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Etüden und Präludien von Chopin bis ins späte 20. Jahrhundert

hänssler CLASSIC, HC22083, EAN: 8 81488 22083 4

Die Pianistin Dora Deliyska präsentiert ein Programm von Etüden und Präludien von Chopin, Debussy, Ligeti und Kapustin. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Anordnung der einzelnen Stücke, die eigenen Gesetzmäßigkeiten und dramaturgischen Ideen folgt.

Die Pianistin Dora Deliyska, gebürtige Bulgarin, mittlerweile seit Jahren in Wien lebend, hat seit ihrem CD-Debüt 2008 eine respektable Diskographie eingespielt, und so ist ihr im vergangenen Jahr erschienenes neues Album Études & Preludes (nach Angaben ihrer Homepage) bereits das dreizehnte mit ihr am Klavier. Die Palette, die sie abdeckt, ist breit, und neben Liszt-, Schubert- oder Schumann-CDs hat sie speziell in den letzten Jahren offenbar ein besonderes Faible für sogenannte Konzeptalben entwickelt, CDs also, deren Programm einer bestimmten Idee (oder eben: Konzeption) folgt und dabei immer wieder bewusst Grenzen überschreitet, Werke und Komponisten miteinander kombiniert, die man vielleicht a priori nicht unbedingt nebeneinander erwarten würde.

Im Falle von Études & Preludes widmet sich Deliyska zwei der populärsten Genres der Klaviermusik seit dem frühen 19. Jahrhundert, und zwar nicht zufälligerweise im Rahmen eines Programms von 24 Stücken, das sich aus je zwölf Etüden und Präludien zusammensetzt; klassische Zahlen also. Mit Chopin, Debussy, Ligeti und Kapustin geht es dabei vom frühen 19. bis ins späte 20. Jahrhundert auf den Spuren von Marksteinen der beiden Gattungen.

Als besonders raffiniert erweist sich das Konzept im Falle der zwölf Etüden, mit denen die CD beginnt. Deliyska hat hier Stücke aus Chopins 12 Etüden op. 25, Debussys Douze Études sowie György Ligetis 18 Etüden (1985–2001) ausgewählt, wobei sie von Debussy die Idee übernommen hat, die Etüden nach Intervallen anzuordnen. Und so startet das Programm mit der Prime (bzw. einer Etüde, in der die Prime eine prominente Rolle spielt), dann der kleinen Sekunde und so weiter, bis die Oktave erreicht ist; es folgen noch zwei Etüden zu Arpeggien und eine zu Akkorden, und damit ist das Bild vollständig, ohne dass dabei jemals zwei Stücke desselben Komponisten aufeinander folgen würden.

Es ist erstaunlich, wie gut diese Werke nebeneinander funktionieren, exemplarisch zu beobachten am Beginn der CD. Alles beginnt mit den rasenden Tonrepetitionen von Ligetis Etüde Nr. 10 Der Zauberlehrling, gefolgt von Debussys Etüde Nr. 7 Pour les Degrés chromatiques, die Deliyska fast ohne Pause folgen lässt. Gerade in den lapidaren Anfangstakten von Debussys Etüde wirkt der Übergang in der Tat verblüffend natürlich. Eine gewisse Rolle spielt dabei sicherlich auch, dass Ligetis Etüden zwar für den Pianisten horrend schwer sind, auch für den mit Musik des späten 20. Jahrhunderts nicht sonderlich vertrauten Hörer jedoch zu den zugänglichsten seiner Werke zählen dürften – Der Zauberlehrling etwa ist im Grunde genommen fast eine Etüde in C-Dur. Aber selbst, wenn anschließend mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 11 ein Sprung in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgt und, jedenfalls was das Melos betrifft, aus Chromatik Diatonik wird, fühlt man sich doch beim (abermals) chromatischen Wirbelwind in der rechten Hand an das, was in den beiden zuvor gehörten Etüden geschehen ist, erinnert. Allein dies ist bereits ein eindrucksvoller, sehr gelungener Brückenschlag.

Gleichzeitig schaffen diese ersten Stücke eine Atmosphäre permanenter Unruhe, Betriebsamkeit, stetigen Flirrens, auch Dramatik (gerade in Chopins Etüde), die auch in Ligetis Etüde Nr. 4 Fanfares mit ihren unregelmäßigen Rhythmen weitergeführt wird und insofern den Hörer in einen regelrechten pianistischen Strudel reißt, der erst in Track 5 mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 7 gebremst wird, dafür nun umso deutlicher. Ein Ruhepol, der einen Track später in Ligetis Etüde Nr. 2 Cordes à vide, die sanft den Klang leerer Streichersaiten heraufbeschwört, noch einmal bekräftigt wird. Neben dem Fokus auf Intervallen ergibt Deliyskas Auswahl also auch eine veritable Dramatik und Struktur mit Steigerungen, Höhepunkten und Momenten des Durchatmens.

