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Claudio Santoros Orchesterwerke der 1960er bergen Erstaunliches

Naxos 8.574410; EAN: 7 47313 44107 5

In der dritten Folge der entstehenden Gesamtaufnahme der Symphonien Claudio Santoros (1919–1989) widmet sich das Goiás Philharmonic Orchestra unter Neil Thomson endlich der Phase des brasilianischen Komponisten während der 1960er Jahre, wo er sich mit der europäischen Avantgarde auseinandersetzt. Neben der 8. Symphonie hören wir noch die Três Abstrações, die Interações Assintóticas sowie das während der Errichtung der Berliner Mauer in Ost-Berlin entstandene Cellokonzert mit der Solistin Marina Martins. Das als Zugabe konzipierte One Minute Play schließlich dauert tatsächlich nicht länger als der Titel nahelegt.

Das Orquestra Filarmônica de Goiás unter seinem britischen Chef Neil Thomson hatte sich in der ersten Folge der Symphonik Claudio Santoros (dort findet der Leser auch nähere Infos zum Werdegang des Komponisten) mit seiner quasi nationalistischen Schaffensphase befasst, auf der zweiten CD dann Beispiele des Spätwerks vorgestellt. Nun folgen auf der dritten Veröffentlichung konsequenterweise Stücke aus den 1960er Jahren, wo Santoro – konfrontiert mit den verschiedenen Strömungen der damaligen europäischen Avantgarde – wieder höchst eigenwillig und mit beeindruckenden Ergebnissen seinen persönlichen Weg findet.

Den Sommer 1961 verbrachte Santoro auf Einladung des Komponistenverbandes der DDR in Ost-Berlin, wo er ganz unmittelbar die unruhigen Zeiten während des Mauerbaus erlebte. Diese Eindrücke gingen offenkundig ins Cellokonzert mit ein, das im August begonnen und im Oktober vollendet wurde. Das gut halbstündige Werk ist das symphonischste aller Konzerte Santoros und verlangt von Solisten, die sich daran wagen, technisch wie emotional alles ab. Die brasilianische Cellistin Marina Martins kann hier völlig überzeugen: engagiert und spannungsvoll, ohne je zu überdrehen oder auch nur eine Sekunde zu langweilen. Wenn das Cello im gewaltigen, insgesamt jedoch verhaltenen Kopfsatz erst nach gut 5½ Minuten eintritt, gilt es, sofort die ungeheure Entwicklung der langen Solokadenz nachzuvollziehen. Danach wird es deutlich dramatischer, später im langsamen 2. Satz noch desolater. Erst im Finale bewegt sich das Stück in zunächst gewohnt konzertanten Gefilden, endet jedoch pessimistisch: tief berührend, vielleicht nicht ganz so genial wie Dutilleux‘ Tout un monde lointain…, zumindest auf ähnlich hohem Niveau. Warum gab’s da bisher keine Aufnahme?

Die 8. Symphonie von 1963 hat mit ihrer inhärenten Zwölftönigkeit – nicht durch äußerlich vorgegebene Reihen – einen Sonderstatus innerhalb Santoros Symphonik, auch weil erst wieder knapp 20 Jahre später die nächsten Gattungsbeiträge folgen. Das nur 15-minütige Stück erweist sich als hochexpressionistisch und integriert im Mittelsatz überraschend eine Mezzosopran-Vokalise – hier von Denise de Freitas ausdrucksvoll dargeboten. Nachdem die Militärjunta den Komponisten 1966 quasi aus der Heimat vertrieben hatte, führte ihn ein DAAD-Stipendium wieder nach Deutschland, diesmal in den Westen. Dort setzte er sich intensiv mit den aktuellen Avantgarde-Strömungen auseinander, nachdem seine frühe Begegnung mit der Schönbergschen Zwölftontechnik über Hans-Joachim Koellreutter eher in Ablehnung gemündet war. Die Três Abstrações (nur für Streicher, 1966) und die Interações Assintóticas (Paris, 1969) sind so lediglich unterschwellig vom Serialismus geprägt: Erstere experimentieren mehr mit Clustern, Glissandi und unkonventionellen Spieltechniken, letztere – erst 1976 in Bonn uraufgeführt – mit Vierteltönigkeit und Aleatorik – für den Rezensenten doch die interessantesten Entdeckungen. Manches mag hier an Penderecki oder Ligeti erinnern, ist aber durchaus originell. One Minute Play (1967), von vornherein als kurzes Zugabenstück gedacht, ist ein witziges moto perpetuo mit achtstimmigem Fugato.

