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Markus Bellheim zelebriert András Hamarys exzellenten Préludes-Zyklus

NEOS 12305 + 52301 (CD+DVD); EAN: 4 260063 123054

András Hamarys Zyklus von 24 Préludes für Klavier (2021/22) ist nun, gespielt vom Widmungsträger Markus Bellheim, in Koproduktion mit BR Klassik bei NEOS erschienen. Die Musik wie ihre Darbietung können nur als herausragend betrachtet werden.

András Hamary (*1950) kam nach ersten Studien in Budapest bald nach Deutschland, wo Hans Leygraf (Klavier) in Hannover und Thomas Ungar (Dirigieren) in Stuttgart seine wichtigsten Lehrer waren. In beiden Fächern wurde er mehrfach ausgezeichnet, so beim Debussy-Wettbewerb in Paris oder für seine Interpretation von Adriana Hölszkys Oper Bremer Freiheit bei der 1. Münchner Biennale. Von 1986 bis zu seiner Emeritierung hatte Hamary in Würzburg eine Professur für Klavier und Kammermusik inne und lebt nun in Berlin. Als Dirigent konzentrierte sich der Künstler ganz auf die Neue Musik und widmete sich dann seit Mitte der 1970er Jahre auch – zunehmend erfolgreich – der Komposition. Den Pianisten Markus Bellheim, seit 2011 Professor an der Münchner Hochschule für Musik und Theater, lernte er bereits in dessen Würzburger Zeit kennen. Während der Corona-Einsamkeit entstand – ausgehend von zunächst wenigen Einzelstücken – nach und nach ein Zyklus von 24 Préludes für Klavier, der Bellheim gewidmet ist und von ihm uraufgeführt und inzwischen mehrmals öffentlich gespielt wurde.

Mit 24 Klavierpréludes tritt man fast unweigerlich in die Fußstapfen einer Reihe historischer Vorbilder: Im Falle Hamarys sind dies vor allem Chopin, Skrjabin, Rachmaninoff, Debussy und Schostakowitsch (op. 34). Daneben spürt der Hörer Einflüsse diverser, nicht nur Klavierkomponisten, die keine Prélude-Zyklen geschrieben haben. In ihrer rhythmischen Komplexität oder Motorik weisen manche Abschnitte auf Hamarys Landsmann György Ligeti – insbesondere dessen Klavieretüden. Auch Schubert, Schumann, gar Mahler oder Nancarrow schimmern stellenweise durch. Nicht, dass der Komponist im gut 70-minütigen Werk aus 2 x 12 Stücken wörtlich daraus zitierte; jedoch gibt es zahlreiche Allusionen, die an konkrete musikalische Situationen bei jenen Kollegen anknüpfen, die hier natürlich nicht alle aufgezählt werden können und sollen. Klar ist, dass sich Hamary diesem nicht wegzudenkenden musikhistorischen Bewusstsein stellt, ohne Elemente simpel zu imitieren oder „einzubauen“. So wird aus dem vermeintlichen „Ballast“ eine Quelle für ganz eigene Inspiration. Literatur bildet bei zumindest zwei Préludes den Ausgangspunkt: Attila Jószefs Gedicht Ringató für das „Wiegenlied“ (1. Heft, Nr. 7) und die Erzählung El milagro segreto des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges (2. Heft, Nr. 2).

Das besondere Problem, bei relativ wenig Zeit – die einzelnen Préludes dauern hier zwischen 1‘20“ und knapp 5 Minuten – ohne Umschweife sofort zum Punkt kommen zu müssen, erfordert große Klarheit des musikalischen Materials und eine geradezu plastische Vorstellung der damit erzeugten Klangwelten. Hamary scheut in den meisten der Miniaturen keineswegs tonale Anklänge: Gleich im ersten Prélude haut er die Hörer quasi übers Ohr, indem er deren Erwartungen bezüglich angedeuteter Dominantseptakkorde und der Leittonwirkung des Tritonus zum Mäandern durch den gesamten Quintenzirkel irreführt.

Ihre erstaunliche Überzeugungskraft gewinnt Hamarys Musik allerdings auffällig mittels extrem durchdachter und konsequenter Einbeziehung von Resonanzen und Obertoneffekten, was virtuose Nutzung aller Möglichkeiten des Sostenuto-Pedals verlangt. Allseits überraschen stimmige Modifikationen sogar während des Verklingens, eines ja sonst als eher statisch wahrgenommenen Klangphänomens, die dann immer den Raum mit einbeziehen.

Dies öffnet in einer Reihe von Préludes („Zyklus im Zyklus“ [Hamary]), darunter die drei Funerals des ersten Hefts, eine schon erschütternde emotionale Tiefe: Musik sozusagen als Vorbote des Totenreichs – und Aufarbeitung des eigenen Pandemie-Traumas? Im zweiten Heft unterstreichen zudem wiederkehrende Fragmente des anfänglichen Chorals (Track [13]) dessen zyklische Anlage. Weiterhin finden sich einige bildhafte (Terramoto [„Erdbeben“], Der Trommler) sowie heitere, „helle“ Stücke mit einer gehörigen Prise Humors: z. B. Paganini met Gershwin on 5th Avenue (2. Heft, Nr. 10), das Paganinis Caprice Nr. 9 La caccia pianistisch höchst wirkungsvoll paraphrasiert.

Markus Bellheim spielt diese Tour de Force absolut kongenial. Der ihm quasi auf den Leib geschriebene, enorm anspruchsvolle Klaviersatz wirkt unter seinen Händen – und Füßen! – trotzdem nie angestrengt. Bellheims Konzentration und hochdifferenzierte Anschlagskunst, wie man sie ja längst von seinen Messiaen-Aufführungen kennt, kommt bei jedem der 24 Stücke voll zur Geltung. Die rasanten Nummern (etwa Nr. 10 Csillagszóró [„Wunderkerzen“] oder die zunächst an Ligeti erinnernde, später hemmungslos tonale Nr. 12 Mandolin), aber genauso die perfekt dargebotenen, oft wie eine Fata Morgana erscheinenden besagten Oberton-Kunststücke gelingen ihm staunenswert. Die unmittelbare Entfaltung der musikalischen Ideen hinter den Einzelstücken und das Erfassen des großen Ganzen – oft fordert Hamary Attacca-Übergänge zwischen zwei Préludes – gehen stets Hand in Hand und erhalten den Spannungsbogen unentwegt aufrecht: Empathie, die sich sofort auf den Hörer überträgt.

Interessant, dass als Instrument bei der im März 2023 entstandenen Aufnahme aus dem Reitstadel in Neumarkt (Oberpfalz) ein Steingraeber Grand Piano E zum Einsatz kommt, wo gerade die basslastigen Préludes (Terramoto: Heft I, Nr. 4 oder Schwarze Trompeten: Heft II, Nr. 3) einerseits etwas weicher, zugleich jedoch bedrohlicher klingen als auf den gewohnten Steinways. Aufnahmetechnisch ist die CD makellos, das Booklet mit Liner Notes vom Komponisten und Detlef Heusinger – wie von Neos gewohnt – sehr ansprechend aufgemacht. Als entbehrliche Zugabe erweist sich die DVD: 24 mit computergenerierter Musik unterlegte Videoanimationen Hamarys aus den letzten 15 Jahren, die in keinem Zusammenhang mit den Préludes zu stehen scheinen. Der Komponist präsentiert sich damit – sowie dem Cover-Gemälde – zusätzlich als bildender Künstler.

Hamarys Zyklus seiner 24 Préludes ist, verglichen mit mancher – polemisch ausgedrückt – „Massenware“ z. B. aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, ein echter Markstein in der Gattungsgeschichte, offenkundig ein sensibles Meisterwerk mit – hoffentlich – nachhaltiger Repertoirefähigkeit. Der Rezensent kann jedenfalls das Erscheinen der Notenausgabe (Musikverlag V. Nickel, München) kaum erwarten. Die CD-Einspielung hat jetzt schon eine vorbehaltlose Empfehlung an alle Freunde der Klaviermusik verdient.

[Martin Blaumeiser, Mai 2023]

Moritz Eggerts Fußballoratorium endlich auf CD

NEOS 12009-10; EAN: 4 260063 120091

Komponiert für die Ruhrtriennale 2005 im Hinblick auf die WM in Deutschland ein Jahr später, nahm sich die Musikakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes Moritz Eggerts Fußballoratorium „Die Tiefe des Raumes“ 2019 als ihr jährliches Großprojekt vor. Die engagierte Aufführung der jungen Musiker zusammen mit namhaften Gesangssolisten in der Münchner Philharmonie unter der Leitung des Komponisten, dessen umfangreiches Vokal- und Opernschaffen auf Tonträgern bislang völlig unterrepräsentiert erscheint, ist nun endlich auch als Live-Mitschnitt auf CD erhältlich.

Moritz Eggert (*1965) hat es mittlerweile auf – mindestens – 17 Opern gebracht, und auch außerhalb des Musiktheaters spielt die Vokalmusik eine gewichtige Rolle. Meist traut sich der schon lange in München ansässige Komponist, durch gezielte Brechung und Konterkarieren gewisser Erwartungshaltungen des Publikums, wohlbekannte Genres klassischer Musik kritisch zu hinterfragen. Das hält sich bei seinem Fußballoratorium Die Tiefe des Raumes – Teil des Kulturprogrammes der Weltmeisterschaft 2006 – wohltuend in Grenzen. Wie bei vielen abendfüllenden Oratorien gibt es zwei Teile, hier: Erste Halbzeit – Zweite Halbzeit und Nachspielzeit, großbesetzten Chor und Orchester, sowie ein Solistenquartett (Sopran, Mezzosopran, Tenor und Bariton), das noch um drei Sprecher ergänzt wird.

So umfasst der erzählerisch-dramatische Handlungsrahmen (Libretto: Michael Klaus) einerseits die Abläufe eines „realen“ Fußballspiels im Stil einer Rundfunkreportage: Zentrale Figur ist hierbei der Bariton als Journalist – ganz ausgezeichnet: Hans Christoph Begemann –, stellvertretend für den Evangelisten in den bekannten Passions-Oratorien. Das Spiel wird außerdem von drei Sprechrollen (Reporter als alter ego des Journalisten, Trainer und Alt-Internationaler) und vor allem dem Chor, der in erster Linie die Zuschauer im Stadion verkörpert, kommentiert. Eingeflochten in dieses konkrete Sportevent ist dann zusätzlich die Erfolgs- bzw. Leidensgeschichte eines jungen, aufstrebenden Spielers bis zum entscheidenden WM-Treffer. Dies geschieht teils rückblendenartig, sekundiert von den beiden allegorischen Figuren der Tugend und des Lasters (Sopran und Mezzo), aber auch durch Gedanken des Spielers (Tenor, anscheinend leicht indisponiert: Simon Bode) selbst.