Natürlich folgen nicht alle Etüden dem Intervallschema so deutlich wie etwa Ligeti in den Cordes à vide mit ihren Quinten oder (an neunter Stelle) die mal brausenden, mal innig singenden Oktaven in Chopins Etüde op. 25 Nr. 10, erst recht, zumal Debussys Etüden, die sich ja explizit auf Intervalle beziehen, hier (bis auf Track 2) ausgespart und erst gegen Ende der Abteilung Etüden das Bild mit Arpeggien bzw. Akkorden (Debussys Etüden Nr. 11 und 12) komplettieren. Dabei ergeben sich aber auch interessante Zwischenstellungen. So fallen in Ligetis Fanfares natürlich die Terzen in der rechten Hand auf, aber in der fortwährenden Achtelbewegung in der linken ist es die große Sekunde, die dominiert – eine Etüde „zwischen“ den Intervallen also. Ganz ähnlich verhält es sich mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 7: natürlich hört man hier zunächst Quarten in den Achteln in der linken Hand, aber das Melos wird doch auch stark von der Terz beherrscht.

Generell entsteht jedenfalls speziell in den ersten Etüden in der Tat ganz entschieden jener Eindruck des allmählichen Sich-Weitens der Intervalle, auf den Deliyska mit ihrem Programm offensichtlich abzielt. Dass am Ende Debussys Etüde Nr. 12 für einen robusten Abschluss mit Finalwirkung sorgt, versteht sich von selbst, zumal sie ja im ursprünglichen Zyklus dieselbe Stellung innehat.

Anders verhält es sich mit den Präludien: wieder drei Komponisten, und wieder werden Chopin (mit erneut fünf Stücken aus seinen 24 Préludes op. 28) und Debussy (diesmal mit vier statt drei Stücken aus seinen zwei Büchern von insgesamt ebenfalls 24 Préludes) um einen Komponisten der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ergänzt, nämlich durch Nikolai Kapustin (1937–2020) und drei seiner 24 Präludien im Jazzstil op. 53 (1988). Anders als bei den Etüden gruppiert Deliyska die Präludien aber (konventioneller) nach Komponisten.

So steht am Anfang ein Chopin-Block, der gleich mit dem enorm populären Des-Dur-Präludium (Nr. 15) beginnt, auf das Deliyska das e-moll-Präludium (Nr. 4) folgen lässt und so Parallelen zwischen den beiden Stücken aufzeigen will (die auf einer grundsätzlichen Ebene zweifelsohne vorhanden sind). Ansonsten scheint ihre Anordnung der Präludien vorwiegend von dramaturgischen Überlegungen motiviert, ein wenig auch Tonartenbeziehungen (auf fis-moll folgt, beruhigend, Fis-Dur); auf jeden Fall läuft der kleine Chopin-Zyklus auf einen stürmischen Presto-Abschluss (Nr. 16) hinaus, der in der Tat dann auch eine etwas längere Pause, einen Moment des Sich-Sammelns zur Folge hat.

Ähnlich ist der Debussy-Block aufgebaut: wieder ein ebenso verhaltener wie hochexpressiver Beginn (Des Pas sur la neige), der schließlich in Debussys Beschwörung des Westwindes gipfelt (Buch I, Nr. 7). Kapustins Präludien bilden schließlich ein kleines Triptychon in der „klassischen“ Reihenfolge schnell-langsam-schnell und verwandten Tonarten (gis-moll, H-Dur, h-moll), das hier ein wenig als Zugabe fungiert, als locker gefügter, spielerischer Abschluss eines Programms, das die vollen 80 Minuten der CD ausschöpft.

Deliyskas Argument (im Beiheft), durch die Anordnung gemäß Komponisten seien „die deutlichen Stilunterschiede noch genauer [zu] erkennen“, überzeugt sicher nicht völlig, denn ein Faszinosum am ersten Teil ist ja gerade das ganz leichte Verschwimmen dieser Unterschiede (wohlgemerkt: in kleinen Momenten und Augenblicken, in denen man kurz aufhorcht). Andererseits gibt es sicherlich eine Reihe anderer Gründe dafür, hier eben genau so vorzugehen; das Genre selbst, in dem es ja weniger um technische oder Materialfragen geht als um kurze Impressionen, mag eine Rolle spielen, aber vielleicht auch die Auswahl der Komponisten, denn insgesamt scheint mir Ligeti in seinen Etüden mit ihrem ausgeprägten, raffinierten Klangsinn doch näher an Chopin und Debussy zu liegen als Kapustins schon im Titel aufgezeigter (klassisch fundierter) „Jazzstil“.

Bei alledem überzeugt Deliyska als kompetente, pianistisch sehr gutklassige Anwältin ihrer Programmidee. Ihre Tempi sind insgesamt eher gemäßigt (etwa im Vergleich zu Ligetis Angaben zur Dauer seiner Etüden oder zu Kapustins eigener Interpretation seiner Jazzpräludien), obwohl nicht dezidiert langsam. Gerade bei den Präludien von Chopin fällt ein ausgeprägtes Interesse an Mittel- und Nebenstimmen auf (von ihr selbst im Beiheft im Falle des Préludes Nr. 4 gesondert erwähnt, aber auch an zahlreichen anderen Stellen zu beobachten wie etwa im più lento von Nr. 13).