Nun schon erwartungsgemäß gelingt dem – ich kann es nicht oft genug wiederholen – Weltklasse-Orchester aus der Zwei-Millionenstadt Goiânia wieder eine positive Überraschung nach der anderen. Neil Thomson weiß mit diesen – bis auf Interações Assintóticas – Ersteinspielungen völlig zu begeistern, was freilich nicht zuletzt am höchst abwechslungsreichen Repertoire liegt, dessen spezifische Anforderungen der Dirigent punktgenau umzusetzen versteht. Das musikalische und aufnahmetechnische Niveau sowie die immer höchst informativen Booklets der Naxos-Serie The Music of Brazil führen auch diesmal zu einer ausdrücklichen Empfehlung.

[Martin Blaumeiser, März 2023]

Zwei faszinierende Schlüsselwerke von Almeida Prado

Naxos 8.574411; EAN: 7 47313 44117 4

Begeisterte der Brite Neil Thomson in der engagierten Naxos-Serie „The Music of Brazil“ bereits auf 3 CDs mit Symphonik Claudio Santoros, widmet er sich auf der vorliegenden Veröffentlichung – diesmal mit dem Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo samt Chor – zwei Schlüsselwerken von José Antônio de Almeida Prado: Den Pequenos funerais cantantes ao poeta Carlos Maria de Araújo von 1969 – mit den Solisten Clarissa Cabral und Sabah Teixeira – sowie der Sinfonia dos Orixás von 1985.

Das mit bald 400 Werken – darunter viel Klavier- und Kammermusik – äußerst umfangreiche Schaffen des Brasilianers José Antônio de Almeida Prado (1943–2010) hat es noch kaum nach Europa geschafft, obwohl der Komponist nach den Lehrjahren bei seinem Landsmann Camargo Guarnieri in den 1960ern an den Darmstädter Ferienkursen teilnahm – bei György Ligeti und Lukas Foss – und später noch bei Nadia Boulanger und Olivier Messiaen studierte. Bei dieser ihn prägenden stilistischen Vielfalt verwundert es nicht, dass Almeida Prados eigene Musik oft zunächst heterogen erscheint, aber bei allem Abwechslungsreichtum teils divergierender Elemente formal – gewissermaßen unter der Motorhaube versteckt – einer sehr persönlichen Strenge folgt.

Die hier vorgestellten Stücke darf man getrost als Schlüsselwerke – zumindest innerhalb der Gattungen von Chor- und Orchestermusik – bezeichnen. Die Pequenos funerais cantantes ao poeta Carlos Maria de Araújo erhielten 1969 den 1. Preis beim Guanabra Musikfestival, machten Almeida Prado über Brasilien hinaus bekannt. Die Sinfonia dos Orixás (1985) ist ein Hauptwerk seiner letzten Schaffensperiode. Die Pequenos funerais folgen Hilda Hilsts gleichnamigem Gedicht auf den Tod des aus Portugal stammenden, später in Brasilien lebenden Dichters Carlos Maria de Araújo (1921–1961), der bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam, worauf sich der kurze, rein instrumentale Anfang (Corpo de fogo)bezieht. Die sechs zentralen Segmente (Corpo de terra I–VI) vertonen entsprechend weitere Strophen aus Hilsts Dichtung: Der Text wird emotional aufwühlend von Chören und später einem Bassbariton- und einem Mezzosopran-Solo gestaltet. Die Instrumentation ist jeweils völlig individuell – wie die unterschiedlichen, beleuchteten Facetten des Verstorbenen; nie gibt es ein Tutti. Im wiederum sehr kurzen Schlussteil verebbt die Musik bis zur Stille.

