vor Mozart und Tschaikowski; auf Platz 1 steht Johann Sebastian Bach. Grainger arbeitete als junger Mann am Klavierkonzert von Edvard Grieg und besuchte den Komponisten 1907 in seinem Heim Troldhaugen. Die beiden Musiker freundeten sich trotz des großen Altersunterschiedes schnell an und Grieg schrieb noch einen Tag vor seinem Tod einen lobenden Brief an seinen Kollegen. Grainger verbreitete die Musik Griegs international, nahm unter anderem das Klavierkonzert gemeinsam mit Leopold Stokowski auf und gab Noten des Norwegers heraus.
Als Komponist schrieb Grainger hauptsächlich kürzere Werke, die meisten von ihnen bleiben im Rahmen von Miniaturen. Dabei inspirierte ihn der nordische Stil und die Kompositionsweise Griegs, wie sich deutlich beispielsweise in seiner Skandinavischen Suite abzeichnet oder auch in To a Nordic Prinzess, dem Hochzeitsstück für seine schwedischstämmige Verlobte. Einen besonderen „nordischen“ Bezug finden wir in der Zweiten Sonate von Frederick Delius, in der Anklänge an das Klavierkonzert von Edvard Grieg hörbar werden.
Ellen Nisbeth zeichnet sich durch einen eigenständigen Ton aus, der warm und voll ist, dabei eine Rauheit nicht verbirgt. In den Arrangements hebt sie die Vorzüge der Bratsche im Gegenzug zur Geige hervor, insbesondere hierbei die dunkleren und weicheren Klangfarben. Bengt Forsberg und Ellen Nisbeth sind ein eingespieltes Team, sie agieren vollkommen synchron und aufeinander abgestimmt, ergänzen einander prächtig. Die Musiker nehmen sich Freiheiten, vor allem im Bezug auf Rubato, das sich bei Grainger und Grieg deutlich macht. In Griegs Dritter Sonate unterminieren die Tempoänderungen allerdings die rhythmische Kraft und den Drang nach vorne, weicht gar das mächtige Hauptthema auf. Die Randsätze dieser Sonate sind allgemein doch mehr für die schärfere und schrillere Violine geeignet, vielleicht hätte sich ein Arrangement der F-Dur- oder G-Dur-Sonate besser geeignet für einen Vortrag auf der Bratsche. Hinreißend gestaltet sich dafür der Mittelsatz, der ungezwungen entsteht und die zarte Weise sanglich rein präsentiert. Bachs Gigue ertönt heute recht rasch, ein etwas langsameres Tempo hätte mehr Detailarbeit und Klangnuancen ermöglicht. Überzeugen können vor allem Ellington und Delius, hier entfalten sich die beiden Musiker vollkommen. Anatomy of a Murder verleihen sie einen Drive, der sich auf den Hörer überträgt, dabei scheuen Nisbeth und Forsberg auch nicht die Reibungen der wohl gesetzten Dissonanzen. Delius überzeugt durch Frische und Lebensgefühl, die Bratsche holt aus der Musik noch mehr klangliche Differenzierung heraus als eine Violine.
Igudesman & Joo treten mit ihrem dritten Bühnenprogramm „Play it again!“ im Griegsalen der Grieghallen auf. Der Violinist Aleksey Igudesman und der Pianist Hyung-ki Joo mischen Klassik mit Pop, Ernst mit Spaß und bezaubern Kinder wie Erwachsene gleichermaßen.
Wenn Leonard Bernsteins West Side Story mit der Titelmelodie der Simpsons durcheinandergeworfen wird, bis schließlich Sätze wie „I want to be in the Simpsons“ oder „I want to be in Maria“ herauskommen, dann kann nur von Igudesman & Joo die Rede sein. Die beiden Musiker greifen in der Musikgeschichte vor und zurück, bilden die unmöglichsten musikalischen Kollagen und vereinen, was niemals je hätte vereint werden sollen.
In ihrem neuesten Streich, Play it again!, thematisieren sie den beliebtesten Teil eines klassischen Konzerts: Die Zugabe. Hier kann der Musiker noch einmal unter Beweis stellen, was er kann, seine gesamte technische Potenz bündelt sich in einem kurzen und prägnanten Stück, das zugleich das Publikum hinausgeleitet. Und so kommen Iguldesman & Joo auf die Bühne, danken für den Applaus und gehen wieder – lassen sich dann aber doch noch zu einer Zugabe überreden … und noch einer … und noch einer.
Igudesman & Joo schlüpfen in die Rollen verschiedener Musiker, die sich in ihren Zugaben präsentieren wollen: in den spießig-genauen Deutschen, den coolen Engländer, den überakzentuierenden Franzosen und sogar in den „fiedelnden Alien“, mit dem erster Kontakt aufgebaut wird. Wir hören eine Uraufführung des asiatischen Komponisten Song Way Too Long, Musik des Argentiniers Juan Sebastian Bacho und erleben den Hit I Will Survive in seiner ursprünglichen Version, wie ihn Mozart komponierte.
Die Musiker singen, tanzen und spielen, während der Hörer aus dem Lachen kaum herauskommt. Die Mischung aus wirkungsvollen Gags und subtilen Anspielungen innerhalb der Musik spricht jeden an, erfahrene Konzertgänger ebenso wie diejenigen, denen die klassische Musik noch vollkommen fremd ist – jeder kommt auf seine Kosten. Und genau das macht Igudesman & Joo aus: Sie bringen mit Humor Menschen an die Klassik heran und machen Lust auf mehr, sogar ernstere Musik. Dies gelingt durch ihr künstlerisches Können in allen Bereichen, Aleksey Igudesman und Hyung-ki Joo sind nicht nur Komiker, sondern ernstzunehmende Musiker. Hier trifft Qualität und Begeisterung zusammen, heraus kommt ein einmaliges Bühnenprogramm voller Musik, Gesang, Tanz, Scherz und Skurrilität.
Festspiele in Bergen: Grieghallen; Johann Sebastian Bach, Henry Purcell, Manuel Oltra, King Crimson; Ricardo Odriozola (Bratsche und Leiter), Griegakademiets kammerorkester
Im Foyer der Grieghalle hören wir am 26. Mai 2018 mittags um 12 Uhr das Kammerorchester der Griegakademie (Griegakademiets kammerorkester) unter Leitung des Violinprofessors Ricardo Odriozola. Umrahmt wird das Programm von Bach, mit dessen „Vor deinen Thron tret ich hiermit“ die Musiker einziehen und die Bühne auch wieder verlassen. Dazwischen gibt es die Fantasie Nr. 4 von Purcell, Manuel Oltras Suite per a flauta i orquestra de corda und ein Arrangement von King Crimsons FraKctured aus der Feder des Dirigenten.