Gewiss: es handelt sich hier in der Mehrzahl um Repertoire, das diskographisch in einer solchen Breite und Qualität erschlossen ist, dass man fast beliebig stark ins Detail gehen und differenzieren könnte. Im Falle von Ligetis Etüden etwa ist Aimards Lesart der Cordes à vide noch eine Nummer filigraner, ganz exquisit an der Grenze zwischen Stille und zartem Nachhall angesiedelt, während mir in der Teufelstreppe (Nr. 13) der Höhepunkt in Takt 43 (im achtfachen Forte) bei Deliyska deutlich zu wenig Wucht besitzt. Andererseits liegt der Reiz dieser CD ja gerade nicht darin, diese Zyklen (erst recht die ganz bekannten von Chopin und Debussy) wie gewohnt zu hören, sondern sie neu zu kontextualisieren und womöglich in einem etwas anderen Licht zu betrachten. Ebendies erfüllt Deliyskas Album in hervorragender Weise.

[Holger Sambale, Mai 2024]

Sensationelle Kapustin-Einspielungen mit Drive und Herzblut

Capriccio C5495; EAN: 8 45221 05495 7

In seiner nunmehr dritten Einspielung mit Werken des ukrainisch-russischen Jazzkomponisten Nikolai Kapustin für Capriccio glänzt Frank Dupree zunächst mit dem 5. Klavierkonzert op. 72 – unterstützt vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Dominik Beykirch. Mit seinem Kollegen Adrian Brendle erklingen dann noch das Konzert für zwei Klaviere und Schlagwerk op. 104 sowie die Sinfonietta op. 49 in der vierhändigen Klavierfassung. Am Schlagzeug: Meinhard ‚Obi‘ Jenne und Franz Bach.

Der aus der ostukrainischen Provinz Donezk stammende Nikolai Kapustin (1937–2020) kam über Kirgisistan nach Moskau, wo er u. a. bei Alexander Goldenweiser studierte. Früh entdeckte er jedoch seine Liebe zum Jazz, spielte in mehreren entsprechenden Ensembles, später dann als Orchesterpianist unter Gennadi Roschdestwenski beim Großen Symphonieorchester des Moskauer Rundfunks. Die ca. 160 Werke Kapustins – mehrheitlich für Klavier, darunter allein 20 Sonaten – folgen alle dem Jazz-Idiom, wobei aber sämtliche Details auskomponiert sind und demzufolge auf Improvisation gänzlich verzichtet wird. Seine Fusion klassischer Formen mit Jazz- oder gar Rock-Elementen wirkt vielleicht auf den ersten Blick ein wenig rückwärtsgewandt, behält jedoch stets ihren eigenen, unverwechselbaren Stil. Wer den brillanten Pianisten selbst am Klavier erlebt hat, war fasziniert, wie der Mann mit Hornbrille und Erscheinung eines gewissenhaften Beamten souverän, aber ohne jede äußere Regung – absolute Ökonomie der Bewegungen war eines der Prinzipien Goldenweisers – seinen abstrus virtuosen „Jazz“ ablieferte, damit absolut überzeugte und ungläubiges Staunen hervorrief. Schade nur, dass diese Musik erst den Westen erreichte, als der Komponist schon über fünfzig war.

Die dritte Kapustin-CD mit Frank Dupree enthält zwar keine Ersteinspielung, ist jedoch dafür rundum großartig. Das 5. Klavierkonzert op. 72 von 1993 verwendet ein ganz klassisches Symphonieorchester und gehört sicherlich zu Kapustins ambitioniertesten Werken. Der gut zwanzigminütige Einsätzer mit vier klaren Abschnitten, die an ähnliche Konzepte des 19. Jahrhunderts anknüpfen, strotzt nur so von zündenden Ideen, wirkt ein wenig wie Gershwin mit Turbo und Booster, dennoch jede Sekunde authentisch. Gegenüber der bislang einzigen Konkurrenzaufnahme (Masahiro Kawakami unter dem Dirigenten Norichika Iimori), die das Orchester eher wie eine merkwürdig aufgeblasene Bigband behandelt, stellt Dominik Beykirch gerade die klangliche Opulenz der großen Besetzung als besondere Qualität heraus. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin hat offensichtlich Spaß an dieser Musik und begeistert mit dem nötigen Drive sowie einer Palette toller Klangfarben. Dupree folgt der zwingenden Dramaturgie des Konzerts mit Hingabe, bleibt auch bei den komplexesten und rasantesten Passagen absolut durchsichtig. Rhythmisch prägnant, trotzdem elastisch, wirkt der abenteuerlich schwere Solopart bei ihm eben doch über weite Strecken wie improvisierter Jazz – immer Kapustins Ziel. Die große Kadenz vor der Schlussapotheose gelingt hinreißend, zielführend und erscheint so keinesfalls als konventioneller, eigentlich überflüssiger Schnickschnack. Zudem überzeugt die exzellente Aufnahmetechnik – räumlich wie dynamisch. Was für ein grandioses Konzert!