Das melodische und rhythmische Material der 50-minütigen, instrumentalen Sinfonia dos Orixás sammelte teilweise Almeida Prados Ehefrau im Umfeld der Umbanda-Religion. Der aus 15 Teilen bestehende Hauptteil (Manifestação dos orixás) wird wiederum von zwei knappen „Ritualen“ umrahmt. Enorm farbige, rein rhythmische Abschnitte – von quasi Ostinati bis zu komplexen Entwicklungen – wechseln mit ausdrucksstarken, von Soloinstrumenten getragenen Teilen ab. Auch wenn das Ganze zwar nie langweilig, dafür jedoch mehr wie eine Suite als eine Symphonie erscheint, rechtfertigt die thematisch-motivische Arbeit – mit jeweils den weiblichen bzw. männlichen Geistern (Orishas) zugeordneten Hauptthemen – den Titel. Freilich erschließt sich zumindest beim ersten Hören nicht wirklich die persönliche Haltung des eigentlich streng-katholischen Almeida Prado zu dieser synkretistischen Götterwelt.

Neil Thomson leitet diesmal nicht sein Orchester aus Goiás, sondern das große OSESP (São Paulo) samt Chor. Gerade die perkussiven Abschnitte erreichen eine höchst beeindruckende Durchschlagskraft, aber ebenso überzeugend agieren die hervorragenden Instrumentalsolisten dieses Spitzenorchesters in den lyrisch-melodischen Momenten. Der Chor setzt die höchstdifferenzierten Anforderungen der Pequenos funerais kongenial um; deren momentaner Chorleiter (William Coelho) wird leider nur am Rande im sonst informativen Booklet erwähnt. Die beiden Gesangssolisten (Clarissa Cabral und Sabah Teixeira) machen ihre Sache zumindest ordentlich. Auch die Aufnahmetechnik fängt das sehr dynamische Geschehen gekonnt ein. Mal wieder ist der Hörer fasziniert von der schillernden, exotischen Klangwelt einer letztlich unverkennbar eigenständigen Komponistenpersönlichkeit: Man darf bei dieser inspirierenden CD-Reihe wohl weiter auf positive Überraschungen gespannt sein.

[Martin Blaumeiser, Januar 2024]

Vier hochinteressante Spätwerke Claudio Santoros

Naxos 8.574406; EAN: 7 47313 44067 2

Auch die zweite Folge der geplanten Naxos-Gesamtaufnahme sämtlicher 14 Symphonien des Brasilianers Claudio Santoro (1919–1989) erweist sich als hörenswerte Fundgrube. Neben den Symphonien Nr. 11 & 12 spielt das Goiás Philharmonic Orchestra unter seinem britischen Chef Neil Thomson noch das Concerto Grosso für Streichquartett & Orchester sowie Três Fragmentos sobre BACH.

Das Orquestra Filarmônica de Goiás hatte bereits mit der ersten Folge sämtlicher Symphonien Claudio Santoros absolut begeistert – siehe unsere Rezension hier, wo man ebenfalls grundlegende Infos zum Komponisten nachlesen kann. Nun legt der brasilianische Klangkörper unter seinem britischen Chef Neil Thomson noch eins drauf: Dergestalt, dass sowohl in der Symphonie Nr. 12 ‚Sinfonia concertante‘ als auch dem Concerto Grosso insgesamt 11 Mitglieder des Orchesters zudem anspruchsvolle Soloparts meistern.