Vielseitiger könnte ein Programm kaum sein: Von Bach und Purcell über einen spanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts bis hin zur Progressiv Rock Band King Crimson. Der in Norwegen lebende Spanier Ricardo Odriozola weiß, die Welten zu vereinen und zu einem Konzert zusammenzufügen. Er stellte ein Kammerorchester aus Studenten und Lehrkräften der Griegakademie zusammen und lud Gäste aus Schweden ein, um dieses Projekt zu verwirklichen.
Die Musik beginnt hinter der Bühne, zu einer auskomponierten Einleitung treten die Musiker auf die Bühne, aus einem meditativen Orgelton entwickelt sich nach und nach Bachs „Vor deinen Thron tret ich hiermit“, bis das Thema in vollem Glanz erstrahlt. In der Vielstimmigkeit von Bach und Purcell zeigt sich die Qualität der Studenten aus Bergen: Jede Linie besitzt Aussagekraft und mischt sich gleichwertig zu etwas größerem, übergeordnetem, zu einer musikalischen Gemeinschaft. Ricardo Odriozola leitet von den Mittelstimmen aus, wir hören ihn von der Bratsche koordinieren. Seine Wahl, in diesem Konzert die Bratsche und nicht die Geige zu spielen, erweist sich als Geniestreich, denn so werden die weichen, warmen Seiten betont. Für Manuel Oltra legt Odriozola sein Instrument beiseite und stellt sich an das Dirigentenpult. Die Suite besteht aus kurzen Stücken hochwertiger Unterhaltungsmusik, die künstlerischen Anspruch aufweisen und doch unbeschwert ins Ohr gehen. Beschwingt reißen sie den Hörer in ihren Bann, Optimismus erfüllt das tänzerische Spiel zwischen Flöte und Streichorchester. Ricardo Odriozola bearbeitete FraKctured von King Crimsom zu einem treibenden Streichorchesterstück: Es steht im 5/4-Takt und begeistert durch rhythmische Präsenz und Wildheit, wobei von der ersten bis zur letzten Note eine formale Geschlossenheit zu bemerken ist. King Crimson verbindet die Ungezügeltheit der Rockmusik mit einem Sinn für klassische Ausgewogenheit.
Das Talent der zu einem Großteil jungen Musiker ist überragend, alle verstehen sich ohne Worte alleine durch Gesten und sind in der Lage, aktiv zuzuhören. Sie schauen über den Tellerrand des Standard-Repertoires hinaus und finden sich auch in unbekannter Musik zurecht, nehmen sie ernst und begeistern sich für sie. Die Leidenschaft zur Musik wird hier nicht für technische Perfektion geopfert, sondern steht im Einklang mit ihr. Odriozola reiht die einzelnen Stücke nicht bloß aneinander, sondern gestaltet sie in einem dramaturgischen Bogen, wodurch das Konzert ein ganzheitliches Erlebnis wird. [Oliver Fraenzke, Mai 2018]
Festspiele in Bergen: Griegs Villa, Troldhaugen um Mitternacht (Foto von: Oliver Fraenzke)
Die koreanische Pianistin Ah Ruem Ahn spielt in Griegs Villa in Troldhaugen. Auf dem Programm ihres Konzerts vom 25. Mai 2018 stehen Franz Schuberts Klaviersonate c-Moll D. 958, Ricordanza aus den Transzendentalen Etüden von Franz Liszt, Edvard Griegs Poetiske tonebilder op. 3 und Liebesleid von Fritz Kreisler in einem Arrangement von Sergei Rachmaninoff.
Die Sommertage in Norwegen sind lang, und so liegt es nahe, auch zu später Stunde noch Konzerte zu veranstalten: Um 22:30 beginnen die Auftritte in Griegs Wohnzimmer seiner Residenz Troldhaugen. Heute spielt hier Ah Ruem Ahn, die den letzten internationalen Edvard-Grieg-Klavierwettbewerb gewann. Etwa 50 Zuhören passen in das geräumige Wohnzimmer, wenn die Türen zur Veranda geöffnet sind, was zudem Licht der untergehenden Sonne hereinströmen lässt. Die Akustik besticht durch ihre Klarheit und Direktheit an jedem Ort des Raums; Grieg schuf sich einen perfekten Veranstaltungsort für Kammermusikkonzerte direkt in seiner Villa. Auch heute noch finden die Auftritte auf seinem eigenen Steinway & Sons aus den 1890er-Jahren statt, dessen Klang eine gewisse Zärtlichkeit ausströmt, dabei voluminös und voll im Klang bleibt.
Die Darbietungen Ah Ruem Ahns zeichnen sich durch ihre Leichtigkeit und Unbeschwertheit aus. Ungezwungen entstehen die Stücke aus sich heraus und bewahren sich beinahe eine Art Skizzenhaftigkeit, wobei sie zeitgleich Reife ausstrahlen. Dynamisch bleibt die Koreanerin zurückgehalten und intim, Höhepunkte gestaltet sie durch innere Spannung statt durch äußerliche Aufruhr. Ah Ruem Ahn besitzt ein Gespür für Kontraste und weiß genau, wie weit sie diese ausdehnen kann, ohne sie überzustrapazieren. Die viersätzige Schubert-Sonate hält sie als Einheit zusammen, schafft eine private und in der Tiefe brodelnde Atmosphäre – sie vertraut dem Hörer eine persönliche Gefühlswelt an. Ricordanza weist keine Anzeichen eines Virtuosenstücks auf, jede technische Schwierigkeit dient musikalischem Ausdruck. Es macht den Eindruck, eine Harfe spiele auf, wenn Ahn in die oberen Register gleitet: Sie transzendiert den Klavierklang zu orchestraler Vielfalt, so dass man tatsächlich denkt, man höre andere Instrumente mitschwingen. Flüchtig hingeworfen und doch vollendet erscheinen die Poetischen Tonbilder des Hauseigentümers, Edvard Griegs. Die Frühwerke deuten schon an, was Griegs spätere Kompositionen ausmachen sollte: den nordischen Ton und den subtilen Gebrauch von Anklängen an Volksmusik. Rachmaninoff arrangierte unzählige Werke für Klavier Solo, darunter auch drei berühmte Wiener Tänze aus der Feder Kreislers, dabei ergänzte er pianistisch ansprechende Passagen wie schillerndes Tonleiterspiel. Doch selbst diese verleiten Ah Ruem Ahn nicht dazu, sich zur Schau zu stellen, sie bleibt bei ihrem innigen, unprätentiösen Stil.
