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Spanische Flut

Nimbus Records, NI 1711; EAN: 0 710357 171123

Auf vier CDs spielt der englische Pianist Martin Jones Klaviermusik von Isaac Albéniz: Champagne Waltz, Estudio Impromptu op. 56, die Sonate Nr. 5 op. 87, Suite Española op. 47, Rapsodia Española op. 70, Pavana op. 83, Tango aus op. 165, Cantos d’españa op. 232, La vega aus “Die Alhambra”, España Souvenirs, das Prelude aus Azulejos (vom Pianisten vervollständigt), Navarra (ebenso vom Pianisten vervollständigt) sowie das vierbändige Werk Iberia.

Warum spielen heute so wenige Pianisten Albéniz? Schließlich gehörte er nicht nur zu den außerordentlichsten Pianisten seiner Zeit, dessen Werdegang sich wie ein musikalischer Abenteuerroman ließt, sondern gilt als stilprägender Komponist, dessen Iberia zu einem Leitbild der spanischen Musik avancierte und ebenso als eines der schillerndsten Werke des sogenannten Impressionismus zählt. Die Gründe für das Fehlen im heutigen Repertoire sind zweierlei: 1) Den frühen Kompositionen wird oftmals unbegründet ihre Wertigkeit abgetan, indem sie abwertend als „Salonkompositionen“ bezeichnet werden, da sie leicht ins Ohr gehen und aufgeweckt munteren Charakter besitzen. Dabei übersieht man gerne, dass auch Meister wie Chopin oder Liszt im Grunde Salonkomponisten waren und Verständlichkeit nicht gleichzusetzen ist mit Bedeutungslosigkeit. 2) Das zweifelsohne grandiose Spätwerk mit Iberia als Gipfelpunkt wird gekennzeichnet von einer maßlosen Verfeinerung, die in einer Flut aus Vorzeichen, Artikulationsbezeichnungen und Dynamikangaben bis zum fünffachen Pianissimo oder Fortissimo mündet. Somit muss sich der Pianist mehr mit dem bloßen Lesen als mit der tatsächlich technischen Bewältigung befassen, bevor er musikalisch in die tiefgründigen Klangwelten eindringt. Bei kaum einem anderen Komponisten glaube ich mehr, dass bei Entschlackung an Vortragsbezeichnungen und Vorzeichen Pianisten eher bereit wären, dieses Unterfangen auf sich zu nehmen.

Die vorliegende Box präsentiert das Schaffen des Spaniers auf eindrucksvolle Weise von den hinreißend leichtfüßigen Frühwerken über die folkloristisch inspirierten Weisen bis hin zu den sinnierenden Spätwerken in schillernder Farbigkeit und einer Bildlichkeit, wie sie ansonsten nur Debussy erreichte. Überrascht war ich von der jugendlich-ambitionierten Klaviersonate Nr. 5 (von den acht Sonaten überdauerten nur die Nummern 3-5), die mit ausgewogener Aggressivität und monumentalen Wuchtigkeit Zeugnis für Albéniz‘ pianistischen Fähigkeiten ablegt. In der Zusammenstellung fällt auf, wie vielseitig sich Albéniz von der spanischen Folklore hat inspirieren lassen und wie umfangreich diese in sein Werk Einzug fand.

Leichtfüßig und doch bewusst geht Martin Jones an die Klavierwerke des Spaniers heran, besticht durch feinfühlig markantes Spiel, das tatsächlich an die Gitarre erinnert, für die viele von Albéniz‘ Werken transkribiert wurden. Jones besitzt einen bemerkenswert ausgehörtes Pianissimo mit zahllosen Schattierungen und Abstufungen bis nahe an die Unhörbarkeit. Technisch bleibt er überlegen, wobei lediglich die Pausen vor den Sprüngen aufstoßen: dem fällt natürlich das berühmte Asturias zum Opfer. Zudem nuscheln manche rasanten Passagen, dass man die einzelnen Elemente der Musik nicht mehr wahrnimmt, so in Cadíz. So vielseitig der Anschlag von Jones doch ist, so bleibt er doch meist monochrom, was gerade im Bezug auf die Gesamtspieldauer von vier Stunden ermüdend wirkt: dem Forte fehlt das Volumen, dem Pian(issim)o der „Duft“, der zart und doch bestimmt Farben und Bilder in uns hervorruft und mit einem einzigen Ton bereits verzaubern kann. Mit anderen Worten fehlt es an orchestraler oder vokaler Imagination des Pianisten, den Klang von seinem Instrument zu abstrahieren, um so erst den Zauber entstehen zu lassen, der diese vieldimensional inspirierte Musik ausmacht.

[Oliver Fraenzke, September 2020]

Was Tschaikowski wünschte

Nimbus Records, NI 7104; EAN: 0 710357 710421

Tschaikowski Symphonien 5 & 6, Voyedova; London Symphony Orchestra, Yondani Butt (Leitung)

Auf zwei CDs spielt das London Symphony Orchestra unter Yondani Butt späte Orchesterwerke von Pjotr Tschaikowski: Die letzten beiden Symphonien e-Moll op. 64 und h-Moll op. 74, die „Pathétique“, sowie die symphonische Ballade Voyedova op. 78.

Nach neun Jahren Abwesenheit vom Dirigentenpodium kehrte Yondani Butt 2009 wieder zum London Symphony Orchestra zurück und hinterließ uns in den letzten fünf Jahren seines Lebens eine Reihe hochqualitativer Aufnahmen von Beethoven, Brahms, Schumann, Wagner, Tschaikowski und von französischer Musik. 2012 entstand vorliegende Einspielung von Tschaikowskis späten Orchesterwerken.

Yondani Butt dirigiert das London Symphony Orchestra gewissenhaft und nüchtern, er treibt nicht in Pathos davon, entzieht sich aber auch nicht der Gefühlswelt von Tschaikowski. Die Musik des Russen beschäftigt sich viel mit einfachen Emotionen, zutiefst menschlichen Gedanken und Empfindungen. Eben dies versucht Butt in seinem Spiel umzusetzen, verkünstelt die Linien entsprechend nicht durch willkürliche Rubati. Butt ist kein Romantiker, der in der Musik schwelgt, sondern ein Sachwalter, der die Klangwelt erfasst und umsetzt. Dies birgt den Nachteil, dass wir von den Aufnahmen keine übermäßig-genuinen Inspirationen erwarten können und nicht unentrinnbar gefesselt werden vom Strom der Musik – dafür aber sind die Aufnahmen auf durchweg hoher Qualität ohne Schwankungen. Darüber hinaus sind sie fein reflektiert, so dass sich alles auf dem richtigen Platz befindet. Präzise weiß Butt um die Gesetze von Spannung und Entspannung, kontrastiert und fügt zusammen, hält die langen Sätze formal zusammen. Es gibt absolut nichts, was im Fluss der Musik stört – die Musiker stellen sich in den Dienst des Komponisten und bilden sein Werk ab, wie er es in den Noten wünschte.

[Oliver Fraenzke, Juni 2018]

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