Wenig überraschend nutzt Moritz Eggert – dessen Oratorium sich ausdrücklich nicht nur an ein klassik-affines Publikum wenden soll – als Klangcollage einiges an vertrauten Fan- bzw. Stadiongesängen, inklusive Stückfetzen, die man regelmäßig auf mitgebrachten Instrumenten hört, und die ja bereits dort oft ironischen Charakter haben können („Weine nicht, wenn ein Törchen fällt, damm damm…“). Großartig sind auf jeden Fall die Farbigkeit und stilistische Vielfalt, die Chor und Orchester generell zu bewältigen haben. Die Musikakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes – überwiegend aus talentierten Laien zusammengesetzt – hat dies im Vorfeld mit Profi-Dozenten in Südtirol perfekt einstudiert und musiziert unter der klaren Leitung von Eggert mit hör- und sichtbarem Engagement: Der Rezensent hat die Aufführung am 25.8.2019 live miterlebt. Das Niveau der Musikakademie bei solch dicken Schinken kann immer wieder nur erstaunen.

Die für die weiblichen Gesangssolisten (Ania Vegry und Ruth-Maria Nicolay geben ihr Bestes) bestimmte Musik karikiert zum Teil Opernhaftes bis ins Lächerliche, manches ist aber dann wieder hervorragend gelungen, beispielsweise die „Verklärung“ – zum Glück keine Eins-zu-eins-Vertonung – von Giovanni Trapattonis berühmtem Presseauftritt („Was erlauben Strunz?“) als große Sopranarie. Andere Anspielungen sind allerdings nur albern („Ich kenne des Menschen nicht. – Wahrlich, du bist auch einer von denen…“) und reichen heute nicht mehr für eine echte Provokation des Publikums, wie noch 1985 Vergleichbares in Mauricio Kagels Sankt-Bach-Passion. Im Finale beweist Eggert, dass er durchaus ein eindrucksvolles Vokalensemble mit Chor komponieren kann. Insgesamt ist die Musik des mit knapp zwei Stunden etwas lang geratenen Werkes – besonders in der Ersten Halbzeit wünschte man sich, dass es straffer voranginge – verständlich, über weite Strecken tonal und witzig, ohne sich billig anzubiedern. Als Reflexion über das gesellschaftliche Phänomen Fußball werden etliche Aspekte angesprochen. Allzu beißender Sarkasmus, wie etwa in Peter Eötvös‘ Halleluja – Oratorium balbulum (2016), bleibt dem Hörer erspart.

Für die Studienstiftung war das aufwändige Konzert leider nicht ganz der erwartete Erfolg: Hätte man ein Jahr zuvor mit Mahlers Achter wohl das sprichwörtliche Fußballstadion füllen können, war die Münchner Philharmonie bei Eggert nur zu 30% ausgelastet – unter Tiefe des Raumes hatten sich die Veranstalter sicherlich etwas anderes vorgestellt. Dass vielen da eine wirklich mutige und gelungene Darbietung entgangen ist, zeigt die in üblich hoher NEOS-Qualität aufgemachte CD-Veröffentlichung, die nun Gelegenheit bietet, das Verpasste nachzuholen – äußerst unterhaltsam ist das allemal. Aufnahmetechnisch wurde die riesige Besetzung recht überzeugend eingefangen – lediglich der Chor klingt gegenüber den deutlich im Vordergrund agierenden Solisten ein wenig topfig. Glücklicherweise enthält das Booklet auch das komplette Libretto.

[Martin Blaumeiser, Oktober 2021]

Scrapes and Soundscapes

NEOS 12002, EAN: 4 260063 120022

Die beiden Schwestern Karolina und Erika Öhman präsentieren als UmeDuo Werke für Cello und Schlagwerk. Zu hören sind ausschließlich Auftragswerke des Duos: Gina et Fio von André Chini (geb. 1945), Bells and Tides von Jenny Hettne (geb. 1977), re/wind/re/write – fast-forward version von Ricardo Eizirik (geb. 1985), Stenar – Aska, aska von Esaias Järnegard (geb. 1983), Never-Ending Journey von Leilei Tian (geb. 1971), Whereabout I von Ivo Nilsson (geb. 1966) und Se… von Farangis Nurulla-Khoja (geb. 1972).

Als Karolina und Erika Öhman sich 2008 als UmeDuo zusammentaten, bemerkten sie erst, wie wenig Werke es für ihre Besetzung Cello und Schlagwerk gab. So begannen die beiden Musikerinnen, Kompositionsaufträge zu vergeben an Komponistinnen und Komponisten, die einen gewissen Bezug zu Schweden haben, das Heimatland der beiden Schwestern. Laut eigenen Aussagen reagierten die Tonsetzer durchweg begeistert und verkündeten fast alle, Cello und Schlagwerk seien ihre Lieblingsinstrumente. Sieben der zahlreichen aus diesem Vorhaben resultierenden Werke nahmen Karolina und Erika Öhman nun für NEOS auf.

Die CD beginnt sogleich mit einem wahrlich eigenständigen wie originellen Werk, das seine Inspiration aus dem Anime Porco Rosso zieht. Um keine der beiden in ihn verliebten Frauen Gina und Fio zu verletzen, verschwindet das Schwein in seinem roten Flugzeug, die Frauen werden Freunde. André Chinis Werk thematisiert nun die Unterhaltungen von Gina und Fio und setzt sie in Musik um. In klarer musikalischer Handschrift nehmen wir bildlich die unterschiedlichen Arten der Kommunikation wahr, spüren das Miteinander der beiden Partnerinnen. Ebenso stark beginnt Bells and Tides von Jenny Hettne, in dessen Entstehen die beiden Musikerinnen stark einbezogen wurden; alleine schon zur Findung der geeigneten Schlaginstrumente, die schließlich das Fundament des Stücks auf ein vierteltönig herabgestimmtes F definierten. Im ersten Teil des Stücks spürt der Hörer das ständige Expandieren und Kontrahieren der Gezeiten, begleitet von den Glocken, die seit jeher Inspirationsquelle von Komponisten waren. Der deutlich kürzere zweite Teil hingegen bleibt mir unverständlich, da ich weder neue Aussagen, noch aufhörenswerte Klänge darin finde. Ebenfalls überlang empfinde ich „Wherebout I“ von Ivo Nilsson, das durch die meditativen Sphären zwar eine Art Ruhepol der CD bildet, diese aber nicht über mehr als zwölf Minuten tragen. In diesem Werk werden alle Schlagwerke gestrichen, so dass nach und nach die Wahrnehmung der Perkussion verwandelt wird. Laut Booklet ist „Whereabout I“ Teil eines vierteiligen Zyklus für unterschiedliche Besetzungen, der getrennt oder gleichzeitig gespielt werden kann (meint „gleichzeitig“/“samtidigt“ hier tatsächlich parallel zur gleichen Zeit oder nacheinander?). „Se…“ aus der Feder Farangis Nurulla-Khojas nimmt das Schlagwerk in den Vordergrund und fokussiert sich auf mikroskopische Klangelemente, denen die ganze Aufmerksamkeit geschenkt wird. Gotländisch eisige Kälte erwartet uns in Esaias Järnegards „Stenar – Aska, aska“ (Steine – Asche, Asche), einem modernen Klanggemälde der Winterlandschaft auf dieser rauen Ostseeinsel, das die Isolation zu vermitteln vermag. Thematisch möchte man es als beinahe als Fortsetzung von Vaughan-Williams‘ Arctic Symphony bezeichnen, wenngleich natürlich in ganz anderem und vor allem einzigartigem Stil. Leilei Tian mischt asiatische und europäische Klänge in ihrer Never-Ending Journey, einem meditativen, aber parallel in sich geschlossenen und funktionierenden Stück. Die langen Melodien des Cellos verzaubern und begeistern durch ihre Sanglichkeit. Mein persönliches Highlight dieser CD ist re/wind/re/write von Ricardo Eizirik, ein heiteres Werk, das einen Kassettenrecorder abbildet. Immer wieder wird der Recorder zurückgespult, verlangsamt oder beschleunigt; dabei stellt das Cello den Recorder dar, der vom Schlagwerk „bedient“ wird. Bei diesem Werk handelt es sich aber nicht bloß um ein Witzstück, sondern errichtet sich auf fundierter Klangforschung und präsentiert sich genau abgehört bezüglich der Form, die in sich perfekt aufgeht. Re/wind/re/write nimmt bestimmte Elemente wieder auf, aber verirrt sich nicht in Wiederholungen, sondern bringt zum genau richtigen Moment Neues, so dass es immer wieder für Überraschungen sorgt.

[Oliver Fraenzke, März 2020]

Vom Sprengen des Gartens

NEOS 11809; EAN: 4 260063 118098

Katrin Frauchiger und Katharina Weber spielen zeitgenössische Lieder sowie Vokalwerke aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Von Jürg Wyttenbach hören wir 8 Duettini für Frauenstimme und Klavier nach Gedichten von Issa und Kurt Marti sowie Drei kurze Gebete an die japanische Göttin der Barmherzigkeit Kannon Bosatsu für Frauenstimme und Klavier – beide Werke wurden den darbietenden Künstlerinnen gewidmet. Die Sopranistin Katrin Frauchiger steuert selbst zwei Lieder mit Prolog für diese Aufnahme bei, die aus ihrem Zyklus „…und die Nacht ist paillettenübersät“ auf Gedichte von Meret Oppenheim entnahm und bearbeitete. Auch von der Pianistin Katharina Weber erklingt Musik, sieben von neun Lieder aus „Zwischenland“ auf Gedichte von Martin Merz. Die zweite Hälfte der Aufnahme bilden ausgewählte Lieder aus dem „Hollywood Songbook“ von Hanns Eisler und die Sieben frühen Lieder aus der Feder Alban Bergs.

In der heutigen „modernen“ Musik, die oft so abstrakt und komplex ist, dass der Hörer schnell den Halt in ihr verliert, steht das Klavierlied da wie ein Fels in der Brandung: Der Text gibt uns den nötigen Griff und die auf 88 Tasten beschränkte Begleitung können wir gut in den Kontext der Vokallinien setzen. Sofern der Komponist darauf Wert legt, dass der Text verstanden werden soll, muss er eine gewisse Klarheit anstreben, die beim einmaligen Hören schon durchdrungen werden kann.

Der erste Beitrag der vorliegenden CD stammt von Jürg Wyttenbach, der die Herausforderungen des Klavierliedes durch enorme Reduktion löst – die die Titel bereits verkünden. Anders als in den meisten seiner Werke fokussiert sich der Komponist in den 2014 für Frauchiger und Weber geschriebenen Duettini und kurzen Gebeten nicht auf ausladende Geste und Chromatik, sondern auch einzelne Klangereignisse im Klavier, die durch die Sopranstimme zusammengehalten werden. Die hieraus resultierenden Vokalstücke unterliegen keinem festen System, sondern sind instinktiv auf Klang und Gefühl ausgelegt. In die Duettini integriert Wyttenbach zudem Klangeffekte, die das Klavier nicht mit Fingern auf den Tasten, sondern nur mit Hilfsmitteln und auf den Saiten realisieren kann. (Mich hätte sehr interessiert, wie diese zustande gebracht werden, leider gibt der recht boulevardmäßig geschriebene Begleittext keinen Aufschluss darüber.)