Das Hauskonzert ist das perfekte Umfeld für eine Pianistin wie Ah Ruem Ahn, welche die Nähe zum Hörer braucht, um sich voll zu entfalten. In dieser privaten Atmosphäre blüht sie auf und überzeugt, indem sie den Hörer direkt anspricht und in ihr Spiel integriert.
Festspiele in Bergen, Håkonshallen: Gubaidulina, Draugsvoll und die Kremereta Baltica (Foto von: Oliver Fraenzke)
Am Abend des 25. Mai 2018 spielt die Kremerata Baltica in der Håkonshallen ein Konzert mit moderner Musik zu Ehren der Festspielkomponistin Sofia Gubaidulina. Ihr Bajankonzert Fachwerk ist Höhepunkt des Abends, den der Widmungsträger Geir Draugsvoll bestreitet, zudem wurde die Kremerata durch Schlagwerker von PERCelleh ergänzt. Die Leitung des Stücks übernimmt Martynas Stakionis. Vor Fachwerk hören wir Arvo Pärts Streicherwerk Fratres mit Gidon Kremer als Solist und Alfred Schnittkes Concerto Grosso, wo sich Kremer die aufstrebende Geigerin Sonoko Miriam Welde als Partnerin nahm.
Schon die Atmosphäre der Håkonshallen verleiht der hier gespielten Musik eine ehrfurchtsgebietende und beinahe spirituelle Wirkung: Die hohen, rauen Steinwände und das aufwändige Holzdach, dazu das Fenster an der Spitze, durch welches das Abendlicht in die Halle strömt. Die Akustik erscheint sakral, angenehmer Hall schmeichelt den Streichern.
Das Programm beginnt mit Arvo Pärts Fratres für Streichorchester mit Solovioline, ein resignatives Stück, welches die Einsamkeit und Isolation des Solisten verbildlicht. Zeitgleich schwingt ein Gefühl der Hoffnung mit, jedoch nicht in physischer, sondern in religiöser Form. Virtuos gibt sich der Solopart, die technischen Anforderungen stellen ein inneres Ringen um sich selbst dar, was das Orchester reflektiert. Kremer blüht in dieser Musik auf und legt eine seiner innigsten Aufführungen dar, die ich von ihm kenne. Er gibt viel von sich Preis in dieser Musik und wir werden Teil seiner Erfahrungen.
Sonoko Miriam Welde kommt hinzu im Concerto Grosso Nr. 1 von Alfred Schnittke. Das Werk lebt vom einem Wechselspiel zwischen den beiden Violinen, die immer wieder gegeneinander ausgespielt werden, konkurrieren, und sich doch auch ergänzen. Erst kurz vor Schluss finden die beiden Instrumente im Unisono zusammen, wenngleich die Idylle nur kurz anhält. Markant ist das präparierte Klavier, welches besonders die Randsätze durch die glockenartigen Töne prägt – zwischenzeitlich wechselt der Pianist zum Cembalo, setzt sich auch hier von den Streichern deutlich ab. Als Vermittler dient das Orchester, von hier kommen die Impulse, auf welche sich dann die drei Einzelkämpfer stützen können. Wie meisterlich spielt Schnittke in diesem Concerto mit den Erwartungen des Hörers: Eingängige Momente werden genau dann unterminiert, wenn wir uns an sie gewöhnen würden, Rhythmen verschieben sich exakt im richtigen Moment – dies ist eine Meisterschaft, die oft zu wenig gewürdigt wird.
Composer in Residence Sofia Gubaidulina wird mit mehreren großen Aufführungen ihrer Hauptwerke geehrt, eine erklingt in diesem Konzert mit der Kremerata Baltica unter Martynas Stakionis und dem Widmungsträger Geir Draugsvoll. Im Januar 2013 kam ich durch eben dieses Stück in prägenden Kontakt mit der Musik Gubaidulinas, Draugsvoll spielte es unter Leitung von Valery Gergiev in der Münchner Philharmonie. Heute erklingt es noch gereifter und der Solist lässt spüren, wie überwältigt er noch immer von diesem Konzert ist. Das Atmen steht im Mittelpunkt, die gesamt Musik bildet ein Ein- und Ausatmen in allen Formen ab, von Hecheln, tiefem Atem bis hin zu Seufzen. Das Bajan eignet sich natürlich für solch eine Idee, reguliert schließlich die Veränderung des Luftstroms den Klang. Draugsvoll bäumt sich auf, genießt die wilden Dissonanzen, Cluster und plötzlichen Brüche. So verleiht er ihnen Sinn und Struktur, fasst die Klänge in Einheiten zusammen und schafft ein Kontinuum. Als Zugabe gibt es Piazzolla, als „Dessert“, wie es Draugsvoll lächelnd, aber passend formuliert.
Einmal mehr verschlägt es mich in den hohen Norden, nach Norwegen. Mein Ziel sind diesmal die Festspiele in Bergen, das größte Musikfestival Nordeuropas, wo ich im Laufe von drei Tagen insgesamt acht Konzerte besuche.
Festspiele in Bergen: Byparken, der Stadtpark (Foto von: Oliver Fraenzke)
Gegründet wurden die Bergen Festspillene 1953 nach einer Idee der Sängerin Fanny Elsta, die sich das von Grieg ausführte Musikfest in Bergen von 1898 als Vorbild nahm. König Haakon VII eröffnete die ersten Festspiele, lud dazu Leopold Stokowski, Kirsten Flagstad und Per Aabel ein. Schnell entwickelte sich das Festival zu einem Ereignis internationaler Bedeutung. Als zentral erwiesen sich hierfür die Initiative für Neue Musik, die Integration des Jazz seit den 1970ern sowie die Eröffnung der Insel Lysøen als Veranstaltungsort 1974 und die Fertigstellung der Grieghalle 1978.
Das aktive Bestreben, zeitgenössische Musik zu fördern, schlägt sich in der jährlichen Ernennung eines Festspielkomponisten nieder, der in dieser Zeit vermehrt aufgeführt wird. Zumeist gebührt skandinavischen Komponisten diese Ehre, so unter anderem Harald Sæverud 1986, Ketil Hvoslef 1990, Ragnar Søderlind 1995, Magnus Lindberg 2006 oder Bent Sørentsen 2007. Postum wurde Edvard Grieg 1993 als Festspielkomponist ausgezeichnet. In diesem Jahr fiel die Wahl auf die 1931 geborene Russin Sofia Asgatowna Gubaidulina, die mit ihrem tiefsinnigen, religiös aufgeladenen und auf Bach bezogenen Stil zu den herausragenden Komponistinnen unserer Zeit gehört.