Ein etwas intellektuelleres Bild ergibt sich beim Konzert für zwei Klaviere und Schlagwerk op. 104 (2002), das natürlich sofort an Bartóks Sonate für diese Besetzung erinnert. Hierbei erweist sich Adrian Brendle als idealer Partner. Solch perfektes Zusammenspiel bei derartiger rhythmischer Komplexität – man höre nur den irrwitzig raschen Presto-Mittelteil des langsamen Satzes, wo sich zusätzlich die beiden Schlagzeuger Meinhard ‚Obi‘ Jenne und Franz Bach teils mit melodischen Verdopplungen von Klavierstimmen synchronisieren müssen – ist schon sensationell: Klavierkammermusik in Vollendung. Hier bringt die Neuaufnahme – etwa gegenüber der Einspielung mit del Pino, Angelov und Neopercusión – nochmals eine deutliche Steigerung.

Dagegen ist die Sinfonietta op. 49 – eine Aufnahme der originalen Orchesterfassung steht leider noch aus – tatsächlich „easy listening“. Das viersätzige Werk (Ouvertüre, Slow Waltz, Intermezzo & Rondo) gibt sich heiter optimistisch, im als Walzer verkleideten Blues leicht sentimental. Dupree und Brendle spielen das entspannt – selbst die anspruchsvollen rhythmischen Verzahnungen im Intermezzo – und sind dynamisch noch eine Spur differenzierter als Yukari und Masahiro Kawakami. Das hat durchaus Anspruch, ist allerdings fast zu gefällig. Insgesamt bietet diese CD nicht nur wirklich unübertreffliche Kapustin-Darbietungen, die sehr schön unterschiedliche Ansätze des Komponisten aufzeigen – sie ist eindeutig eines der bisherigen Highlights des Jahres 2023 und verdient eine klare Empfehlung an wirklich jeden (!) Klassik-Hörer.

Vergleichsaufnahmen: [op. 72] Masahiro Kawakami, Japan Century Symphony Orchestra, Norichika Iimori (Triton OVCT-00163, 2018) – [op. 104] Daniel del Pino, Ludmil Angelov, Neopercusión (Non Profit Music 1011, 2009) – [op. 49] Yukari und Masahiro Kawakami (Nippon Acoustic Records NARD-5030, 2010)

[Martin Blaumeiser, April 2023]

Klassischer Jazz, notierte Improvisation

Edition Schott: Gingerbread Man op. 111 ED 23033; Wheel of Fortune op 113 ED 23035

Mehrere späte Werke des ukrainischen Komponisten Nikolai Kapustin erschienen nun bei Schott, darunter die hier besehenen Gingerbread Man op. 111 und Wheel of Fortune op. 113.

Die meiste Zeit seines Lebens blieb Nikolai Kapustin ein Geheimtipp. Man war sich uneins über seine Position, konnte seine widersprüchliche Musik nicht so recht einordnen. Den Umsturz bedeutete eine Aufnahme Steven Osbornes aus dem Jahr 2000, die mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik prämiert wurde und plötzliches Interesse an der Musik Kapustins aufkeimen ließ. Vor allem Pianisten folgten: Marc-André Hamelin, Christopher Park und Elisaveta Blumina seien exemplarisch für die Vielzahl an namhaften Virtuosen genannt, die nun den Ukrainer entdeckten und ebenfalls einspielten. Als Kapustin am 2. Juli 2020 verstarb, überschlugen sich die Medien geradezu vor Kondolenzbekundungen – aus dem Insider war einer der gefragtesten Musiker geworden.

Die Laufbahn des am 22. November 1937 in Nikitowka, Vorort der ukrainischen Stadt Horliwka, geborenen Nikolai Kapustin fand nahezu vollständig in Moskau statt. Nach erstem Klavierunterricht durch seine Mutter und durch Pjotr Winnitschenko (unter dem auch eine Erste Klaviersonate entstand, geschrieben mit dreizehn Jahren), reiste er 1952 in die russische Metropole, um sich für das Academic Music College zu bewerben. Dort nahm in Awrelian Rubach in seine Klasse auf, einem sehr gefragten Lehrer, der aus der Tradition Felix Blumenfelds kam. 1956 bestand er seine Prüfung fürs Moskauer Konservatorium, studierte dort beim legendären Pianisten und Komponisten Alexander Goldenweiser. Anzumerken sei hierbei, dass Kapustin sich ausschließlich am Klavier ausbilden ließ, sich das Komponieren autodidaktisch erarbeitete.