Katrin Frauchiger basiert ihren Zyklus „…und die Nacht ist paillettenübersät“ auf nur schwer durchdringbare Texte von Meret Oppenheim.  Entsprecht schwierig gestaltet es sich für den Hörer auch, gerade das zweite Lied „Am Anfang ist das Ende“ textlich nachzuvollziehen, was sich auch auf die Wahrnehmung der Musik auswirkt. Frauchiger findet ansprechende Zusammenklänge und zaubert fließende Melodien; nur ein umfassender Bogen fehlt mir, der das gesamte Lied umspannt und zu einer Einheit formt.

Spannend gestalten sich die Beiträge von Katharina Weber aus ihrem Zyklus „Zwischenland“. Die Pianistin isoliert die Klavierstimme von der Sopranstimme, um so einen Kontrapunkt zu schaffen und zwei Gefühlswelten parallel ablaufen zu lassen. Während der Sopran auf dem Text schwebt, sorgt das Klavier für einen Groove: scharfe Akzente und aufreibende Dissonanzen halten die Aufmerksamkeit durchgehend oben.

Aus dem Hollywood Songbook von Hanns Eisler wählten die Musikerinnen acht Lieder aus, welche die stilistische Vielfalt und die Extremität der Entstehungszeit dieser Exilliteratur verdeutlichen. Freie Tonalität und Dodekaphonie treffen auf amerikanisches Flair, Blues und Unterhaltungsmusik.

Wenngleich Frühwerke, sind für mich die Sieben frühen Lieder Alban Bergs nicht weniger Meisterwerke, die zu Recht bis heute einen festen Platz im Liedrepertoire einnehmen. Sie wurden noch vor Bergs großem Einstieg in die Komponistenwelt durch die überwältigende Klaviersonate op. 1 geschrieben. In den Liedern greift Berg vorhandene kompositorische Idiome auf, setzt sie aber bereits auf ganz eigene Weise um.

Katharina Weber und Katrin Frauchiger beweisen sich als gewandte und vielseitige Musikerinnen, denen sowohl der minutiös reduzierte Stil als auch das Ausladende, Pathetische liegt. Voll entfalten können sie sich natürlich in erster Linie bei Eislers „An eine Stadt“ und bei Bergs Liedern; diese erlauben es ihnen, große Linien vorzutragen und ihre Künste der Phrasierung zu präsentieren. Weber besticht auch in ihren eigenen Liedern als Impulsgeberin – worauf Frauchiger kongenial eingeht.

[Oliver Fraenzke, Januar 2019]

Mehr als reiner Nachhall

NEOS 21704; EAN: 4 260063 217043

Piccolo Concerti Grosso: Wolfgang Amadé Mozart, Matthias Mueller; Zurich Chamber Orchestra, Willy Zimmermann (Konzertmeister), ensemble remixed, Matthias Mueller, Michael Collins (Bassettklarinetten)

Werke mit und von Matthias Mueller finden sich auf der CD „Piccolo Concerto Grosso“. Beim Bassettklarinettenkonzert KV 662 von Wolfgang Amadeus Mozart spielt Mueller die Solopartie und wirkt dazu bei seinen eigenen Werken mit: Dem titelgebenden Piccolo Concerto Grosso für zwei Bassettklarinetten und Orchester sowie dem Octet. Wir hören das Zurich Chamber Orchestra unter ihrem Konzertmeister Willy Zimmermann sowie im Piccolo Concerto Grosso Michael Collins als zweiten Bassettklarinettsolisten. Das Oktett erklingt mit dem ensemble remixed.

In Matthias Mueller entdeckt man einen Komponisten, der etwas auszusagen hat. Leicht könnten seine Werke voreilig in die Schublade des Neoklassizismus gesteckt werden, hinter Hindemith, Graener und Milhaud; doch ein genauer Blick reicht, um zu erkennen, dass Muellers Werke in einem durch und durch eigenen Stil geschrieben stehen. Die Musik Muellers bezieht sich auf die großen Komponisten der Klassik: Im Piccolo Concerto Grosso dient Mozart als Quelle der Inspiration und das Octet entstand als Ergänzung zu Schuberts großem Opus für die selbe Besetzung; eine Reduktion hierauf wäre allerdings falsch. Mueller schreibt in einem frischen und lebhaften Stil voller Kontraste, der von vorne bis hinten formal geschlossen ist. Die Musik besitzt kluge und bedachte Konzeption, die einzelnen Instrumente kommen ausnahmslos zur Geltung und jedes von ihnen spielt eine tragende Rolle; im Piccolo Concerto Grosso wirkt das Orchester mehr als Widerpart zu den beiden Solisten denn als Begleitung. In diesem Werk greift Mueller die barocke Form des Concerto Grosso auf und aktualisiert sie, setzt sich dabei spielerisch mit Problemen der Aufführung alter Werke auseinander, der vorletzte Satz beispielsweise kämpft mit der mitteltönigen Stimmung und deren Problematik in der Modulation. Es bedarf keine Techniken und Spielweisen, die moderner sind als das Bartók-Pizzicato, um Muellers Werke modern klingen zu lassen: Es ist die Unverbrauchtheit und geistige Präsenz in jeder Wendung, die Mueller von zahllosen anderen Komponisten unserer Zeit abhebt.

Als Klarinettist spielt Mueller fein und klar, legt besonderen Wert auf die reine Intonation anstelle der heute oft gebräuchlichen gleichschwebenden Temperierung. Die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Mozarts Klarinettenkonzert KV 622 und die ungebrochene Liebe zu dieser Musik zahlen sich in der Darbietung aus, bis auf wenige mir unverständliche Akzentuierungen in der tiefen Lage kann man nichts an Muellers reflektiertem Spiel aussetzen. Ihn begleitet das Zurich Chamber Orchestra mit Willy Zimmermann am Konzertmeisterpult, welches aktiv aufeinander hört und aus einem Atem musiziert. Matthias Mueller verschmilzt klanglich mit seinen Mitspielern, sei es im Ensemble Remixed oder mit seinem Concerto Grosso-Partner Michael Collins.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2018]

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Überstrapazierte Ideen

NEOS 11730; EAN: 4 260063 117305

Moritz Eggert: Muzak, Number Nine VII: Masse; Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, David Robertson, Peter Rundel (Leitung)

Liveaufnahmen aus den Konzerten der Musica Viva hören wir auf dieser CD aus dem Hause NEOS. Auf dem Programm stehen zwei Werke des deutschen Komponisten Moritz Eggert: Muzak für Stimme und Orchester sowie Number Nine VII: Masse für großes Orchester. Es spielt das Symphonieorchester des Bayerischen Rundrunks, in Muzak unter David Robertson, in Number Nine VII unter Peter Rundl; die Gesangspartie übernimmt der Komponist selbst.

Moritz Eggert ist ein wahres Multitalent: ein ausgezeichneter Schreiber, bemerkenswerter Pianist, beachtlicher Dirigent und – wie in dieser Aufnahme zu hören ist – auch geübter Sänger. Nur die Rolle des Komponisten mag dem Tausendsassa nicht so recht stehen – doch genau in dieser hat Eggert den durchschlagendsten Erfolg.

Muzak setzt sich mit Hintergrundmusik auseinander, mit Pop und allerlei möglichst inhaltsfreier Klangkultur. Zugrunde liegt ein Text aus klischeehaften Phrasen und heruntergebrochenen Song-Zitaten. Ursprünglich plante Eggert, mit Muzak seiner Abneigung gegen diese Art „hohle“ Musik Ausdruck zu verleihen und sie der „ernsten“ Musik näher zu bringen. Schließlich befasste er sich allerdings eher damit, die melancholische Gefühlswelt der leichten Muse und deren unmittelbare Wirksamkeit auf den Menschen zu untersuchen. Das klangliche Resultat wirkt wir ein Potpourri verschiedener Genres der leicht vermarktbaren Musik, zusammengekleistert ohne nachvollziehbare Bezüge oder logische Abfolge. Einige der Abschnitte besitzen Reiz und präsentieren sichtlich Eggerts Auseinandersetzung mit dieser Art von Musik, gegen die er laut eigener Aussage Abneigung verspüre. Sich den Klischees geschickt zu bedienen, gehört zu den Talenten Moritz Eggerts. Doch warum belässt man es nicht bei einer lustigen fünf- oder zehnminütigen Humoreske, sondern muss das Konstrukt auf vierzig Minuten ausdehnen? Der Gag erschöpft sich, der Hörer ermüdet. Schließlich zappt auch keiner vierzig Minuten durch sämtliche Radiosender und erfreut sich dabei an Störgeräuschen oder unklarem Empfang.

Wenn ein Komponist ein 40-minütiges Orchesterwerk über ein gewisses Objekt schreibt, so müsste der Hörer erwarten können, dass der Verfasser sich auch ausreichend mit dem Objekt beschäftigt hat. Umso mehr überrascht, dass Eggerts Definition von „Muzak“ im Booklettext falsch ist. Wer tatsächlich etwas über Muzak erfahren will, dem lege ich folgende Links nahe: Muzak history; Where did all the elevator music go.

Während Muzak noch als überlanger Scherz betitelt werden kann, musste ich mich bei „Number Nine VII: Masse“ zwingen, es durchzuhören und mich nicht nach fünf Minuten dadurch zu erlösen, die Musik abzuschalten und der Platte als Frisbee letzten Wert abzuringen. Eggerts Idee war, das komplette Orchester non-stop zu beschäftigen, ohne nur einem Musiker eine Pause zu gewähren. Dass dies zum Scheitern verurteilt sein muss, beweist jede Instrumentationslehre und jedes funktionierende Instrumentalstück seit Anbeginn der notierten Musik. Strukturen entstehen durch Kontraste und Kontraste durch Abwechslung, verschiedene Instrumente oder Spielweisen; wenn nun aber das Orchester den Hörer zwanzig Minuten durch immer noch heftigere Impulse attackiert, verliert sich das Publikum schnell inmitten des Gewirres, und der Eindruck flaut ab. Selbst Moritz Eggerts handwerkliches Geschick kann das musikalische Geschehen nicht mehr retten. Was er selbst als „Freiheit“ bezeichnet, die ihm an erster Stelle stehe, ist in Faktum eine selbstgewählte Beschränkung auf gewisse Vorstellungen und Themen, die er sich für seine Stücke aussucht. Statt offen zu bleiben und die Musik in sich wirken zu lassen, reduziert Eggert seinen kompositorischen Horizont auf Effekthascherei, überstrapazierte Gags, Skurrilitäten und möglichst schräge Geräuschkonstellationen. Heraus kommen unförmige Klanggestalten, die nach kürzester Zeit ermatten und den Hörer quälend langweilen.