Die vier hier vorgestellten Orchesterwerke stammen alle aus Santoros letzter Schaffensphase nach seiner Rückkehr 1978 aus Deutschland, wo er ein knappes Jahrzehnt an der Musikhochschule Heidelberg-Mannheim eine Dirigierprofessur bekleidet hatte. Nach einer Zeit ausgiebigen Experimentierens mit Avantgarde-Elementen wie Elektronik, Aleatorik, teilweise graphischer Notation usw. zeigt sich nun eine gewisse Konsolidierung seines Stils, wobei er die vorherigen Erfahrungen jedoch keineswegs über den Haufen wirft, sondern auf sehr persönliche Weise in traditionellere Formen integriert. So hören wir im Concerto Grosso (1980) für Streichquartett und Streichorchester neben strikt motivischer Arbeit auch Clusterbildungen sowie aleatorische Momente. Ein intensives Werk für die ja nach wie vor seltene Besetzung; der Verzicht auf Bläserfarben bewirkt zusätzliche Dichte.

Die nur knapp 17-minütige 11. Symphonie (1984) charakterisiert der Verfasser des informativen Booklettexts, Gustavo de Sá, als überwiegend tragisch. Gerade die herausgestellten Soli (Oboe bzw. Violine) im Kopfsatz evozieren von Beginn eine desolate Atmosphäre. Das höchst virtuose Scherzo – es gibt keinen eigenen, langsamen Satz – dient lediglich zur Vorbereitung des sich aus bisherigem Material gewaltig zusammenballenden Konflikts des Finales, der sich schließlich geradezu kataklysmisch entlädt – emotional überwältigend. Anscheinend darf man den Hinweis am Schluss der Partitur („Brahms Haus, 12-6-84, Baden-Baden“) als deutlichen Fingerzeig auf gewisse Allusionen zu Brahms 1. Symphonie durchaus ernst nehmen.

Entstanden zum 300. Geburtstag des Barockmeisters, benutzen die Três Fragmentos sobre BACH für Streichorchester das Namensmotiv auf vielfältige Weise durchaus im Sinne serieller Techniken, greifen dabei jedoch ebenso auf barockes Handwerk (Fuge) zurück. Wieder dominiert eine düstere Stimmung, der die formal hochorganisierte Ordnung quasi wie ein tröstliches Regulativ entgegenwirkt. Für ein Jugendorchester – wofür die Stücke eigentlich konzipiert wurden – wären Santoros BACH-Fragmente in der Tat eine gewaltige Nummer; den brasilianischen Profi-Musikern gelingt selbstverständlich eine absolut souveräne Darbietung.

Die 12. Sinfonie (1987, 1988/89 nochmals revidiert) hat ihren Ursprung in 15 Solostücken für einen Jugendwettbewerb 1983 in Rio de Janeiro. Santoro wollte diese zunächst als „Fantasia Concertante“ orchestrieren und zusammenfassen, nutzte sie aber schließlich als Basis für die Symphonie, die tatsächlich eine echte „Concertante“ ist. Kontrastierend, sich öfters zum Duo ergänzend, gibt dieses Stück den neun Solisten – Flöte, Oboe, Klarinette, Horn, Trompete, Posaune, Violine, Bratsche und Violoncello – dann reichlich Gelegenheit zum befreiten Musizieren, ist endlich von freundlicher Farbigkeit, immenser klanglicher Finesse, ohne den hohen Anspruch an die symphonische Gattung preiszugeben. Nur zu schade, dass der Komponist das inspirierte Werk nicht mehr hören durfte: Die Uraufführung fand erst 2019 in São Paulo statt.

Neil Thomson legt mit seinem wirklich fantastischen Orchester erneut eine Glanzleistung nach der anderen hin: Abgesehen von der großartigen Spielfreude der erwähnten Solisten, gelingt es allen beteiligten Musikern, die Gratwanderung zwischen Santoros formaler Strenge und einer stellenweise überbordenden Emotionalität feinsinnig nachzuzeichnen und allen Parametern guten orchestralen Miteinanders völlig gerecht zu werden. Offenkundig ist man sich der kulturellen Bedeutung dieser Naxos-Reihe für die weltweite Reputation der bislang unterbelichteten klassischen Musik Brasiliens klar bewusst – und drei der vier präsentierten Werke sind hier sogar wieder Erstaufnahmen. Großes Lob gebührt darüber hinaus ebenso der stimmigen Tontechnik. Dieses Repertoire hat eindeutig die ganz große Bühne verdient! Man darf sich schon auf Santoros 8. Symphonie freuen, die im Juli erscheinen soll.