Eine besondere Rolle kommt dem Klavierkonzert a-Moll op. 16 von Edvard Grieg zu, das seit Gründung des Festivals jedes Jahr von einem prominenten Pianisten dargeboten wurde: Kayser, Richter, Ashkenazy, Lupu, Austbø, Steen-Nøkleberg, Gilels, Schiff, Andsnes, Gimse und Süssmann sind nur einige der zu nennenden Namen. In diesem Jahr hören wir die Gewinnerin des internationalen Grieg-Wettbewerbs Ah Ruem Ahn mit dem Klavierkonzert, begleitet vom Bergen Filharmoniske Orkester unter Edward Gardner.
Die Festspiele stehen unter königlicher Schirmherrschaft und werden seit 2012 von Anders Beyer geleitet. Zu den Förderern gehören unter anderem DNB, Statoil, Bergens Tidene und Dagens Næringsliv.
Was mich zu den Festspielen zieht, ist die Vielseitigkeit der Veranstaltungen von Musik, Tanz und Kunst bis hin zu einer Reihe von besonderen Ereignissen, so beispielsweise einer VR-Arena. Musik nimmt dabei einen besonderen Stellenwert ein: Kammermusik, Chormusik und Orchestermusik werden in jedem Rahmen gespielt, vom intimen Hauskonzert bis zum öffentlichen Ereignis auf dem großen Festplatz. Unvergesslich sind für mich die Auftritte in den Häusern von Edvard Grieg, Ole Bull und Harald Sæverud, wo ich Musik in der authentischen Atmosphäre ihres Entstehens genießen kann.
Die Auswahl aus mehreren hundert Konzerten und über 70 Veranstaltungsorten fiel schwer, schließlich fiel die Entscheidung auf folgende acht Auftritte:
Bergen Filharmoniske Orkester, Gidon Kremer, Ah Ruem Ahn, Edward Gardner
In den kommenden acht Tagen werde ich zu jedem dieser Konzerte eine Rezension auf www.the-new-listener.de veröffentlichen und meine Eindrücke von den Festspielen in Bergen teilen.
Am 5. April 2018 findet die Uraufführung von Knut Vaages neuem Orchesterwerk „Orkesterdialogar“ statt, Veranstaltungsort ist das Konserthus in Stavanger. Es spielt das Stavanger Symfoniorkester unter Eivind Gullberg Jensen. Nach der Uraufführung hören wir das Klavierkonzert D-Dur op. 13 von Benjamin Britten mit Leif Ove Andsnes und die Erste Symphonie e-Moll op. 39 von Jean Sibelius.
Als Gründungsmitglied des Musikkollektivs Avgarde kam Knut Vaage in Kontakt mit einer Generation junger, aufstrebender Komponisten um Ketil Hvoslef, der älter und erfahrener als seine westnorwegischen Kollegen ist, sich jedoch stets als Freund auf Augenhöhe verstand und nicht als Mentor auf dem Geniepodest. Zu Avgarde gehörten auch Torstein Aagaard-Nilsen, Glenn Erik Haugland, Ricardo Ordiozola und Jostein Stalheim – musikalische Resultate dieser Zeit finden sich unter anderem auf einer Solo-CD des ebenfalls der Gruppe zugehörigen Pianisten Einar Røttingen. Schnell profilierte sich Knut Vaage als einer der herausragenden Komponisten des Landes und erhielt zahlreiche, teils internationale Aufträge. So zählen heute zu seinem Œuvre drei Opern und ein Ballett, etliche Orchesterwerke – teils mit Solisten oder Elektronik -, Solo- und Kammermusik sowie eine Reihe von Lehrwerken; CDs erschienen bei Lawo, Aurora und Hemera, Norsk Musikforlag A/S hat bis jetzt dreizehn seiner Werke verlegt.
„Orkesterdialogar“ heißt sein heute uraufgeführtes Werk, übersetzt aus dem Neunorwegischen „Orchesterdialoge“. Es handelt sich um einen Auftrag des Norsk Musikforlag A/S und des Stavanger Symfoniorkester, die es auch verlegen beziehungsweise uraufführen. Mit einer Länge von etwa dreizehn Minuten entspricht Orkesterdialogar im Umfang einer klassischen Konzertouvertüre, welche erhebliche Ansprüche an die Beteiligten stellt, so dass es beinahe den Anschein eines Konzerts für Orchester hat. Im Zentrum steht die Betrachtung des dialogischen Austauschs, der zunächst zwischen zwei Solisten stattfindet, sich allerdings immer mehr über ganze Orchestergruppen ausbreitet. Die verschiedenen Konversationen unterteilt Vaage durch Abschnitte Senza misura, in denen das Stück zur Ruhe kommt und das Atmen als Lebenselixier in den Fokus rückt, indem die Bläser tonlos in die Instrumente pusten. Über weite Strecken erheben sich die Dialoge über ausgehaltenen Liegetönen, wodurch Kontinuität und Volumen auf klanglicher Ebene entstehen. Nach und nach wird die Musik eruptiver und rhythmisch belebter bis hin zu wahrhaften Explosionen, doch fällt sie immer wieder zu ihrem ruhigen Ausgangspunkt zurück. Wie er es in vielen seiner Werke tut, überrascht Knut Vaage auch in den Orkesterdialogar mit etwas Unerwartetem: Kurz vor dem Ende lichtet sich die Musik für wenige Sekunden auf, offenbart homophone, beinahe heitere Züge. Danach schließt sich der Kreis und das Material des Anfangs kehrt wieder. Es scheint, als wolle Knut Vaage mit der Aufhellung denen eine lange Nase zeigen, die ihn als kategorisierbaren Modernisten einordnen wollen – denn eben diese Passage resultiert logisch aus dem, was bislang geschah! Es ist ein eindrucksvolles und reifes Werk, welches Knut Vaage uns heute präsentiert. Der aufführende Dirigent, Eivind Gullberg Jensen, arbeitete nicht nur mit dem Orchester, sondern auch mit dem Komponisten eng zusammen und war gewissermaßen beteiligt an dieser Komposition. Die rhythmisch anspruchsvollen Passagen ziehen den Hörer nach vorne, nur um ihn durch das Atmen zurück in die Ruhe zu führen. Nicht die technischen Mittel machen die Orkesterdialogar modern (die Effekte von Clustern und geblasener Luft zählen eigentlich schon zur Konvention), sondern die schlüssige Struktur in Kombination mit souveräner Orchesterbehandlung. Vaage schlägt eine Brücke zwischen vergangenen Epochen und visionärem Blick in die Zukunft.