[Oliver Fraenzke, August 2018]

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Exotismus und Klischee

NEOS 11606; EAN: 4 260063 116063

Rupert Huber: rūḥ-i-gulāb · Mein Venedig; Chor des Bayerischen Rundfunks, Madīḥ Ensemble, Rupert Hubert (Leitung), Doris Huber (Schalenglocken)

Werke für Chor mit Instrumentalisten von Rupert Huber hören wir auf vorliegender CD aus dem Hause NEOS. Als Hauptwerk erklingt rūḥ-i-gulāb („Die Seele der Rose“), ein Modem für fünfstimmigen Chor, ägyptisches Madīḥ Ensemble und zehn Schalenglocken nach einem Gedicht von Sharaf al-Din al-Būsīrī, welches von Friedrich Rückert ins Deutsche übersetzt wurde. Es singt der Chor des Bayerischen Rundfunks zu den Instrumentalklängen vom Madīḥ Enselmble mit Doris Huber an den Schalenglocken. Das zweite zu hörende Werk heißt „Mein Venedig“ für gemischten Chor mit Schalenglocken, Okarinas und Röhren nach einem Gedicht von Rose Ausländer; der Komponist dirigiert beide Werke.

Rupert Hubers Musik dient der Wirkung, der vom Musiker aus den Hörer überspringenden Energie. Eine Aufführung soll die Partitur so getreu wie möglich wiedergeben, die intendierte und nach Möglichkeit verschriftlichte Vorstellung des Komponisten so genau wie möglich wiedergeben. Diesen Übergang von Vorstellung zu Kodifizierung zu Wahrnehmung und Wirkung beschreibt Huber mit dem technischen Begriff Modulation, nennt seine Werke entsprechend „Modems“.

Die beiden auf dieser CD vorliegenden Modems könnten genauso gut „Stimmungsbilder“ betitelt werden, denn das charakterisiert ihren Gehalt mit einem verständlichen Begriff. Es handelt sich um überwiegend statische Werke ohne besondere Kontraste, deren Gleichförmigkeit tranceartige Wirkung erzielt. Die Musik will den Hörer in einen gewissen Zustand bringen, dient mehr dem Erleben als dem tatsächlichen Hören. Dazu bedient sie sich Stilmitteln, die leicht einzuordnen sind. In rūḥ-i-gulāb sind dies Exotismen: ein Ensemble voll von arabischen Instrumenten und ein dazu passender Gesang, Schwingungen durch die Schalenglocken und nur leicht variierte rhythmische Gestalten. Die primäre Wirkung verfehlt rūḥ-i-gulāb nicht, der Hörer fühlt sich sogleich ein in eine südöstliche Welt; doch er muss in ihr verharren für über 45 Minuten. Denn es passiert nicht viel, was die Aufmerksamkeit bannen könnte oder den Wunsch, dieser Klangsphäre weiterhin beizuwohnen. Es fehlen Kontraste, neue und bereichernde Elemente, welche die Musik würzen; stattdessen erhalten wir unaufhörlich das Gleiche: regelrecht anbiedernde Exotismen, die den Musikethnologen mehr reizen würden als den Hörer, der irgendwann gesättigt ist.

„Mein Venedig“ bedient sich eines anderen Klischees, nämlich dessen der Konturlosigkeit und der Undurchdringbarkeit. Das Werk verweigert traditionelle Notationsformen, so dass die Partitur aus Textanweisungen besteht, an die sich der in drei Reihen aufgestellte und mit jeweils einem Instrument (Schalenglocken, Okarinas oder Röhren) versehene Chor zu halten hat. Eröffnet wird „Mein Venedig“ durch allmählich aufkommendes Rauschen und Flüstern: ein gerne verwendeter Effekt für zeitgenössische Komponisten, um ihre Musik einzuleiten. Doch danach? Danach passiert erneut nichts mehr, was von Belang wäre: die Musik verharrt in dieser Flüster- und Rauschwelt, ohne dass es einen großen Ausbruch oder spürbare Kontraste gäbe.

Vielleicht wirkt diese Musik ja auf denjenigen, der sie live hört, doch gebannt auf CD verblasst ihr Effekt zu nicht enden wollender Kontinuität.

[Oliver Fraenzke, Juli 2018]

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Auf sich alleine gestellt

NEOS 11709; EAN: 4 260063 117091

Marcus Antonius Wesselmann, solo works I: Bledsoe (Flöte), Rothbrust (Schlagzeug), Bergström (Gitarre), Knox (Viola), Otto (Saxophon), Schwarz (Fagott), Wesselmann (Tonband)

Sechs der bislang neunzehn Werke für Soloinstrumente von Marcus Antonius Wesselmann sind auf die CD „solo works I“ aus dem Hause NEOS gebrannt: Helen Bledsoe spielt SOLO 1 für Flöte, Dirk Rothbrust SOLO 2 für Schlagzeug, SOLO 3 für elektrische Gitarre hören wir mit Mats Bergström und SOLO 4 für Bratsche mit Garth Knox, SOLO 8 für Bariton Saxophon bietet Simone Otto dar und SOLO 10 für Fagott Johannes Schwarz. Als Bonustrack bedient der Komponist selbst das Tonband in seinem Stück „In the mix“.

Der 1965 geborene Marcus Antonius Wesselmann steht musikalisch zwischen den Stühlen, lässt sich in keine Schiene direkt einordnen. Das beginnt alleine schon bei der Namensgebung seiner Stücke, die auf die poetischen Bezeichnungen verzichtet, wie wir sie von moderner Musik gewohnt sind, und statt dessen nach den Besetzungen gehend durchnummeriert. Musikalisch setzt sich dies fort, denn die Musik klingt so unbeschwert, ist aber doch mathematisch exakt durchstrukturiert und basiert auf Logik. Von den Berechnungen ist wenig bis nichts hörbar; eher könnte der Eindruck entstehen, die Musik entwickle sich aus einer Art der Minimal Music heraus, wenngleich sie wesentlich organischer und fließender gehandhabt wird. Rhythmische Patterns bilden den Grundstein und aus ihnen entsteht nach und nach eine Form, die sich stetig weiterentwickelt. Dabei bleiben Fragmente der ursprünglichen Thematik omnipräsent und erscheinen immer wieder entweder offen oder hintergründig. Der Eindruck ist ansprechend, aber nicht anbiedernd; schroff und hart, aber doch in beinahe meditativer Gleichmäßigkeit.

Von Wesselmanns 19 Solostücken sind sechs für Klavier, jedes andere Instrument erhielt bislang nur ein einziges Stück. Die Klavierwerke wurden auf dieser CD ausgespart, deshalb gibt es Lücken zwischen den ansonsten chronologisch angeordneten Soli.  Das Flötensolo ist das schlichteste und meditativste: Hier können wir die ursprüngliche Idee herleiten, welche in größerer Komplexität auf die weiteren Stücke übertragbar ist. SOLO 2 ist vielschichtiger, die einzelnen Klangkörper bilden Ebenen, die miteinander agieren können oder gegeneinander kontrastieren. In kleine Abschnitte sind SOLO 3 und 4 unterteilt, beim Gitarren-Solo sind es Tempoeinheiten, beim Bratschensolo Widmungsträger. SOLO 3 lebt dabei von elektronischen Effekten, Delay und Verzerrung, sowie von rhythmischen Impulsen, SOLO 4 ist ein innig-trübes Stück, das als einziges der zu hörenden Werke außermusikalische Inspiration hat: Es ist Musik zu einem Dokumentarfilm von Volker Schröder „Wenn ich in die Tiefe schaue“, der die Schicksale von sechs Häftlingen aus den Arbeitslagern Emsland thematisiert. SOLO 8 und 10 sind wieder durchgehende Werke, wobei 8 meist in höchstmöglicher Lautstärke wiederzugeben ist und somit zu einem Kraft-Marathon ausartet und 10 auf einem kontinuierlichen Rhythmus beruht. Der Bonustrack „In the mix“ ist für Zweikanal-Tonband mit ausführendem Interpreten: Wesselmann selbst bedient das Band und mixt die Schnipsel an Musik und Sprache.

Die Instrumentalisten sind allesamt präzise und genau, lassen sich nicht von übermäßigen Emotionen hinreißen, sondern dienen als Sachwalter, wie es von den Stücken auch vorgesehen ist. Sie behalten die Ruhe und Gleichmäßigkeit, schaffen Kontraste und kreieren einen großen Bogen, mit dem sie die SOLI zusammenhalten.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

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Die Musikgeschichte im Blick

Johannes X. Schachtner: Works for Ensemble, Ensemble Zeitsprung, Markus Elsner

Das Ensemble Zeitsprung unter Markus Elsner spielt Werke von Johannes X. Schachtner, der im Jahr der Entstehung dieser Aufnahme Artist in Residence des Ensembles ist. Auf dem Programm steht der Symphonische Essay von 2008 in der dritten Fassung von 2015/16, Aufstieg von 2010, Air – an Samuels Aerophon und Quatre tombeaux de vent von 2013 sowie die Inventionen III bis V, Hopscotch (2013), Canon – tribute to Johanna M. Beyer und Battery (je 2016). Die Gesangspartien in Quatre tombeaux de vent übernimmt Thérèse Wincent, Peter Schöne hören wir in Aufstieg.

 

Johannes X. Schachtner zählt zu den erfolgreicheren Komponisten der jüngeren Generation, er wird von Julia Fischer, Ulf Schirmer und anderen regelmäßig programmiert und tritt auch selbst als Dirigent auf die Bühne. Was Schachtner besonders macht, ist seine überragende Kenntnis der gesamten Musikgeschichte, die sich nicht zuletzt in seinem Werk wiederspiegelt. Der Komponist verirrt sich nicht in Modernismen und dem Bestreben nach ewig noch Neuerem, sondern reflektiert das Vorhandene und bezieht es mit ein. Und je mehr er dies tut, je „moderner“ werden auch die Werke, denn hier entfaltet sich etwas, das eigenständig und unerhört ist. Der Hörer kann es verstehen und nachvollziehen, wird nicht erschlagen von rein intellektuell erdachten Klangkonstellationen.

Am bezwingendsten erscheinen die frühesten beiden Werke dieser CD: Der Symphonische Essay und Aufstieg. Der symphonische Essay ist eine verdichtete Form einer ursprünglichen Kammersymphonie von 2008 und demonstriert noch immer symphonische Kontraste und Dualität. Errichtet ist sie über einer Idee aus Beethovens 8. Symphonie, die immer wieder herausscheint, sich aber nicht in den Vordergrund drängt. Die Form ist gereift und kompakt, schlüssig in ihrer Ausdehnung. Der Komponist beweist in diesem Werk, wie viel er von Instrumentation und dem Miteinander der Musiker versteht, wobei er sich nicht scheut, auch einmal tonal zu werden. Aufstieg basiert auf Texten von Johanna Schwedes und legt den Fokus darauf, diesen in der Musik abzubilden. So lässt Schachtner die Worte verständlich klingen und bereichert sie durch Musik, fragmentiert und setzt wieder zusammen. Dabei unterstreicht er die wichtigen Passagen subtil und überakzentuiert sie nicht, was einem kontinuierlichen Fluss durch die Texte zugutekommt. Die Sopranpartie in den Quatre tombeaux de vent ist da schwebender und umnebelt, anders als die klare und geerdete Baritonstimme in Aufschwung. Interessant sind auch die Inventionen (tatsächlich in ihrer ursprünglichen Bedeutung, wie wir sie von Bach kennen), in denen je das Schlagzeug eine tragende Rolle spielt. In jeder Invention wird es von neuen Perspektiven betrachtet und so erhalten wir ein Bild auf dieses Instrument, das Jahrhundertelang nur in orchestralen Kontexten wichtig war und erst im 20. Jahrhundert als Solist zum Vorschein trat.