Noch vor seinem zwanzigsten Geburtstag hatte der Student seine Passion für Jazz entdeckt und empfand diesen als die ideale, seinem Naturell entsprechende Form der musikalischen Kommunikation. Er spielte in mehreren Bigbands, gründete ein Jazz-Quintett und musizierte über mehr als zehn Jahre im Orchester von Oleg Lundstrem, einem Schüler Ellingtons und Armstrongs. In den 70ern kam Kapustin ins Orchester von Boris Karamyschew, das bekannt war, auch symphonischen Jazz zu spielen, und schrieb für dieses zahlreiche Kompositionen – unter anderem das Zweite Klavierkonzert op. 14, durch das er 1980 zum Mitglied des Sowjetischen Komponistenverbands wurde, wodurch erstmals sein Werk auch als staatlich anerkannt galt. Von 1984 an wirkte er ausschließlich freiberuflich.

Die Musik Kapustins empfindet man beim Hören als dem Jazz deutlich verwandt, wobei die Strukturen denen klassischer Formen näher sind. Die meisten Werke strahlen durch treibende Rhythmik und physisch-virtuose Brillanz, die einen unverkennbar haptischen bis gar körperlichen Eindruck verleiht. Die Linien wirken oftmals frei, wie improvisiert, und doch steckt eine innere Struktur dahinter, die auf eine deutliche Reifung durch den Kompositionsprozess verweist.

Hauptverleger Kapustins ist der deutsche Verlag Schott, der Ende 2021 wieder neue Werke in seinen Katalog aufnahm – namentlich kürzere Klavierkompositionen nach 2000, die Opusnummern über 100 aufweisen. Von diesen liegen hier Gingerbread Man op. 111 (ED 23033) und Wheel of Fortune op. 113 (ED 23035) vor. Es handelt sich in beiden Fällen um von den Erben autorisierte Versionen, die erstmalig auf dem Markt erschienen. Die beiden im Jahr 2003 komponierten Werke unterscheiden sich deutlich durch Struktur und Klang: Gingerbread Man op. 111 könnte vom Höreindruck ausgehend rein aus der Improvisation entstanden sein, denn das thematische Material kehrt nie wörtlich zurück, nur in größtenteils recht weit vom Ausgangspunkt entfernten Variationen. Schon nach wenigen Takten spinnt sich der Initialgedanke fort und in der Mitte der zweiten Seite heben improvisatorisch anmutende Linien an, uns vollends vom Ausgangspunkt fortzutragen. Man folgt dem Fluss der Musik, lässt sich treiben und bewundert die immer neuen rhythmischen wie harmonischen Wunder, die an einem vorbeiziehen. Dabei steht Gingerbread Man durchweg im 4/4-Takt ohne Tempoänderungen, folgt also einem kontinuierlichen Strom. Ganz anders Wheel of Fortune, das wie der durch den Titel besungene Reichtum launisch und wechselhaft erscheint. Im Zentrum steht eine eingängige, rhythmisch aufgeladene Bassfigur, die immer wieder deutlich hervortritt und somit die Form prägt. Dadurch wirkt das Stück ungleich klassischer, durchkomponierter. Dazwischen heben wieder freie, virtuose Läufe an, doch scheinen sie hier gefasster im allgemeinen Strom – auch wenn die regelmäßigen Taktwechsel mit Fokus auf den 7/8-Takt versuchen, dies zu unterminieren. Beide Stücke erfordern fundierte technische Kenntnisse des Klaviers, rhythmische Prägnanz, klaren Anschlag und gewisses Grundwissen auch über Harmonik und Aufführungspraxis im Jazz.

Die Ausgaben von Schott setzen auf ein klares, feines Notenbild, das die Noten vergleichsweise klein setzt, um Raum für die Vielzahl an auftretenden Vorzeichen zu lassen und die rhythmische Struktur offenzulegen. Auch für Anmerkungen beim Üben finden wir reichlich Platz zwischen den Systemen, was das Arbeiten mit diesen Ausgaben ausgesprochen angenehm macht. Alles wirkt geordnet, regelrecht „aufgeräumt“. Dadurch erhöht sich natürlich die Seitenanzahl, wobei das Blättern bei solch einer pausenlos strömenden Musik nicht immer leichtfällt; doch darf dies im Ausgleich für das leicht leserliche und gut konturierte Notenbild zweifelsohne das kleinere Übel (und kaum vermeidbar gewesen) sein. Die Fingersätze erscheinen durchweg gewählt und sinnig, dabei nicht inflationär, sondern nach Möglichkeit an Stellen, die mehrere Optionen offenlassen und somit die Hand in die Irre führen könnten.