Standing Ovations gibt es für das nächste Stück, was einerseits verwundert, da es sicherlich kaum jemand im Saal je zuvor gehört hat, andererseits aber auch verständlich ist, reißt es doch mit ansteckender Energie mit und wird von allen Beteiligten bravourös dargeboten. Die Rede ist von Brittens Klavierkonzert D-Dur op. 13, seinem einzigen Klavierkonzert, dem jedoch in den kommenden Jahren noch Young Apollo für Klavier und Streicher sowie Diversions für Klavier linke Hand und Orchester folgen sollten. Das Konzert strotzt vor jugendlichen Kraft und rhythmischer Präsenz, welche in allen Sätzen vorhanden sind. Die Gesamtform ist ungewöhnlich mit den Satzbezeichnungen Toccata, Walzer, Impromptu und Marsch, was dem Werk allein schon eine gewisse Eigentümlichkeit verleiht. Der heutige dritte Satz ersetzte bei einer Revision von 1945 Rezitativ und Arie der originalen Fassung von 1938, jene Teile also, welcher von der damaligen Kritik als energetisches Hemmnis für die Gesamtform angesehen wurden. Impromptu ist eigentlich ein irreführender Begriff, handelt es sich doch um eine strenge Variationsform, in welcher das Thema omnipräsent bleibt. Charmant gestaltet sich der Walzer, eine beinahe Ravel’sche Inspiration mit Witz und subtilen Orchestereffekten, über die sich immer wieder das Soloklavier schiebt. Die Rahmensätze beeindrucken mit Wucht und Stärke, fordern pianistische Höchstleistungen und stellen orchestrale Effekte zur Schau, zeigen den jungen Komponisten als Virtuosen und als Orchestrator, der sich bereits zu jenem Meister entwickelt, der später das War Requiem oder Death in Venice komponieren wird.
Leif Ove Andsnes kam früh in Kontakt mit Brittens Klavierkonzert, es war damals seine erste Begegnung mit dem Engländer – in Form der legendären Aufnahme mit Svjatoslav Richter als Solist und Britten selbst als Dirigent (die LP gemeinsam mit dem von Mark Lubotsky gespieltem Violinkonzert wurde wiederveröffentlicht als CD bei: London 417 308-2, Decca, EAN: 0 28941 73082 4). Seine Begeisterung war von Beginn an so stark, dass er das Konzert schon in jugendlichem Alter studierte und aufführte. Nachdem Andsnes das Konzert jahrelang ruhen ließ, holte er es nun wieder hervor und führt es mit verschiedenen Orchestern in zahlreichen Städten auf. Wir hören den für Leif Ove Andsnes so charakteristischen Anschlag, der bei aller dynamischen Vielfalt und allem energischen Drängen eine gewisse Innigkeit und Introversion nicht verleugnet. Die Musik bleibt frisch und unverbraucht, seine detailgenaue Kenntnis jeder einzelnen Note verleitet Andsnes nicht zur Routine, sondern hält ihn dazu an, bei jeder Aufführung alles neu entstehen und das Ereignis zuzulassen. Seine Vorstellungen überträgt er auch auf das Orchester, das symbiotisch mit ihm harmoniert. Als Zugabe bietet uns Andsnes noch Debussy dar: Jardins suis la pluie aus den Estampes, Tribut an den 100. Todestag des unaufdringlichsten aller Revolutionäre. Dass Andsnes‘ Spiel gezügelt und innig bleibt, kommt Debussys Klangwelt sehr zugute, und so erleben wir zerbrechliche Farben, sinnlich-bildhafte Kaskaden und Finesse in reinster Form.
Nach der Pause erklingt die Erste Symphonie von Jean Sibelius, die zu den meistgespielten Werken aus Finnland gehört. Nun habe ich die Freude, den Künstler noch einmal aus einer anderen Perspektive zu erleben: Leif Ove Andsnes sitzt jetzt im Publikum und lauscht der Symphonie. Er hat den Platz neben mir und so spüre ich, wie sich der Fokus und die Präsenz seines Hörens auf sein Umfeld überträgt. Einmal mehr wird mir klar, dass ein guter Künstler nur dann wirklich gewissenhaft mit der Musik umgeht, die er spielt, wenn er ebenso gewissenhaft hört und jeden Moment sich erfüllen lässt. Der Zusammenhang ist frappierend und doch logisch, kann ein Musiker schließlich nur das aktiv umsetzen, was er auch wahr- und aufnehmen kann.
Die Erste Symphonie ist nicht, wie oft kolportiert, das symphonische Erstlingswerk des jungen Finnen: Zuvor entstand bereits Kullervo, ein Koloss von beinahe 80 Minuten Spieldauer mit drei rein orchestralen Sätzen, einem mit Chor sowie einem beinahe halbstündigen für Solisten, Chor und Orchester. Doch Sibelius zog das Werk nach der Uraufführung zurück, es wurde erst nach seinem Tod entdeckt. Auch an seiner Ersten Symphonie feilte Sibelius noch im Jahr nach der Uraufführung, die ursprüngliche Fassung ist nicht mehr erhalten. Es lässt sich von einer wahrhaft „finnischen“ Symphonie sprechen, ein Idiom, welches er bereits in Kullervo ergründet hat. Der erste Satz steht nach der langsamen Einleitung im 6/4-Takt, kein untypisches Metrum für Finnland, und auch der zweite Satz kehrt zwischendurch zu diesem Metrum zurück. Das Scherzo steht im 3/4-Takt, doch besteht eindeutige Zweitaktigkeit – zudem findet sich im Thema ein Auftakt, der nur selten realisiert wird, vielleicht da er ungewöhnlicherweise gegen die scheinbare Anatomie des Themas ankämpft. Alleine die Öffnung nach der Einleitung reicht, den Hörer in den Bann zu ziehen: Es scheint, als ginge die Sonne auf, wenn die Violinen über rasche Repetitionen erstmalig das Hauptthema vortragen und steigern. Die markante Rhythmuspräsenz zieht sich sogar durch den langsamen Satz, der nicht weniger energiegeladen ist als die ihn umrahmenden Sätze. Das Scherzothema stellt die Pauke vor, das Orchester folgt, wodurch es archaisch, aber keineswegs banal auftritt. Komplex ist das Finale quasi una fantasia, in welchem Sibelius noch einmal dem Hörer Durchhaltevermögen abverlangt, ihn aber mit hinreißender Musik belohnt.