Das Ensemble Zeitsprung zeichnet sich durch seine Gewissenhaftigkeit aus: Markus Elsner und seine Musiker wissen, wie wichtig und bedeutend ihre Aufgabe ist und, dass gerade bei moderner Musik eine schlechte Aufnahme auf das Stück und nicht die Musiker zurückgeführt wird, wodurch das Werk auf diese Weise schnell zugrunde gehen kann. Entsprechend viel Arbeit und genaue Reflexion stecken in der Darbietung der Musiker und wird hörbar. Mehr sogar, wir nehmen nicht nur wahr, dass die Musik verstanden wird, sondern, dass sie eine Herzensangelegenheit für alle Beteiligten ist. So wird die Musik lebendig, frisch und unverbraucht dargeboten, die Freude an ihr überträgt sich unweigerlich auf den Hörer.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

 

Die Macht der Rhythmik

NEOS 10819; EAN: 4 260063 108198

Der japanische Perkussionist Isao Nakamura spielt Werke für Schlagzeug solo. Es erklingen zwei der Acht Stücke für vier Pauken von Elliott Carter, Saëta und Improvisation, „dasselbe ist nicht dasselbe“ von Nicolaus A. Huber, Mauricio Kagels Solo aus Exotica, Ta-Ryong IV (Die Kehrseite der Postmoderne) von Younghi Pagh-Paan, Thunder aus Triangel von Peter Eötvös, Rebonds von Iannis Xenakis sowie Sen VI von Toshio Hosokawa.

Erst im 20. Jahrhundert wurde das Schlagwerk als Soloinstrumentarium entdeckt. Zuvor gab es Werke für gestimmte Pauken und Schlagstabspiele wie Xylophon oder Metallophon, die sich früh großer Beliebtheit erfreuten, doch die Rhythmik verlor erstaunlich spät die Bindung an die melodischen Komponenten. Und das, obgleich die Symphoniker schon im frühen 19. Jahrhundert dem Schlagwerk immer größere Bedeutung zumaßen, man denke alleine an die Pauke in Beethovens Violinkonzert oder die erweiterte Schlagzeugbesetzung in Berlioz‘ Symphony fantastique.

Isao Nakamura verbannt die Melodie auf vorliegender CD in den Hintergrund, abgesehen von Pauken verwendet er kein Instrument mit definierbarer Tonhöhe. Die Pauke kommt bei Carter zum Einsatz, dessen komplex durchkonstruierte Kompositionsstudien „Acht Stücke für vier Pauken“ ihren Reiz aus der Beschränkung des Materials ziehen. Durch diese entstehen phantastische Effekte, die Carter nicht überreizt und darüber hinaus sogar dezidiert vorschreibt, maximal vier der acht Stücke in einem Programm zu spielen. Eötvös reduziert noch weiter, in Thunder kommt lediglich eine einzige Basspauke zum Einsatz. Das „Donnern“ entsteht durch Verstimmen des Instruments mit Hilfe des Fußpedals, wodurch der Klang in kürzester Zeit mehrere Ganztöne fallen oder steigen kann. Die Beschränkung auf nur ein Instrument findet sich auch in Hubers „dasselbe ist nicht dasselbe“ für Snare Drum, was mit einer Viertelstunde Laufzeit allerdings eine spürbare Überlänge aufweist, die wenigen Effekte der Snare Drum nutzen sich zu schnell ab, um die Spannung so lange Zeit aufrecht zu erhalten. Ähnlich lang, doch dichter und kurzweiliger gestalten sich die Rebonds von Xenakis, der mit genauen Proportionen und dem Wechsel zwischen verschiedenartigen Schlaginstrumenten einen hypnotischen Bogen spannt. Hosokawa schreibt zahlreiche gestische Anweisungen vor, die Stille ist omnipräsent. Vieles dieser Musik ist bedauernswerterweise ohne optische Dokumentation nicht darstellbar, und doch bezaubern die spärlichen Klangereignisse eben dadurch, dass sie sich rar machen. Die meisten unterschiedlichen Klänge erleben wir in Pagh-Paans Ta-Ryong IV – vielleicht sogar zu viele, um die Form noch schlüssig ausfallen zu lassen. Kagel besticht durch gezielte Skurrilitäten, der Text für einen obligaten Gesangspart darf frei erfunden werden: Lacher sind vorprogrammiert. Kagel nahm sich selbst nicht allzu ernst, das verleiht ihm Frische und Unverbrauchtheit.

Die Zuneigung zu allen Stücken spiegelt das Spiel von Isao Nakamura wider, voller Inbrunst stürzt er sich auf jedes einzelne Stück dieses Programms. Er versteht, den Klang minutiös zu differenzieren und so lange an ihm zu feilen, bis exakt das Resultat erscheint, was er sich herbeigewünscht hat. Nakamura kann sekundenschnell zwischen Ernst und Witz changieren, seine Begeisterung für beide Welten ist offenkundig. Die Komponisten könnten sich keinen geeigneteren und passionierteren Interpreten für ihre Stücke wünschen, nicht zufällig sind drei der hier aufgenommenen Stücke Nakamura gewidmet.

[Oliver Fraenzke, März 2018]

Kunst der Reduktion

Anders Eliasson: Complete Works for Piano and Harpsichord

Label: NEOS; Katalog-Nr.:NEOS10831 / EAN: 4260063108310

Anders Eliasson war einer der enorm bedeutenden, wenngleich nicht gerade einer der einflussreichsten Komponisten des 20. und 21. Jh. Nun fragt man sich: Wie kann einer bedeutend sein, wenn er nicht einflussreich war? Dabei ist die Musikgeschichte reich an „Fällen“ wie diesem. Egal wohin man sieht: Anton Bruckner, Gustav Mahler, Franz Schubert und viele viele mehr – sie alle wurden zu Lebzeiten eher als musikalische Sonderlinge betrachtet, und ihre musikhistorische Bedeutung wurde erst Jahrzehnte nach ihrem Tod verstanden. Somit waren sie in der Nachschau sehr bedeutend, waren aber zu ihren Lebzeiten wenig einflussreich.

Ebenso, davon bin nicht nur ich überzeugt, wird es Anders Eliasson gehen. Schon jetzt, wenige Jahre nach dem tragischen Tod des schwedischen Komponisten, mehren sich die CD-Einspielungen seiner Werke, mehren sich die Stimmen derer, die Eliasson für eine der großen „Entdeckungen“ in der Musik des letzten Jahrhunderts halten.

Beim Münchner Label NEOS ist nun eine faszinierende CD erschienen, die in Form von Eliassons Klavierwerk einen eigentlich optimalen Einstieg in das Werk des Schweden erlaubt. Eliasson war ein Komponist, der zwar auch für große, ja, gigantische Besetzungen geschrieben hat. Doch seine musikalischen Keimzellen beruhen auf einem System, das im Grunde durch eine Reduktion musikalischer Querbezüge nach festgelegten Regeln eine erstaunliche, im besten Sinne unerhörte harmonische Freiheit gibt, die ganz anders funktioniert als das System der Serialisten und Dodekaphonen aber ebenso modern, eigentlich wesentlich progressiver ist.

Eliasson hat lediglich ein schmales Œuvre für Klavier und Cembalo hinterlassen, das bequem auf ein CD-Album passt. Die Auseinandersetzung mit dieser „Musik im kinetischen Schwebezustand“, wie der Booklettext sehr eindrücklich formuliert, wird jedoch lang anhaltend sein. Traditionelle Formen sucht man in Eliassons Klavierschaffen vergebens. Stattdessen gruppierte der Komponist seine Klavierwerke überwiegend in von ihm so benannte „Disegnos“ („Zeichnungen“). Da kommen vom Titel her erst einmal Erinnerungen an Debussys „Images“ auf. Doch die musikalische Wirkung ist ganz anders. Konnte man Debussys „Images“ einerseits in Anlehnung an die impressionistischen Maler verstehen und hatte der Komponist andererseits unverhohlen programmatische Titel vergeben, betont der Begriff „Disegno“ im Werk Eliassons eher eine Art von Skizzenhaftigkeit. Das wiederum soll nicht bedeuten, dass es sich um musikalische Skizzen, gewissermaßen nicht auskomponierte Werke, handeln würde. Es ist vielmehr ein klanglicher Eindruck. Während man sich Debussys Musik als Ölgemälde vorstellt, ist Eliassons Klavierschaffen eher eine kunstvoll reduzierte Kohlezeichnung auf Büttenpapier.

Andreas Skouras, der Pianist dieser Aufnahme, ist neben seiner Betätigung im Bereich des sogenannten Standardrepertoires ein ausgesprochener Fachmann für Neue Musik und ein begehrter Uraufführungspianist, der schon Werke von u.a. Wuorinen, Bolcom und Eliasson aus der Taufe hob. Auf CD legte er u.a. Einspielungen der Musik von Neutönern wie Isang Yun, Bernd Alois Zimmermann oder Kalevi Aho vor, und bewies dadurch Geschmack.

Vorliegende, in einer leider etwas kühl und vor allem zu dünn klingenden Akustik eingefangene Aufnahme (der Kammermusiksaal des Deutschlandfunks hat auf anderen Aufnahmen schon einmal besser geklungen, muss man leider sagen) ist ein wichtiger Beitrag zur Neuen Musik und eine bedeutende Repertoireerweiterung. Ob Skouras auch immer den richtigen Zugriff zur Musik findet, da bin ich mir hingegen nicht immer sicher. Gerade die zweifellos vorhandenen lyrischen Aspekte in Eliassons Musik und die dynamischen Abstufungen würde zumindest ich mir feiner (darf man sagen: empfundener?) wünschen.