[Martin Blaumeiser, Juni 2023]

Zwei zentrale Symphonien Claudio Santoros in mustergültiger Deutung

Naxos 8.574402; EAN: 7 47313 44027 6

Es sind nicht nur die größtenteils einem breiteren Publikum bisher verborgen gebliebenen Schätze, die bei der Naxos Serie „The Music of Brazil“ seit den ersten Veröffentlichungen Anfang 2019 begeistern, sondern vielmehr die musikalische und technische Qualität der Aufnahmen. Mit zwei zentralen Symphonien (Nr. 5 & 7) von Claudio Santoro (1919–1989) und dem Goiás Philharmonic Orchestra unter seinem britischen Chef Neil Thomson gelingt dem Label erneut eine exemplarische Einspielung bedeutenden Repertoires.

Die Lebensgeschichte des in Manaus gebürtigen Komponisten Claudio Santoro – noch mehr seines umfangreichen Werkes – erscheint zunächst ein wenig verschlungen: Früh als Geigentalent erkannt, unterrichtete Santoro bereits mit 18 Jahren am Konservatorium in Rio, wo er auch zu komponieren begann. 1940 traf er auf den aus Deutschland emigrierten Hans-Joachim Koellreutter, der versuchte, in Brasilien die Zwölftontechnik Schönbergs zu etablieren. Ein Stipendium der Guggenheim-Stiftung konnte er nicht wahrnehmen, da die USA ihm ein Visum verweigerten, worauf er 1947 auf Empfehlung Charles Münchs zu Nadia Boulanger nach Paris ging, dort zusätzlich von Eugène Bigot zum Dirigenten ausgebildet wurde. Von da an sammelte er national wie international zahlreiche Preise ein. Hatte er sich, nicht erst durch Kontakte und Reisen nach Moskau und Prag, nun stark den ästhetischen Forderungen des Sozialistischen Realismus zugewandt und damit der Dodekaphonie vorerst eine Absage erteilt, durchlebte er als Komponist in den 1950ern eine mehr oder weniger nationalistische Phase, die sich dennoch stark von denen seiner Landsmänner Villa-Lobos (freilich eine Generation zuvor) oder Camargo Guarnieri unterscheidet. In Santoros Musik geht zwar eine intensive Erforschung der heimatlichen Folklore mit ein, kommt aber lediglich als reines Material für abstrakte Formen zum Einsatz.

Bis zum Militärputsch 1964 war Santoro in einigen führenden musikalischen Positionen Brasiliens tätig – vor allem als Dirigent und Hochschullehrer. Parallel dazu hatte er seit 1960 beide deutsche Staaten besucht, etwa um elektroakustische Studien zu betreiben. 1965 zur Persona non grata erklärt, verließ er seine Heimat, arbeitete dann vor allem in Frankreich und Deutschland: u. a. Professuren für Dirigieren und Komposition in Mannheim 1971–1978. Nach seiner Rückkehr gab es neben weiteren Ehrungen auch erhebliche Missverständnisse innerhalb des dortigen Kulturbetriebes. Ab Mitte der 1960er Jahre nutzte Santoro neben Elektronik, Aleatorik, teilweise graphischer Notation und anderen Avantgarde-Elementen auch wieder die Zwölftontechnik, allerdings nicht durchgehend.