Der Bezug zur Musik fesselt, mit dem Eivind Gullberg Jensen dirigiert. Er setzt das Jugendliche um und gewährt parallel Einblick in das schon zu diesem Zeitpunkt ausgefeilte Geschick als Komponist, das Sibelius besitzt und mit einer Inspiration vereint, die seinen Freigeist und seine Liebe zur Natürlichkeit offenlegt. Gullberg Jensen hat den Mut, das umzusetzen, was in der Partitur steht, so beispielsweise die zahlreichen Feinheiten in der Artikulation, welche die meisten Dirigenten unbeachtet lassen. Im Mittelsatz das Thema nicht verwaschen dahinfließen zu lassen, sondern gemäß der Bindebögen auch kurz abzusetzen und ihm so Profil und Kontur zu verleihen, bedeutet für mich, sich aktiv der üblichen Vortragsweise entgegenzustellen zu Gunsten einer Klarheit, die zweifelsohne in der Musik enthalten ist. Dynamisch setzt er den Schwung frei und entfesselt den Drang nach vorne, Musizierfreude und der eindeutig „nordische Ton“ bleiben stets präsent. Körperlich und geistig geht Gullberg Jensen auf die Musik ein und in der Musik auf.
Es ist ein denkwürdiges Konzert, welches ich heute in Stavanger erleben darf, und gerne wäre ich noch geblieben, es am folgenden Abend ein weiteres Mal hören zu können. Die Musikkultur und deren Institutionen in Norwegen sind nicht nur staatlich ausgezeichnet gefördert, was auch in Deutschland auf breiterem Feld wünschenswert wäre, die Musiker sind auch freisinniger und bereit, der musikalischen Sache auf den Grund zu gehen, sie nicht nur oberflächlich darzustellen. Es ist keineswegs so, dass man mehr Proben hätte als in Mitteleuropa (nach wie vor eine bedauerliche Tatsache, welche den Konventionen der internationalen Professionalität zu verdanken ist), der Hauptunterschied ist, dass das Individuum bereit ist, sich mit dem ganzen Kollektiv in den Dienst von etwas Größerem zu stellen: der Musik selbst.
Das Reisen in andere Länder ist immer auch eine kulturelle Bereicherung, wenn man sich nur darauf einlässt. So war es für mich ein großer Gewinn, eine Rundreise durch eines der für mich schönsten und vielfältigsten Länder zu starten und dort alles nur Mögliche an musikalischen Impressionen in mich aufzunehmen, was sich einem als einfachem Touristen so bietet – in diesem Fall in Norwegen.
Die Musikgeschichte in diesem Land unterscheidet sich grundlegend von der aller anderen Länder. Norwegen ist ein absoluter Sonderfall. Zentraler Grund dafür ist die lange Unterdrückung des heutigen eigenständigen Königreichs zuerst unter dänischer Herrschaft von 1380, als der dänische König Olav Håkonsson Norwegen erbte, bis 1814, und anschließend bis 1905 in Personalunion mit Schweden. Dies hatte zur Folge, dass sich keine höfische Kunstmusik entwickeln konnte, dafür aber die Volksmusik sich wie an kaum einem anderen Ort ausprägen konnte. Natürlich gab es auch Kunstmusik vor der Besatzungszeit; die norwegische Musikgeschichte beginnt nachweisbar ca. 1500 vor Christus, wie Funde von Bronzehörnern zeigen, und auch Lieder aus der Wikingerzeit sind uns heute bekannt, doch herrschte ebenso hier in jüngerer Zeit ausländischer Einfluss vor: 1030 wurde Norwegen christianisiert und der gregorianische Choral eingeführt, der jedoch sehr bald ein nordisches Sonderleben zu führen begann, was im Choralsatz in parallel geführten Terzen ersichtlich ist statt wie auf dem Kontinent in Quint- und Quartparallelen. Während der Personalunion mit Dänemark war der Musikerberuf hauptsächlich ausländischen Stadtmusikanten vorbehalten, die selbstverständlicherweise ihre Musik importierten. So verwundert auch nicht, dass Norwegens frühestes Stück eines namentlich bekannten Komponisten, des Caspar Ecchienus (ca. 1550 – ca. 1600), im niederländisch-polyphonen Stil verfasst ist. Die Volksmusik beschritt einen gänzlich anderen Weg; seit dem Mittelalter finden sich aus sämtlichen Epochen Stoff und Gattungen, von Kæmpeviser – Kampfweisen (heroischen Balladen) – bis zu religiösen Liedern, von Hirtengesängen bis zu ersten dichterischen Formen in etwas späterer Zeit, findet sich alles in den Wurzeln der Volksmusik. Ausländischer kontinentaler Volksliedtanz wurde recht bald verdrängt von noch heute existierenden Tänzen, unter denen die wohl berühmtesten Springar oder Springdans genannt, Halling und Gangar sind. Besonders für den Solotanz der Männer, den Halling, gibt es heute etliche Wettbewerbe und sogar nordische Meisterschaften, in denen die Tänzer ihre akrobatischen Künste inklusive den so genannten Hallingkast, das Herunterschlagen eines Huts von einer hochgehaltenen Holzstange mit dem Fuß, unter Beweis stellen müssen. Begleitet werden sie dabei von dem urtypischen Instrument Hardingfele (Hardangerfiedel) – einer geigenartigen Fiedel, die neben den vier zu spielenden Saiten auch Resonanzsaiten besitzt, die ihr einen kernigen und bordunhaften Ton verleihen. Ein weiteres typisch norwegisches Instrument ist die Langeleik, übersetzt in etwa Langes Spiel, eine Brettzither mit einer Melodieseite mit Bünden auf dem Griffbrett, sowie mehreren Bordunsaiten, die nur leer angespielt werden können.