[Grete Catus, Dezember 2017]

Ein Kompendium Neuer Musik

Darmstadt Aural Documents: Box 3, Ensembles (7 CD)
© 2016 NEOS Music GmbH,  1952-2010 Hessischer Rundfunk, Internationales Musikinstitut Darmstadt

NEOS 11230, EAN 4 260063 112300

Komponisten: Mark Barden (*1980), Richard Barrett (*1959), Günther Becker (1924-2007), Pierluigi Billone (*1960), Herbert Brün (1918-2000), John Cage (1912-1992), Julián Carillo (1875-1965), Jean-Claude Eloy (*1938), Robert Erickson (1917-1997), Julio Estrada (*1943), Franco Evangelisti (1926-1980), Johannes Fritsch (1941-2010), Marta Gentilucci (*1973), Erhard Grosskopf (*1934), Wieland Hoban (*1978), Robin Hoffmann (*1970), Maki Ishii (1936-2003), Charles Ives (1874-1954), Hanns Jelinek (1901-1969), Ben Johnston (*1926), Hans-Klaus Jungheinrich (*1938), Arghyris Kounadis (1924-2011), Thomas Lauck (*1943), Hans Ulrich Lehmann (1937-2013), Genoël von Lilienstern (*1979), Liza Lim (*1966), Walter Marchetti (1931-2015), Eduardo Moguillansky (*1977), Enno Poppe (*1969), Henri Pousseur (1929-2009), Stefan Prins (*1979), Horatiu Radulescu (1943-2008), Michael Reudenbach (*1956), Rolf Riehm (*1937), Frederic Rzewski (*1938), Tadeusz Wielecki (*1954), Iannis Xenakis (1992-2001)
Darbietende Künstler: Végh Quartett, LaSalle Quartett, Parrenin Quartett, Kronos Quartett, Arditti Quartett (Roger Heaton, Bassklarinette; Fernando Grillo, Kontrabass), Kairos Quartett, Internationales Kranichsteiner Kammerensemble (Bruno Maderna, Leitung; Pierre Boulez, Leitung; Akemi Karaki, Sopran), The Gregg Smith Singers (Gregg Smith, Leitung), Ensemble Incontri musicali (Bruno Maderna, Leitung), Contemporary Chamber Players, Schola Cantorum Stuttgart (Nicole Rzewski, Sprecherin; Frederic Rzewski, Klavier; Bernhard Kontarsky, Leitung), Ensemble Köln (Robert HP Platz, Leitung), Freiburger Schlagzeugensemble (Bernhard Wulff, Leitung), Orchester zum 13. Ton Nürnberg (Martine Joste, Klavier; Ulf Klausnitzer, Leitung), Teilnehmer der Darmstädter Sommerkurse 1998 (Julio Estrada und Isao Nakamura, Leitung), Teilnehmer der Darmstädter Sommerkurse 2006 (Wieland Hoban, Percussion; Lucas Vis, Leitung), Teilnehmer der Darmstädter Sommerkurse 2008 ( Christian Dierstein, Leitung), Ensemble Courage (Tadeusz Wielecki, Kontrabass; Titus Engel, Leitung), Ensemble Recherche (Christoph Grund, Klavier; Christian Dierstein, große Trommel), Fathom String Trio, Ensemble ascolta, Nadar Ensemble (Daan Janssens, Leitung), Klangforum Wien (Emilio Pomárico, Leitung)

Ich erinnere mich noch gut, als ich 1968 die schwere 6-LP-Box der Deutschen Grammophon Gesellschaft mit der schlichten Diagonal-Aufschrift avantgarde, vorne schwarz auf weiß, hinten weiß auf schwarz,  in Händen hielt. Der eigenartige (und unerklärliche) Löwenzahngeruch des Neuen und der Anblick der leuchtend monochromen LP-Hüllen verband sich mit der Erwartung von Abenteuern, von den 12 versammelten Komponisten kannte ich gerade mal Kagel, Ligeti und Stockhausen dem Namen nach. In den 3 nachfolgenden Jahren kamen dann Vol. 2,3 und 4 heraus. Ja, das waren goldene Zeiten, in denen ein Rainer Werner Fassbinder noch 14-teilige Filme fürs öffentlich rechtliche Fernsehen produzieren durfte … Wenn DGG heute seine Archive öffnet für die x-te Zusammenstellung historischer Aufnahmen mit Boxen zu 30, 50 oder 100 CDs, so setzt sie nur noch auf große Namen wie Karajan, Beethoven oder Mozart, scheut aber bei ihren Schätzen an neuerer Musik jedes Risiko. Einiges findet man noch verstreut in der Serie 20th Century Classics, und das war’s dann. Auf eine Remaster-Ausgabe dieser 4 avantgarde-Boxen, inzwischen Kult und im Internet für dreistellige Euro-Preise gehandelt, wartet man vergebens.

Da kommt Trost vom tapferen kleinen Münchner Label NEOS. In der Reihe „Darmstadt Aural Documents“ gibt es bereits Box 1, „Composers Conducting Their Own Works“, mit 6 CDs, Box 2 ist eine John Cage gewidmete Einzel-CD, und Box 4 mit 6 CDs ist ganz der neueren Klaviermusik vorbehalten. Die hier vorliegende Box 3 besteht aus 7 CDs und befasst sich ausschließlich mit Ensemble-Musik, in der zeitgenössischen Musik vielleicht ohnehin die interessanteste Sparte.

Wenn Ihnen der Name Darmstadt in musikalischem Zusammenhang nichts sagt, dann sind Sie auf jeden Fall ein Neuling im Fach „Zeitgenössische Musik“. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt, 1946 von Wolfgang Steinecke, dem damaligen Kulturdezernenten der Stadt mithilfe der amerikanischen Militärregierung ins Leben gerufen, entwickelte sich schnell zu einem der wichtigsten Foren für junge Komponisten, Musiktheoretiker und Interpreten. Nach den Anfängen mit den berühmten „Seriellen“ wie Boulez, Stockhausen und Nono kamen dann Kagel, Lachenmann, Rihm und viele andere große Namen, die Darmstadt berühmt gemacht haben (oder die durch Darmstadt berühmt wurden wie z. B. Giacinto Scelsi). Und immer schon wurde fleißig polemisiert, sogar von Alex Ross in seinem Buch „The Rest is Noice“, in dem er sonst überaus unterhaltsam und erfolgreich auf die Musik des 20. Jahrhunderts neugierig macht. Alle waren sie dort, auch Cage und Feldman (sehr empfehlenswert seine „Darmstadt Lectures“). Und eines hat Darmstadt mit Rom und der Katholischen Kirche gemeinsam: Nirgends wird so viel gelästert bei gleichzeitig höchster Konzentration von Autorität, oft totgesagt und doch quicklebendig.

Und nun liegt also sowohl für Kenner, als auch für Einsteiger hier ein Kompendium an spannender Musik vor, ein wahres Schatzkästlein, noch dazu sehr hübsch und geschmackvoll wie alle Boxen der NEOS-Reihe als ansprechendes Digipack.

„Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; und jeder geht zufrieden aus dem Haus“. Da soll sich Goethes Schauspieldirektor (Faust I) mal nicht so sicher sein! Man staunt zwar, wie viel Schönes die zeitgenössische Musik bereithält (z.B. Johannes Fritsch oder Horatiu Radulescu), aber natürlich gibt es auch ausgesprochen Sperriges und Hässliches, und wer nicht zugeben will, dass manches dieser Stücke „experimenteller Musik“ nur nervt, der möchte sich vielleicht geschmacklich nur vom gemeinen Volk („des ist koa Mussig“) absetzen. Aber eines bestätigt sich überhaupt nicht (und hat auch nie gestimmt): dass diese Musik akademisch konstruiert und trocken daherkommt. Man sieht auch, dass die als „seriell“ bezeichneten Künstler sich meist selbst nicht an ihre Komponier-Regeln gehalten haben. Und: Es wird nie langweilig. Herrlich zum Beispiel Ben Johnstons „Knocking Piece“ aus der Darmstädter Stadthalle mit den Pfiffen und Rufen („Buhh! Aufhören …“) am Ende!

Es werden in 8 Stunden 37 Werke geboten, die meisten von etwa 20 Minuten Dauer, die älteste Aufführung von 1952, die jüngste von 2010, und viele dieser Mitschnitte des Hessischen Rundfunks sind jetzt schon von historischen Rang (z.B. der oben erwähnte Ben Johnston, oder auch Evangelisti, Xenakis, Cage, Jungheinrich …). Es gibt ja oft relativ wertlose Zusammenstellungen von Minihäppchen, welche die Neugier der Anfänger wecken sollen, sie dabei aber nur nervös machen. Davon kann hier keine Rede sein: Es werden nur ganze Werke präsentiert, und es haben fast alle das Prädikat „World première“, manchmal auch „European première“ oder zumindest „German première“. Nur zwei der hier vertretenen Komponisten (Ives und Carillo) sind nicht im 20. Jahrhundert geboren, und auch der Nachwuchs (z. B. Mark Barden, Jahrgang 1980) ist gut repräsentiert.

Als Schwerpunkt finden wir die klassische Formation Streichquartett. So beginnt CD 1 mit Hanns Jelineks Streichquartett Nr. 2, dargestellt 1962 vom legendären Végh Quartet, eine wahre Trouvaille. Auch das LaSalle Quartet fehlt nicht. Dann kommt das Kronos Quartet, ein immer abwechslungsreicher, für Überraschungen guter, fast schon „populärer“ Türöffner für zeitgenössische Musik seit den 80er Jahren, hier mit der Weltpremiere der Thirty Pieces for String Quartet von John Cage. Das Werk wurde damals eigens für das Kronos Quartet komponiert, und die Aufnahme ist eine absolute Rarität, gab es doch bisher nur eine Einspielung vom Arditti Quartet, die dazu noch vergriffen ist. Übrigens gibt es ein sehr interessantes Videoclip, http://exhibitions.nypl.org/johncage/node/263, auf dem David Harrington, der Primarius von Kronos, der Geigerin Emily Ondracek-Peterson die von ihm empfohlenen Spielweisen für diese Stücke erläutert. CD 2 wird ganz vom  Arditti Quartet (mit dem vorzüglichen Cellisten Rohan de Saram) bestritten. CD 3 ist exklusiv dem Internationalen Kranichsteiner Kammerensemble gewidmet, dies allein ist schon die Anschaffung dieser Box wert. Auch viel Schlagzeug ist geboten, so z.B. Liza Lims „City of Falling Angels“ für 12 Perkussionisten.

Zahlreiche weitere höchst originelle Produktionen warten darauf, entdeckt zu werden. Das, was damals vor fast 50 Jahren für mich die schöne DGG-Cassette war, das könnte heute gut diese NEOS-Box für manchen werden: ein idealer Einstieg in die Moderne Musik.

[Hans von Koch, Februar 2017]

Letzte Dinge…

Horst Lohse (*1943) – Letzte Dinge. Hieronymus Bosch Triptychon
Christoph Maria Moosmann, Orgel; Bamberger Symphoniker; Aldo Brizzi, Dirigent; Robert Hunger-Bühler, Stimme

NEOS 11604
4 260063 116049

Wenn sich ein Komponist 23 Jahre lang mit einem Thema beschäftigt – in diesem Fall angeregt durch das Bild des Malers Hieronymus Bosch (1450-1516) „Die sieben Todsünden“ -, dann kann man gespannt sein, wie sich dieses Bild in ein „Klangbild“ wandelt, oder auch in mehrere, wie im vorliegenden Fall.

In Horst Lohses Werkverzeichnis findet sich neben Pädgogischem auch  Mannigfaches, sein Œuvre ist sehr reichhaltig. Aber die CD mit der Orgel als „rotem Faden“ ist eben auch wegen der langen Zeit des Entstehens etwas Besonderes.

Das Triptychon hat drei verschiedene Ebenen, die auch musikalisch durch drei verschiedene  Kompositionen dargestellt werden: Die erste „Die sieben Todsünden“ ist die früheste und entstand 1989 für Orgel allein. Sie entspricht dem mittleren Rundbild. Die nächste Komposition, für Orgel und Orchester, entstand 1996/97 und  bezieht sich auf die vier kleinen Rundbilder in den Ecken der Gemäldetafel.