[Oliver Fraenzke, Februar 2022]

„Jede Variation führt uns eine neue Facette von uns selbst vor!“

Aus Russland stammend, wurde die Pianistin Anna Kavalerova in Tel Aviv heimisch – heute schöpft sie aus dem Leben in der vibrierenden Kulturmetropole viele künstlerische Anregungen. Ihr jüngstes Projekt wiederspiegelt eine künstlerische Haltung, in der die Ausforschung einer tiefen Wahrheit in der Musik mit persönlicher Selbsterkenntnis einher geht. Um verschiedene Aspekte von Variationen geht es auf der aktuellen CD: Robert Schumann unternimmt in seinen Sinfonischen Etüden opus 13 ausgedehnte Streifzüge durch die Gattungen der Musikhistorie. Sergej Rachmaninov mischt in seinen Variationen eines Corelli-Themas die harmonischen Farben, bis schließlich ein jazz-affiner Tonfall heraus kommt. Ein Thema, dass sich in zahllosen Variationen immer wieder neu erfindet, steht für Anna Kavalerova symbolisch für die Kunst des Sich-selbst-neu-erfindens. Im letzten Programmpunkt erweist sie sich als ungemein stilsicher aufspielende Jazzpianistin – auch, wenn Nikolai Kapustin in seinen Variationen opus 41 alles bis zur letzten Note durchkomponiert hat.

Das Interview führte Stefan Pieper

Warum haben Sie gerade diese Werke auf Ihrer neuen CD vereint?

Ich habe Robert Schumanns Sinfonische Etuden und Rachmaninows Variationen über ein Thema von Corelli miteinander kombiniert, weil ich diese Stücke endlich einmal aufnehmen wollte, nachdem ich sie schon oft im Konzert gespielt hatte. Es war aber eine Riesen-Herausforderung, diese vielen Stücke auf eine CD zu bringen. Es sind ja komplexe Werkzyklen voller Gegensätze. Vor allem zwischen Schumanns Sinfonischen Étuden und Rachmaninoffs Variationen gibt es einen großen Unterschied vom Konzept her. Daraus einen einheitlichen Spannungsbogen für eine Aufnahme zu kreieren, war schon ein kolossales Unterfangen.

Sollen Nikolai Kapustins Variationen opus 41 einen bewussten Kontrast setzen?

Kapustins jazziges Stück dient tatsächlich dazu, den Hörer in beschwingter Leichtigkeit zu entlassen. Aber trotzdem sehe ich auch eine starke Gemeinsamkeit bei diesen Programmpunkten: In allen drei Fällen begeisterte es mich, wie wundervoll diese Tonschöpfer mit dem Material arbeiten.

Können Sie Ihr Anliegen im allgemeinen auf den Punkt bringen?

Es ist wichtig, als Musiker etwas für sich zu gewinnen – ebenso, dem Publikum etwas zu vermitteln. Ich möchte auf jeden Fall immer diese Komponenten miteinander verbinden.

Was reizt Sie am Prinzip der Variation?

Variationen waren und sind ein beliebtes und vielseitiges Feld für Komponisten. Sie offenbaren so eine große Vielfalt. Jeder Zyklus hat seine spezifischen Herausforderungen. Mich reizt vor allem dieser Freiraum, der weit über den rigiden Rahmen der Sonatenform hinaus geht. Eine Sonate hat eine klar definierte Gestalt. In Variationen haben Komponisten gerne solche Grenzen überschritten. Daraus einen Spannungsbogen zu schaffen, ist für jeden Interpreten eine große Herausforderung. Da jede Variation naturgemäß sehr kurz ausfällt, ist das komponierte Material in der Regel extrem komprimiert. Aus der Kürze und Pluralität ein großes Ganzes zu erzeugen, ist ein spannendes Unterfangen, das mich sehr fasziniert hat. Vor allem der Aspekt von Entwicklung spielt eine große Rolle. Umso mehr, weil die Musik immer wieder zum Ausgangsmaterial zurück kehrt, das immer präsent bleibt. Das berührt bei mir tief persönliche Gedanken. Denn es zeigt etwas von unserem Wesenskern, der immer da ist, aber der sich trotzdem aufs neue entfaltet. Jede Variation eröffnet eine neue Facette von uns selbst und führt symbolisch vor, dass wir am Leben sind.

Das ist eine interessante Ausweitung ins Philosophische. Was für Aspekte sprechen Sie bei Schumann und Rachmaninoff besonders an?

Schumanns „Sinfonische Etüden“ sind tief persönlich geprägt, wenn sie vor allem die erwachte Liebe zu seine künftigen Frau Clara abbilden. Alles führt vom Dunkel ins Licht hinein. Das erste Thema ganz zu Beginn ist ein Trauermarsch. Die ersten sechs Variationen machen dann in  Molltonarten weiter, danach wechselt es ins Dur und alles geht bergauf. Verschiedene Instrumente werden imaginiert, Holz- und Blasinstrumente imitiert und es folgen Zitate aus dem Mendelssohn-Konzert, später dann aus dem Capriccio von Paganini. Auch kommen viele verschiedene Stile ins Spiel: Ein Menuett, ein Walzer, ein Intermezzo im spanischen Stil sowie osteuropäische Elemente. Das Finale am Ende der Variationen wirkt schließlich wie ein Triumphzug. Schumann hat diese Musik in der Jugend geschrieben, das merkt man. Es ist manchmal wie Karneval. Da ist pure Lebensfreude.