Troldhaugen, Wohnstätte von Edvard Grieg, dahinter rechts der Konzertsaal
Und in diese unvergleichliche Musiktradition verschlägt es mich nun! Die Reise beginnt in Bergen, der zweitgrößten Stadt des Landes und zentralen Hochburg der norwegischen Kunstmusik. Als Geburtsstadt von Norwegens herausragenden Komponisten Edvard Grieg (1843-1907), Ole Bull (1810-1880), Harald Sæverud (1897-1992) und dessen Sohn Ketil Hvoslef (geb. 1939) ist Bergen singulär. Ole Bull war der Revolutionär der Transkription norwegischer Volksmusik – die bereits Ende des siebzehnten Jahrhunderts durch Hinrich Meyer begann – und der „gute Engel“ Edvard Griegs: dem damals fünfzehnjährigen empfahl er als eine der größten musikalischen Autoritäten des Landes das Studium in Leipzig. Edvard Grieg ist seither international berühmt durch sein Klavierkonzert a-Moll, seine Suite aus Holbergs Zeit, seine Peer-Gynt-Suiten und einige seiner Lyrischen Stücke für Klavier, ist aber auch Autor hervorragender Kompositionen wie einer Klavier-Ballade und eines Streichquartetts (beide in g-Moll), von drei Violinsonaten, einer Cello- und einer Klaviersonate, und etlicher Bearbeitungen nordischer Weisen, die somit kunstmusikalisch geadelt im Konzertsaal ihren Platz finden. Bedauerlicherweise hat im letzten Jahrhundert Harald Sæverud noch nicht die Bekanntheit seines weltweit beliebten Vorgängers erreicht, doch hat auch er eine Peer-Gynt-Bühnenmusik geschaffen und gilt durch seine insgesamt neun höchst eigentümlichen Symphonien als größter Symphoniker Norwegens. Sæveruds Sohn Ketil Hvoslef schließlich beschritt ganz andere Wege und etablierte sich als Komponist einer großen Zahl vor allem von Solokonzerten und Kammermusikwerken im Grenzbereich von fast improvisatorisch wirkender, kontrollierter Spontaneität. Die Wohnhäuser der ersten drei genannten Komponisten sind heute als Museen zugänglich, doch leider erlaubte die Zeit nur einen Besuch in Troldhaugen, der Villa von Edvard Grieg. Unter Leitung seiner Witwe Nina wurde ein Teil des Mobiliars 1928 an die richtigen Plätze zurückgestellt und der Besucher kann einige fast unverfälscht wiederhergestellten Räume besichtigen und sich zurückversetzt fühlen in Griegs Lebzeiten. Der für den nur gut 1,50 Meter großen Edvard Grieg extra tiefgelegte Flügel, die dicken Bände mit Beethovensonaten, auf die er sich zum „Heraufreichen“ an die Tasten eines normalen Klaviers oft setzte, sowie seine Komponierhütte mit idealem Blick auf den Fjord bleiben hier besonders eindrücklich in Erinnerung. Auch die Grabstätte des Ehepaars unterhalb des Hauses ist einen Besuch wert, und hier scheint die Zeit stillgestanden zu haben. Neben dem Haus findet sich ein kleiner Konzertsaal, der zwar von außen mit seinen Betonmauern nicht gerade in die Idylle passt, aber von innen wahrlich eindrucksvoll erscheint und hinter dem Flügel durch eine Glasfassade den Blick auf das kleine rote Komponierhäuschen des Nationalromantikers freigibt. In dieser kleinen Halle werden immer wieder lange Abendkonzerte und halbstündige Lunsjkonserter (Mittagskonzerte) angeboten. Hier wurde auch ich erstmals mit norwegischer Pianistenpraxis vor Ort konfrontiert, Signe Bakke spielte Werke vom Meister. Als erstes Stück war der Kopfsatz seiner e-Moll-Sonate Op. 7 angekündigt, so kam die in Tracht fast ein bisschen an Nina Grieg erinnernde Pianistin auf die Bühne und spielte – den ersten Satz der Suite aus Holbergs Zeit Op. 40! Nun könnte man meinen, Signe Bakke habe einfach nicht genug Zeit gehabt, um die technisch delikate Sonate aufzupolieren, und genau diese Vermutung bestätigte sich auch anhand der oft verstolperten Perpetuum-Mobile-Sechzehntel im Prelude der Suite, die den gesamten Satz durchziehen. Glücklicherweise besserte sich die Ausführung in den folgenden Volksweisen aus Op. 17 und 52 sowie den Lyrischen Stücken aus Op. 43 und 71. Insgesamt war die Tendenz zu beobachten, dass das romantische Element bei Grieg viel zu sehr ins willkürliche Extrem gezogen wurde, zusammenhangslose Rubati und unbedachte sowie auch unsangliche Phrasierung war der Regelfall – ein Phänomen, dass mir mehrfach bei norwegischen Pianisten ins Auge stach! Doch plötzlich tat sich eine neue Welt auf, als Signe Bakke eine Stelle im Volksmusikcharakter authentisch wiedergab: Kurzzeitig machte sich der Eindruck breit, es spiele eine Hardingfele und kein Klavier mehr; so wurde jedes Volkslied und jeder Volkstanz zu einem einmaligen Erlebnis und der Springdans im berühmten Det var en gang (Es war einmal) avancierte zu einem hinreißenden Tanzcharakter von vollendeter Klangschönheit, wenn auch leider umgeben von einem überemotionalen und somit aufgesetzt wirkenden Andante-Rahmen, bei dem jede Auflösung, als sollte es absichtlich genau gegen die Natur sein, einen besonders starken Akzent erhielt. Nichts desto Trotz kann man hier lernen, wie die nordische Fiedelmusik auch auf dem Klavier einen stattlichen Charakter und Fülle entfalten kann.