Die mittlere Darstellung, in der Jesus selbst abgebildet wird unter dem  Vermerk „Cave, cave Dominus videt“, bildet den Abschluss als Werk für Orgel und Sprecher/Stimme von 2011/12.

Im Booklet gibt es zu den einzelnen „Todsünden“ und ihrer Vertonung Hinweise, die in die Struktur der Stücke leiten. Die ‚Letzten Dinge’ sind ein Dialog zwischen Orgel und Orchester, in welchem es zu spannenden und packenden Klangballungen kommt. Für mich am überzeugendsten gelungen ist der dritte und letzte Teil, der einen Text von Michael Herrschel (geb. 1971) mit einbezieht – er ist im Booklet abgedruckt.

Der Sprecher und Sänger Robert Hunger-Bühler ist für die Realisation dieser Komposition eine ideale Besetzung, auch wenn man zu Beginn die Lautstärke-Regler halsbrecherisch hoch aufdrehen muss, um überhaut etwas zu vernehmen, so pianissississississimo fängt das Ganze an. Umso überraschender und „brüllender“ ist dann der Fortgang, der eben ins Zentrum des Bildes und der Komposition führt.

Horst Lohse kam – wie er mir in einem Telefongespräch mitteilte – über die Malerei und eine Begegnung mit Hans Werner Henze zum Komponieren. Er war eine Zeitlang auch als Grundschullehrer tätig, wovon einige seiner Bühnenwerke zeugen.

Dass ihn der phantastische Realismus der Bilder von Hieronymus Bosch schon früh faszinierte, hatte sicher auch mit dem bildenden Schaffen seines Schwiegervaters Caspar Walther Rauh (1912-1983) zu tun, das ebenfalls dem phantastischen Realismus zugeordnet wird.

Das zweite Stück auf der CD ist eine Koproduktion mit dem BR, die beiden anderen Stücke spielte der Organist Christoph Maria Moosmann an der Orgel des Rottenburger Doms ein.  (Allerdings brauchte es dazu sogar einen zweiten Organisten und „nicht unerheblichen technischen Aufwand“, wie Moosmann im Booklet schreibt, um alle Anforderungen der Partitur erfüllen zu können.)

Die Wandlung eines Gemäldes in ein „Klangbild“ ist jedenfalls ein spannender Prozess, den ich auf vielen Vernissagen selbst schon  – zum Erstaunen der Malerinnen und Maler – improvisatorisch mit Stimme und/oder Instrumenten gestaltet habe.

[Ulrich Hermann; Oktober 2016]

Siebzig Jahre Klaviermusik von den Darmstädter Ferienkursen

NEOS 11630 (7CDs), LC 15673; EAN: 4 260063 116308

Wohl kein Ort der Welt scheint nach 1945 so mit dem Begriff der „Musikalischen Moderne“ verknüpft wie Darmstadt mit seinen berühmt-berüchtigten Ferienkursen. Von den etwa tausend bei den dortigen Begleitkonzerten aufgeführten Klavierwerken hat jetzt das Label NEOS auf sieben CDs eine kluge Auswahl als „Darmstadt Aural Documents – Box 4 · Pianists“ vorgelegt, die dem Hörer gut die mannigfaltigen ästhetischen Positionswechsel der letzten siebzig Jahre demonstriert. Dabei hatte die Klaviermusik, vergleichbar mit dem Streichquartett in früheren Epochen, immer eine Schlüsselfunktion inne. Unter den Aufnahmen etlicher für die Interpretation von neuer Klaviermusik prägender PianistInnen – darunter viele CD-Erstveröffentlichungen – finden sich auch einige echte Schätze, gerade aus den Anfangsjahren. Das komplette Programm der Box findet man hier.

In der Reihe Darmstadt Aural Documents widmet sich die vierte Veröffentlichung bei NEOS (nach Orchesterwerken, John Cage und Ensemblemusik) endlich der Darmstädter Auseinandersetzung mit der Klaviermusik. Die 7-CD-Box enthält 54 Werke von 49 verschiedenen Komponisten mit insgesamt über 8½ Stunden Musik. Im Gegensatz zur großen Anthologie Musik in Deutschland 1950-2000 (RCA), die dem Hörer Stücke oft nur häppchenweise vorsetzt, sind hier zum Glück aus mehreren Teilen bestehende Werke immer vollständig zu hören. Das unerwartet dünne Booklet enthält neben der Trackliste zunächst nur ein Vorwort sowie einen schönen Text von Stefan Fricke, der die historische Position des Klaviers nach dem Zweiten Weltkrieg und deren Veränderung beleuchtet. Nachfolgend versucht Michael Zwenzner zwar, die meisten der vorgestellten Werke innerhalb ihres konkreteren ästhetischen Kontexts zu verorten – tatsächliche Werkbeschreibungen zu den einzelnen Stücken fehlen aber. Dies kann und soll diese Besprechung natürlich nicht nachholen.

Die Verteilung der Musik auf die 7 CDs entspricht so sicher nicht ganz ihrer anteiligen historischen Bedeutung für Darmstadt. CD1 enthält Klavierwerke vor 1950 – hier findet man neben Arnold Schönbergs opp. 19 u. 23 und einigen zu Unrecht vergessenen Raritäten (Wolpe, Sessions, Apostel) z.B. auch die Klaviersonate von Béla Bartók (1926), was zunächst verwundern mag, da diese heute allenfalls gemäßigt modern erscheint. Man muss sich allerdings vor Augen führen, dass die erste Aufgabe der Darmstädter Ferienkurse darin bestand, dem interessierten Publikum und den (jungen) Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst die Musik zugänglich zu machen, die während des Dritten Reichs schlicht verfemt war (Stichwort: Entartete Musik). Auch in der Aufführungsstatistik etwa der Münchner Musica-Viva-Konzerte während der 1950er-Jahren hatte Bartók einen erstaunlich hohen Stellenwert. CD2 ist allerdings etwas unbefriedigend: Auf nur einer CD erscheinen die Werke der 50er und 60er-Jahre unterrepräsentiert, da gerade diese zentrale Bedeutung für die weitere Entwicklung, insbesondere auf Reflexionsebene, in Darmstadt hatten – nicht zuletzt dadurch, dass die Kurse bis 1970 noch jährlich stattfanden (danach im Zweijahreszyklus). Hier bedauert man auch die Entscheidung der Herausgeber, Werke für zwei Klaviere ganz herauszunehmen. Die komplexesten Werke dieser Zeit sind oft gerade für diese Besetzung konzipiert. CDs 3-6 präsentieren jeweils ca. ein gutes Jahrzehnt (1970-2010). Die zweite Hälfte von CD6 und CD7 sind dann Stücken gewidmet, bei denen das Klavier modifiziert ist (andere Stimmung, Präparation, Hinzunahme von Tonbändern oder Live-Elektronik, computergenerierte Klänge etc.), oder aber der Pianist noch andere Aktionen – etwa als Sprecher – ausführen muss bzw. gänzlich fehlt (Player Piano).

Darmstadt stand jahrzehntelang nicht nur für einen wichtigen Aufführungsort Neuer Musik – das war Donaueschingen bereits seit den Zwanzigerjahren – sondern vor allem auch für den Ort kritischer Reflexion unter Komponisten und Musikwissenschaftlern. Bezeichnend ist hier allerdings das fast dogmatische Festhalten an einem bestimmten, sicher auch ideologisch geprägten Fortschrittsbegriff, wie ihn etwa Theodor W. Adorno und Heinz-Klaus Metzger vertraten. Dieser fordert eine rational herstell- und analysierbare Materialstimmigkeit („Materialfortschritt“), die auf der anderen Seite musikalische Begrifflichkeiten wie etwa „Ausdruck“ völlig ignoriert und so auch – besonders deutlich im Fall von Pierre Boulez‘ 3. Klaviersonate – quasi das „Fehlen des Autors“ geradezu heraufbeschwört.

Vielleicht lässt sich diese (Fehl?)entwicklung anhand der ersten beiden CDs für den Hörer gut nachvollziehen. So finden wir hier eine Darbietung von Anton Weberns Variationen op.27 durch den Uraufführungspianisten Peter Stadlen, dem der Komponist 1937 mit auf den Weg gegeben hatte, das hochkonstruktive Werk quasi romantisch und mit Rubato vorzutragen. Erstaunlich angesichts der Tatsache, dass schon die erste Phrase nicht nur ein Palindrom in  zeitlicher Richtung, sondern auch noch in der Vertikalen spiegelsymmetrisch ist. Tatsächlich folgt der Pianist in seiner Wiedergabe von 1948 dieser Aufforderung überzeugend. Und wenn man Stadlens Interpretation von Schönbergs op. 23 (das letzte Stück, der Walzer, ist das erste offizielle Zwölftonwerk Schönbergs) mit der staubtrockenen, rationalen Aufnahme von Schönbergs eigentlich expressionistischen Sechs kleinen Klavierstücken op. 19 unter den Händen von Eduard Steuermann – seinerseits Widmungsträger der Webernschen Variationen – aus dem Jahre 1957 vergleicht, wundert man sich nicht schlecht über den ästhetischen Wandel des Klavierspiels, der da stattgefunden hat. Wenn Weberns hermetische Kunst einer konsequenten Materialbeschränkung von den „Darmstädtern“ (insbesondere Boulez und Stockhausen) quasi zur Prämisse erklärt wurde, so war der Weg zur seriellen Musik unaufhaltsam. Dass diese dann (Ligeti erklärt dies bereits in einem frühen Aufsatz mit unweigerlich auftretender Entropie) irgendwie immer „gleich“ klingt, führte sehr schnell – bereits ab 1955 – zu einer Abkehr von simpler Reihentechnik, aber dafür zu noch komplexeren Ableitungen des Ausgangsmaterials unter dem Gesetz der Zahl – teilweise aber bereits unter Einbeziehung von Zufallsentscheidungen, die man in Darmstadt durch John Cage kennengelernt hatte. Auf CD2 finden sich hintereinander gleich zwei Schlüsselwerke dieser Periode: Karlheinz Stockhausens Klavierstück XI (gespielt vom legendären David Tudor) und Pierre Boulez‘ Troisième Sonate. Letztere ist ein work in progress geblieben; von den fünf geplanten Sätzen –  hier: Formanten – sind nur zwei im Druck erschienen (Trope und Constellation/Miroir). Die übrigen Sätze wurden nie fertig. Die vorliegende Aufnahme ist ein ganz besonderes Tondokument, da sie nicht nur die stupenden Fähigkeiten von Boulez auch als Pianist zeigt. Er spielt hier eine vorläufige (bei den unveröffentlichen Formanten noch sehr rudimentäre) fünfsätzige Fassung. Immerhin erscheint es bei der ganzen Gehirnakrobatik hinter dieser Komposition als menschlich, dass selbst der Komponist es nicht schafft, sauber einen Weg durch das von ihm erschaffene Labyrinth zu finden: Boulez lässt – offensichtlich aus Versehen – etliche Wege in Miroir (das später gedruckte eine Notenblatt misst 3,47m x 59,6 cm!) aus, die er eigentlich obligatorisch spielen müsste. Dem oben erwähnten John Cage ist zwar eine eigene CD in der Reihe der Darmstadt Aural Documents gewidmet; in der Klavierbox fehlen aber leider auch die anderen wichtigen Vertreter der New York School (so Morton Feldman oder Earle Brown), die wichtige Bezugspunkte für Darmstadt geliefert haben.