Von seinen insgesamt 14 Symphonien kann man die vorliegenden Nr. 5 (1955) und Nr. 7 („Brasília“, 1959/60) getrost als die zentralen Orchesterwerke der fruchtbaren nationalistischen Phase des Komponisten ansehen. Die Fünfte – 1956 in Rio uraufgeführt, jedoch zunächst in Moskau verlegt – zeigt, wie weit Santoro hier vom Folklorismus der meisten südamerikanischen Zeitgenossen entfernt ist. Die Verwendung sowohl lydisch-mixolydischer Modi wie typisch brasilianischen Schlagwerks (etwa im Scherzo, II. Satz) versucht keinesfalls, Volksmusik nachzuahmen: Alles dient letztlich der Errichtung eines symphonischen Gebäudes, wie es eher den Erwartungen eines europäischen Publikums entsprechen dürfte. Im Lento benutzt er Material des Xangô ausnahmsweise einmal direkt. Weder geht es hier um allzu prächtige Farbigkeit – wie oft bei Villa-Lobos – noch um ausufernde Expressivität. Santoro überzeugt nicht nur handwerklich, wie sich gerade im grandiosen Kontrapunkt zeigt, sondern durch ebenso klug wie organisch angesteuerte emotionale wie klangliche Höhepunkte. Die Siebte verdankt ihren Titel einem Wettbewerb zur Einweihung der Planhauptstadt Brasília im Jahre 1960, wurde aber erst 1964 in Berlin vom Komponisten uraufgeführt. Noch reichere Instrumentation und die konsequente Verwendung von Viertonmotiven in drei der vier Sätze strahlen Erhabenheit und Optimismus aus, ohne dass die Symphonie als solche programmatisch sein möchte. Bei so viel Meisterschaft erscheint der Vorwurf einiger Kritiker, Santoro sei zu akademisch, nahezu irrelevant. Für Neulinge klingt das alles freilich näher dran an beispielsweise Aaron Copland – der auch durch die Schule von Mademoiselle Boulanger ging – als an seinen brasilianischen Kollegen.

Das Orquestra Filarmônica de Goiás beweist einmal mehr die Professionalität brasilianischer Kulturorchester jenseits von Rio de Janeiro oder São Paulo. 1980 gegründet, residiert der Klangkörper seit 2006 im hochmodernen Centro Cultural Oscar Niemeyer der Millionenstadt Goiânia. Wer keinen Beton mag, sollte sich das Drohnenvideo vielleicht lieber nicht ansehen. Niemeyer und Santoro waren übrigens persönlich eng befreundet. Der Chefdirigent Neil Thomson (Jahrgang 1966) stammt aus London, war eine Zeit lang jüngster Dirigierprofessor am dortigen Royal College of Music, und leitet das Orchester in Goiás seit 2014. Dessen Klangkultur ist absolut beeindruckend, und Thomson hat hier eine Offenheit für Neue Musik entwickelt, die in Brasilien bisher einmalig sein dürfte – mit zahlreichen Erstaufführungen europäischer Moderne. Über sämtliche Orchestergruppen hinweg spürt man eine dichte Kommunikation, Homogenität und wachen Sinn für musikalische Details, die den Rezensenten – spätestens nach der ersten CD der Naxos-Reihe The Music of Brazil mit dem Orquestra Filarmonica de Minas Gerais – nun keineswegs mehr überraschen. Und wieder kann die Aufnahmetechnik mithalten – zumindest mit der aktuell einzigen Konkurrenz-CD mit Santoro-Symphonien (Nr. 4 & 9 unter John Neschling) auf BIS, immerhin bereits 20 Jahre her. Gegenüber den alten Rundfunk-Aufnahmen der Nummern 5 & 7 mit dem Komponisten selbst, die man auf YouTube findet, natürlich ein Quantensprung. Dass Thomson manche Grobheiten Santoros erheblich glättet, mag sich wohl allein durch den enormen spieltechnischen Fortschritt seines Orchesters erklären, das seit Corona wohl kurz vor dem Aus stand, nun aber offenkundig überlebt hat. Auf jeden Fall weckt diese Naxos-Entdeckung das Interesse auf acht noch nicht eingespielte Gattungsbeiträge, die hoffentlich irgendwann folgen werden, und sollte in keiner Symphonien-Sammlung fehlen.

[Martin Blaumeiser, August 2022]