Welche andere Perspektive nehmen Rachmaninoffs Variationen ein?

Rachmannoffs Variationen bilden die unruhige Entwicklung der menschlichen Zivilsation im frühen 20. Jahrhundert mit seinen Weltkatastrophen ab. Musikalisch kommt alles aus der Vergangenheit: Es überwiegen klassische Harmonien und alles ist – völlig losgelöst von der erwachenden Avantgarde –  sehr konservativ. Emotional und atmosphärisch ist diese Musik auf der Höhe der Zeit und  wiederspiegelt eine gewisse Düsternis, die aus der russischen Revolution und später vom zweiten Weltkrieg her rührt. Man hört in dieser Musik, dass durch die Tragödien der Gegenwart gerade eine Welt zusammen bricht. Wir spüren in dieser Musik, dass eine Entwicklungslinie, die von der Klassik her kam, endgültig zerbrochen ist. Man kann es vielleicht mit „La Valse“ von Maurice Ravel vergleichen, wie hier Rückschau gehalten wird aus einem Blickwinkel, der immer ironischer wird.

Gleich mehrere Variationenzyklen in einem Programm – eine größere pianistische Vielfalt lässt sich vermutlich kaum auf einer CD vereinen. Wollten sie mit diesem Programm ganz bewusst möglichst viel von sich selber zeigen?

Bei der Arbeit an jedem Stück reflektiere ich spezifische Aspekte von mir selbst. Das macht ja auch den Reiz an meinem Beruf aus. Musik machen ist ein immerwährendes Suchen. Eine konstante Wahrheit gibt es ja sowieso nicht. Pianistin zu sein, hilft ja auch, sich immer wieder neu zu erfinden. Was den einen Tag das wahre, richtige war, kann ja eine Woche danach schon etwas ganz anderes sein. Und es geht ja auch nicht immer in eine Richtung. Das Leben hat Höhen und Tiefen, auch das gehört dazu. Als Musikerin versuche ich, immer wieder nach etwas Neuem, vielleicht Besseren in meinem Leben zu suchen.

Das schließt bei Ihnen dann sogar ein, auch mal in die Rolle einer brillanten Jazzpianistin zu schlüpfen. Wie Sie hier die Variationen von Nikolai Kapustin spielen, hält dies jedem Vergleich mit improvisierenden Jazzern stand. Ihr Spiel hat Swing. Viele Klassik-Musiker scheitern daran, wenn sie sich auf solch ein Terrain begegeben.

Vielen Dank für das Kompliment! Es ist schön, wenn Sie das überrascht hat. Das war gewissermaßen die Idee. Denn niemand, der den Titel „Variationen plus“ liest, erwartet diesen Effekt beim Hören der CD. Aber hinter dem, was hier so leicht und improvisiert wirkt, steckt extrem viel harte Arbeit.

Haben Sie vorher schon mal Jazz gespielt?

Nein! Und das Kapustin-Stück ist ja im Kern überhaupt kein Jazz. Der Komponist hat hier alles bis auf den letzten Ton und aufs letzte Detail schriftlich fixiert, auch wenn er die Tonsprache und die Harmonien des Jazz nutzte. Es kommt hier darauf an, den Vibe und die Emotion zu erfassen.

Nochmal kurz zu Ihrer heutigen Situation. Was hat Sie eigentlich nach Israel verschlagen?

Ich folgte meinem Lehrer Emanuel Krasowsky nach Israel und habe hier drei Jahre lang auf meinen Master-Abschluss hin gearbeitet. Mittlerweile lebe ich seit sieben Jahren in Israel und es ist der ideale Lebensmittelpunkt – vor allem in künstlerischer Hinsicht! Mir gefallen hier vor allem die vielen Musikfestivals und der rege Austausch. Es gibt hier so viele Musiker, Konzerte und Festivals. Ich spiele sehr viel Kammermusik. Diese immense Dichte hält mich auf Trab.

Was ist anders als in Russland?

Vor allem die Mentalität. Es herrscht eine große Offenheit. Alle sind sehr freundlich und hilfsbereit. Vielleicht liegt es daran, dass dieses Land von Einwanderern aufgebaut worden ist. Jeder, der hier heute lebt, hat Vorfahren, die Einwanderer waren. Und es ist ein kleines Land. Entsprechend überschaubar und transparent ist der Berufsmarkt für Musiker. Jeder kennt jeden, das macht die Vernetzung einfach.

Ist die sprichwörtlich strenge „Russische Klavierschule“, die Sie sicherlich in Ihrer Jugend durchlaufen haben, heute noch ein Kapital?