Bei CD2 empfehle ich dringend, den CD-Player auf jeweils ein Werk zu programmieren und dies eventuell mehrfach anzuhören. Beim ersten Hören ist sonst die Gefahr in der Tat groß, sich schon im nächsten Stück – eines anderen Komponisten! – zu befinden, ohne etwas davon gemerkt zu haben. Ob so Werken wie der 3. Boulez-Sonate (über die es ein halbes Dutzend umfängliche Dissertationen gibt) etwas abzugewinnen ist, sei jedem Hörer selbst überlassen.

Es ist interessant, dass gerade das Klavier mit seinem monochromen Klang über die Jahre so wichtig für die Vertreter der seriellen Schiene geblieben ist, obwohl es auch die Schwächen dieses Komponierens mehr als deutlich zu Tage treten lässt. Vielleicht ist das Klavier aber auch – schon als Möbelstück geradezu das Repräsentationsobjekt des Bürgertums – einfach historische Reibungsfläche par excellence; man denke nur an die geradezu genüsslichen Klavierdestruktionen nicht erst der Fluxus-Bewegung.

In Darmstadt hielt man länger als irgendwo sonst an seriellen Konzepten fest. Wer damit nicht konform ging, wurde oft schlicht hinausgeekelt (etwa Hans Werner Henze). So entstand eben nicht nur ein Ort gegenseitiger künstlerischer Befruchtung, sondern auch zerbrochener Freundschaften und unerledigter Diskurse – später etwa um den Begriff einer musikalischen Postmoderne, die manchem von vornherein als regressiv galt. Als selbst Adorno die aktuelle Entwicklung kritisch hinterfragte (in seiner Schrift Vers une musique informelle, 1961), erntete er überwiegend „zementierte“ Reaktionen.

Trotzdem hinterließen auch die „Abweichler“ in Darmstadt unweigerlich ihre Spuren: Als vielleicht typische Beispiele für die musikalische Postmoderne der 70er- bzw. 80er-Jahre höre man z.B. Wolfgang Rihms Klavierstück Nr. 5 „Tombeau“ (Neo-Expressionismus?) und Wilhelm Killmayers Klavierstück Nr. 7 (unverschämter Weise mit tonalen Zitaten, die einzigen in der Box). Nachdem die Postmoderne-Diskussion Anfang der 1990er urplötzlich abbrach, komponierten etliche Jüngere anscheinend ein wenig unbeeinflusster von „Trends“, gerade bei der Klaviermusik allerdings oft in quasi ironisch gebrochener Weise – und auch der „Komplexismus“ ist bis heute keineswegs aus Darmstadt verschwunden.

Ob manche der in der Box vorgestellten Werke nach 1970 irgendwann – und wenn auch nur aus historischen Gründen – Repertoirestücke werden, wird erst die Zeit entscheiden. Lob verdienen auf jeden Fall die Ausführenden: Sowohl die Beispiele virtuoser Entgrenzungen (Xenakis, Boucourechliev, Ferneyhough, Sciarrino, Rothman…) als auch sich solchem verweigernde Gegenpole (Febel, Tanaka, Lang…) werden hier absolut überzeugend dargeboten – nicht von ungefähr darf ein Großteil der hier tätigen Pianisten als creme de la creme bei der Bewältigung Neuer Musik gelten. Wirklich überragend – auch gerade im Vergleich mit späteren Einspielungen – seien stellvertretend Alois Kontarsky mit Xenakis‘ Evryali und Claude Helffer mit Boucourechlievs Six études d’après Piranèse genannt.

Besonderes Augenmerk wurde bei der Auswahl für die Box auch auf solche Werke gelegt, bei denen das übliche Gespann – Pianist(in) plus wohltemperiert gestimmter Konzertflügel – verworfen wird. Hier finden sich einerseits Stücke, die den normalen Tonvorrat in Richtung Mikrotonalität verändern oder erweitern (Roland Kayns Quanten, Jean-Etienne Maries Trois pièces brêves, Pascal Critons Thymes) – andererseits solche, die den Pianisten völlig ignorieren (Player Piano bzw. Computerrealisationen mit und ohne Live-Elektronik bei Barlow und Zuraj) oder aber zusätzliche Aktionen wie Singen oder Sprechen von ihm abfordern (Aperghis, Baltakas). Stockhausens Luzifers Traum oder Klavierstück XIII (1981) ist ja eigentlich auch eine Opernszene: aus Samstag aus »Licht«.

Man sollte hoffen, dass die Quintessenz des Ganzen nicht so schlimm ist, wie sie Steffen Krebber (*1976) in seinem witzigen faire signe (für Automatenklavier und einen Lautsprecher) von 2014 ironisch zu ziehen scheint. Das Stück beginnt – vom Tonband – mit dem Text: „Es lohnt sich nicht zuzuhören, weil spätere Kunst sicher besser sein wird. Bitte verlassen Sie den Saal!“

Aufnahmetechnisch ist die Box nicht zu beanstanden. Der Digital-Transfer gerade auch vieler älterer, monauraler Aufnahmen (beginnend 1948) ist gut gelungen, die zeitüblichen Störungen wurden weitgehend herausgefiltert – bei ein, zwei Aufnahmen war wohl etwas Jitter nicht zu beheben. Einige der Einspielungen zeigen neben ihrem historischen Wert die jeweiligen Interpreten auf dem absoluten Höhepunkt ihrer Möglichkeiten – zudem hört man gleich drei Komponisten (Boulez, Castiglioni und Lachenmann) in der eher seltenen Rolle als Pianisten mit ihren eigenen Werken. Dass viele der dargebotenen Werke bisher gar nicht in anderer Form auf CD zugänglich waren, spricht alleine schon für eine Kaufempfehlung – allerdings eher nur für hartgesottene Fans moderner Musik. Dies ist alles andere als leichte Kost!

[Martin Blaumeiser, August 2016]

Voll und ganz ein Musiker des 20. Jahrhunderts

Neos 10945; EAN: 4 260063 109454

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Kammerensemble-Werke finden sich auf der Portrait-CD von Silvestre Revueltas, gespielt vom Ensemble KNM Berlin unter Roland Kluttig: Caminando, Ocho por Radio, Planos, Two Little Serious Pieces, Toccata (sin fuga), Tres Sonetos, „No sé por que piensas tú…“, Homanaje a Federico García Lorca und Sensemayá des mexikanischen Komponisten sind hier zu hören. Rezitator  in den Sonetos und Bariton in „No sé por que piensas tú…“ ist Gabriel Urrutia.

Geboren am letzten Tag des 19. Jahrhunderts, war Silvestre Revueltas anscheinend direkt dazu vorbestimmt, zusammen mit dem kurz darauf geborenen Carlos Chávez Ramírez das 20. Jahrhundert in Mexiko musikalisch einzuläuten, und genau dies machte sich der bereits 1940 (vermutlich an einer Alkoholvergiftung) verstorbene Komponist, Violinist und Dirigent zur Lebensaufgabe. Die meisten seiner Werke entstanden erst in den 1930er Jahren, jedoch findet sich hier ein reiches Oeuvre vielseitiger Musik. Eine bunte Auswahl der Jahre 1933 bis 1940 an Ensemblewerken präsentiert vorliegende CD aus dem Hause Neos. Es ist eigentlich unmöglich, die Musik auf einen gemeinsamen Nenner herunterzubrechen, so divergierend geben sich die einzelnen Werke. Manche sind von mexikanischem Lebensgefühl durchzogen und bilden dieses auf prägnante Weise ab (Caminando, Ocho por Radio), andere weisen eine kubistisch-modernistische Struktur voller Dissonanzen auf (Planos), dann gibt es dicht polyphone (First Little Serious Piece) wie auch ganz schlicht gebaute (Second Little Serious Piece) Stücke und ebenso solche, die diese Stile additiv reihen (Toccata [sin fuga]). Alle haben sie eine absolute Präsenz gemeinsam, einen alles durchwehenden wachen Geist und aufrüttelnde rhythmische Prägnanz. Trotz aller Verschiedenheiten trägt aber doch alles die unverkennbare Handschrift Revueltas‘. Ein typisches Merkmal wird besonders deutlich in Homenaje a Federico García Lorca bemerkbar, nämlich das stetige Insistieren auf dem einmal gefundenen musikalischen Gedanken, der sich als Melodiefetzen oder Bassmodell überall durchzieht und in verschiedenstem Licht aus immer neuen Perspektiven beleuchtet wird. Amüsant erweist sich besonders der dritte Satz, Son (Ton), der immer wieder ein Ende vortäuscht und dann doch weitergeht. Modernes Fortschrittsdenken und nationale Identifikation sind gleichermaßen Elemente des Stils von Silvestre Revueltas. Eine große Affinität wies er zu Lyrik auf, die er immer wieder als Anregung zu Vertonungen nutzte, wie hier durch die rezitierten Tres Sonetos und „No sé por que piensas tú…“ vertreten.

Das Ensemble KNM Berlin unter Roland Kluttig traf eine interessante und vielgestalte Auswahl an Werken des Mexikaners, die sein Schaffensspektrum recht repräsentativ abzubilden vermag. Das Ensemble spielt mit großer Anteilnahme und sichtlicher Freude an der Musik, alles ist rhythmisch exakt und die Musiker vermögen dank der trennscharfen Instrumentation einen passend heterogenen Klang zu erzeugen, der auch in den polyphonsten Passagen durchhörbar bleibt. Der Klang zeichnet sich durch eine Schärfe aus, die stets etwas Bestimmtes und Selbstbewusstes ausstrahlt. Teils fehlt etwas der durchlaufende Bogen durch die Werke, wobei hier meines Erachtens fraglich ist, inwieweit dieser überhaupt realisierbar ist bei solch brüchigen Kontrasten wie in der Musik Silvestre Revueltas‘. Wenig einzupassen vermag sich die Stimme von Gabriel Urrutia, die bei den Tres Sonetos zu sehr im „Sing-Sang“ befindlich ist (vor allem im ersten Soneto, „Vuelvo a ti, soledad, agua vacía“), zu dominant im Vordergrund steht und in „No sé por que piensas tú…“ einen allzu prätentiös-opernhaften Ton anstimmt, anstatt sich dem begleitenden Ensemble und auch dem Lied an sich angemessen etwas mehr zurückzuhalten. Hingegen kann die instrumentale Leistung des KNM Berlin wesentlich mehr hervorstechen und der leider nach wie vor viel zu unbekannten Musik dieses großartigen Komponisten durchaus gerecht werden.

[Oliver Fraenzke, Juni 2016]