Das Instrumentenmuseum Ringve von außen
Trondheim hieß die nächste Station musikalischer Erfahrung, Heimatstadt von Ludvig Mathias Lindeman (1812-1887), der jahrelang durch Norwegen reiste und Volksmelodien sammelte, welcher er fürs Klavier gesetzt in den Ældre og nyere norske Fjeldmelodier publizierte, die als wichtigste Volksmusikquelle auch für Edvard Grieg dienten. Etwas außerhalb der Stadt befindet sich das Ringve Museum, eine ehemalige Landvilla, die von den kinderlosen Besitzern, leidenschaftlichen Instrumentensammlern, als Erbe für die Gemeinschaft zum Musikinstrumentenmuseum umfunktioniert wurde. Hier steht alles auf Musik, schon bei der Ankunft wurden wir begrüßt von schwedischen Volksweisen auf der Geige, und auch zu Beginn der Führung im Herrenwohnsitz genossen wir zu Ehren der russischstämmigen früheren Besitzerin gespielten Rachmaninoff auf dem historischen Flügel. Im Museum selbst befindet sich ein kleiner Konzertsaal, in dem die Entwicklung des modernen Klaviers vom Clavichord bis zum Konzertflügel anhand jeweils zeitgenössischer Stücke wirkungsvoll demonstriert wurde. Auch eine Kostprobe von Hardingfele und Langeleik wurden gegeben, was immer wieder aufs Neue verzaubert. Hier gibt es die nordische Musikkultur noch zum Anfassen! Weiter geht die Führung in die faszinierende Sammlung unzähliger teils noch nie gesehener Instrumente. Der erste Raum ist bestückt mit paneuropäischen Instrumenten, einheimische Sammlerstücke stehen neben kontinentalen Raritäten, so zum Beispiel wunderschön erhaltene Klavierinstrumente und sogar ein Harfenklavier. Ein Zimmer weiter wird es interkontinental, afrikanische Rhythmusinstrumente und amerikanische elektronische Gerätschaften locken den Besucher an, sie einmal auszuprobieren: Highlight hierbei unbestritten das spielbereite Theremin, bei dem durch Annäherung an zwei Antennen Tonhöhe und Dynamik bestimmt werden können, allerdings entgegen der unmittelbar instinktiven Assoziation derart, dass die Lautstärke mit wachsender Entfernung zunimmt und das Gerät bei der Berührung verstummt. Eine kleine zweite Ausstellung widmet sich hauptsächlich der norwegischen Musik, hier sind besonders rare Sammlerstücke und auch Trachtenkleidung ausgestellt. Die Führer im Ringve, überwiegend ausgebildete oder in Ausbildung befindliche Musiker, sind sehr kompetent und gerade im direkten Gespräch sehr offen für Hintergrundinformationen zu einzelnen Ausstellungsstücken. Alle können sie ihr Instrument spielen und lassen aus einem normalen Museumsbesuch ein akustisches Erlebnis werden mit einer solchen Vielzahl an unerhörten Klängen, wie man sie sonst wohl nirgends so hautnah und live zu hören bekommen dürfte.
Die Eismeerkathedrale und Tromsø nach Mitternacht
Nicht vergessen werden darf auch ein Konzert in der zum Wahrzeichen gewordenen Eismeerkathedrale in Tromsø. Touristen wird hier ein Mitternachtskonzert geboten. Mitternacht auf der anderen Seite des Polarkreises ist allerdings etwas vollkommen anderes als in Deutschland: Während es im Winter grundsätzlich dunkel ist, geht nun im Spätsommer die Sonne erst gegen Mitternacht unter, ein heller Schimmer am Horizont verschwindet die ganze Nacht lang jedoch nicht. Zwischen prachtvollen gläsernen Front- und Rückwänden bieten die Sopranistin Berit Norbakken Solset, der Cellist Georgy Ildeykin und der Pianist Robert Frantzen ein gemischtes Programm nordischer Musik, darunter teilweise Folklore, dar, wobei auch zentraleuropäische und sogar samisch-einheimische Elemente Einzug finden. Neben eher selten gehörten Werken des Grieg-Vorgängers Halfdan Kjerulf und des Zeitgenossen Johan Mahtte Skum stehen auch Klassiker wir Griegs Lied Jeg elsker dig (Ich liebe dich) und erneut Det var en gang auf dem Programm. Auch hier geraten gerade die volksnahen Stücke zu einem besonders stimmungsvollen Ereignis, Solset bezaubert durch glänzendes Einfühlungsvermögen in die bäuerliche Tradition und lässt ihre fast etwas chansonartig wirkende Stimme in der Höhe brillieren. Ihre Mitstreiter können sich angemessen einfügen und unterlegen die dominierende Stimme mit stets passender Begleitung. Robert Frantzen präsentiert auch ein eigenes Duo-Stück für seine kleine Tochter mit dem Cellisten, ein gelungenes Werk mit neoromantischem Gestus. Ein wenig enttäuschend sind auch hier wieder die bekannten Programmpunkte: Bachs Prélude aus der Suite für Violoncello Nr. 1 in G-Dur BWV 1007 gerät strukturlos, wobei routinemäßig stets auf der Takteins ritardiert wird, Jeg Elsker Dig erfährt auch standardisierte Verzögerungen und extreme mechanische Betonungen der Spitzentöne, und Det var en gang ist hier ein formloses Stück überschäumender und offensichtlich äußerlich prätendierter Emotion. Doch will man Unbekanntes entdecken, so sei dieses Konzert trotzdem nachdrücklich empfohlen, denn gerade erst bei den fast vergessenen Werken blühten die Musiker richtig auf, und derart werden Volksweisen, samische Joiks und Lieder vergessener Komponisten zu kleinen, brillanten Meisterwerken, die in ungewohnt guter Qualität und optisch atemberaubendem Umfeld noch mehr an Wirkung gewinnen.
Die malerische Landschaft im Trollfjord
Schon sehr lange Zeit hat besonders die norwegische Musik mein Herz gewonnen; diese im positiven Sinne naive Haltung, die Naturverbundenheit, dieses Gefühl von Freiheit, aber auch von Melancholie und archaischen Uremotionen der Menschen, die diese Musik enthält wie sonst nichts mir Bekanntes, hat mich von Anfang an nicht unberührt lassen können. Dies alles zum Ausdruck zu bringen ist eine ungeahnt diffizile Aufgabe für jeden Musiker, und viele scheitern an der idiomatisch angemessenen Ausführung selbst der leichtesten Werke von Edvard Grieg und anderen nordischen Komponisten. Oft habe ich den Eindruck, als flösse zu viel Künstelei und Falschheit in diese so schlichte und natürliche Quelle unbelassener Energie ein, anstatt dass der Künstler sich öffnet für die subtile Unmittelbarkeit und grundlegende Natürlichkeit, die alles durchströmt. Vieles ist mir klar geworden alleine durch den Anblick der Fjordlandschaften: Welch ein unbeschreibliches Gefühl es ist, mit dem Schiff in den Trollfjord hineinzufahren und zu spüren, wie hoch sich um einen herum die Berge auftun, zu erfahren, wie märchenhaft und fast unwirklich diese Landschaften wirken und wie sehr man sich zuhause fühlen kann in dieser Fantasielandschaft, die eine mysteriöse Art von Geborgenheit vermittelt. Jeder Augenblick gibt etwas Neues, nie kann man ermüden: Einfach nur zu schauen und zu spüren, wie sich Landschaften verändern, unzählige Erhebungen und Inseln vorüberziehen oder plötzlich Tiere vorbeihuschen. Genau das ist das Gefühl, was auch in nordischer Musik in Töne gebannt ist und welches es heraufzubeschwören gilt – nicht mit Professionalität alleine ist dies zu machen, sondern nur mit einem offenen, neugierigen Geist.