Ich bin sehr für diese Grundausbildung dankbar, denn sie ist ein Fundament für alles. Mein gesamter Werdegang ist aber erst durch eine große Vielfalt in meinem Leben zu dem geworden, was er heute ist. Es ist wichtig, verschiedene Orte, Erfahrungen, Kulturen, Traditionen zu einem großen Ganzen zu vereinen und daran zu wachsen. Erst dann wird man flexibel und kann sich immer weiter entwickeln. Das Leben ist ein lebenslanger Prozess, eine endlose Suche.

Swinging Cello

SWR Music, Vertrieb: Naxos, SWR19002CD; EAN: 7 47313 90028 2

Cellowerke des 1937 geborenen Nikolai Kapustin werden dargeboten von Christine Rauh. Ihre Mitstreiter sind der Altsaxophonist Peter Lehel, der Pianist Benyamin Nuss, die Schlagzeugerin Ni Fan am Vibraphon sowie die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Leitung von Nicholas Collon.

Kann man diese Musik in den Bereich des Jazz einordnen, oder gehört sie doch eher in die klassische Sparte, ist sie gar beides zugleich oder keines davon? Das Œuvre des ukrainischen Komponisten und Pianisten Nikolai Kapustin wirft immer wieder diese Fragen auf. Selbst sah sich Kapustin nie als einen Jazzpianisten, doch sagte er zugleich, er müsse dies sein, alleine wegen des Komponierens. Meist sind verschiedene der unzähligen Klavierkompositionen Kapustins zu hören, nicht bekannt hingegen sind die Werke für andere Instrumente. Dem entgegenwirkend spielte nun Christine Rauh Werke für das Violoncello ein.

Die Cellistin trumpft auf mit einer unbändigen Leichtigkeit und Spielfreude auf, die fröhlich springend beinahe an eine Operettensängerin erinnert, die mit keckem non legato ihren Ambitus austestet und dabei jeden Ton als singuläres Ereignis genießt. Auch gelingt Rauh eine selten klare und reine Tongebung auch in den hohen Lagen. Das Cantabile beherrscht die Solistin ebenso in überzeugend natürlicher und feingliedriger Weise, überrascht dabei mit recht wenig und dafür flexibel den Gegebenheiten angepasstem Vibrato, wodurch sie einem Großteil ihrer Kollegen um Längen voraus ist, bei welchen ein mechanisches Vibrato in unverhältnismäßig großem Ambitus der Regelfall ist. Allgemein ist Christine Rauh ein unverkennbarer Feinsinn zuzuschreiben, mit wachem und gewandtem Geist den musikalischen Charakter zu erfassen und unmittelbar mit dem Klang ihres Cellos darauf zu reagieren.

Die drei Mitstreiter Rauhs sind ebenso durchgehend auf hohem musikalischen Niveau und zeigen großes Verständnis für die Musik Kapustins. Peter Lehel lässt wahrlich den Spirit des Swing auferstehen im Duet for Cello and Alto Saxophone Op. 99, mit rein sanglichem und rundem Klang spielt er absolut auf Rauh abgestimmt, fühlt innerlich jeden Ton und kostet ihn voll aus. In der Sonata for Cello and Piano No. 2 Op. 84 sowie im Nearly Waltz Op. 98, der Elegy Op. 96 und der Burlesque Op. 97 ist Benyamin Nuss zu hören (übrigens Neffe von Hubert Nuss, dem gefragten Jazzpianisten). Er hält sich hauptsächlich in den sanft zurückhaltenden Gefilden auf, die er eher flächig auszugestalten weiß, wobei er durch rhythmische Finesse besticht. Vibraphon gibt es in zwei der acht Konzertetüden Op. 40, welche Christine Rauh aus dem Klavieroriginal für die Schlagwerkerin Ni Fan und sich arrangierte. Ein ganz eigener Klang entsteht in dieser ungewöhnlichen Kombination, der durchaus funktioniert. Ni Fan fliegt in schier unglaublicher Virtuosität über ihr Instrument, und das mit einer unbekümmerten Gelassenheit, in der sie ihre Stimme in aller Natürlichkeit und ohne jede „Einwirkung von außen“ gedeihen lassen kann. Gegen die bisher zu hörende Qualität mag die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Leitung von Nicholas Collon direkt etwas plump wirken, die aufgeweckte und sprunghafte Seele der Solistin kann im Streichorchester kein Pendant finden. Zu gepresst und mit zu viel Druck, zu sehr „gewollt und gemacht“ klingt das Tutti, die unbeschwerte Freiheit geht verloren.

Die Zugabe schrieb Christine Rauh zusammen mit Benyamin Nuss, eine Hommage à Kapustin für Cello und Klavier. An die bisher erklungene Musik erinnert die Hommage in ihrer zarten Verträumtheit und breit angelegten Linie kaum, doch ist sie eine bezaubernde Nocturne, welche auch Rauhs tiefe Lagen einmal präsentiert und einen zartempfundenen Abschluss dieser ansonsten so belebten CD bildet.

[Oliver Fraenzke, August 2016]