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Hello Again!

László Lajtha
Orchestral Works 1
(Suite pour orchestre, Op. 19; In memoriam, Op. 35; Symphonie Nr. 1, Op. 24)
Pécs Symphony Orchestra
Nicolás Pasquet
Naxos 8.573643; EAN: 747313364374

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Bei Naxos erscheinen gerade Aufnahmen der Orchestermusik des Ungarn László Lajtha in Wiederveröffentlichungen einer Edition, die Mitte der 1990er-Jahre bei Marco Polo erst-erschienen war. Klangqualität und Interpretation sind auch für heutige Begriffe noch exzellent. Die Musik Lajthas stellt einen interessanten Sonderfall der osteuropäischen Musik des 20. Jahrhunderts dar.

Wie schon in früheren Jahren zu beobachten, kommen auch 2016 wieder einige Aufnahmen via Naxos auf den Markt, die in früheren Jahren beim Label Marco Polo erst-erschienen waren. Dazu zählen u.a. einige Spohr-Sinfonien, aber (interessanter vielleicht, weil viele Jahre vergriffen und noch immer außerhalb von Naxos/Marco Polo weitgehend unbeackertes Terrain) Orchesterwerke des Ungarn László Lajtha.

Da kann man mal wieder sehen, wie die Zeiten sich ändern: Als diese Aufnahmen 1996 zum ersten Mal beim Marco Polo-Label erschienen, kannten nur wenige Eingeweihte den Namen des Dirigenten Nicolás Pasquet. Heute hingegen – nach verschiedenen erfolgreich verbrachten und viel beachteten Chefdirigenten-Posten sowie einer Professorenstelle in Weimar – ist Pasquet zumindest im Ostteil Deutschlands eine durchaus prominente Figur. Heute ist allerdings kaum noch bekannt, dass er einst auch das Sinfonieorchester der südungarischen Stadt Pécs leitete (heute als Pannon Philharmonic Orchestra firmierend). Und was dieses Orchester damals für ein verblüffend exzellenter Klangkörper war, das zeigen diese spannenden Aufnahmen der Musik László Lajthas.

Lajtha ist ein Komponist gewesen, dessen Stil man unkonventionell nennen kann. Seine Lebensgeschichte verrät viel über die Musik, die wir hier hören können. Einerseits gehörte Lajtha zur Gruppe der Volksliedsammler um Kodály und Bartók, die die ungarische Folklore als Inspirationsquelle für ihre Kompositionen nutzten, andererseits kam Lajtha schon früh in Kontakt mit dem französischen Impressionismus und dem Expressionismus ebenso.

Zu Lebzeiten war er (wohl auch wegen politischer Belange) kaum als Komponist geläufig, sondern eher als Gelehrter, Professor, zeitweise auch als Rundfunkredakteur. Lajthas neun Symphonien sind aber ein bis zum heutigen Tage seltenes Beispiel für einen produktiven ungarischen Sinfoniker. Ungarn ist ja ein Land, das spätestens seit Liszts Proklamierung des Konzepts der Symphonischen Dichtung (vielleicht verständlicherweise) nur sehr wenige Symphonien im eigentlichen Sinne des Wortes und der Form hervorgebracht hat.

Lajtha ist, das zeigte die damalige Marco Polo-Reihe ganz deutlich, ein spannender, ein hörenswerter Komponist. Man kann ihn sicher nicht als einen der großen Meister einstufen, aber als einen wirklich hörenswerten, guten Komponisten. Und gerade seine Symphonien verraten neben einer unverkennbaren eigenen Tonsprache auch den einen oder anderen Blick in andere Länder des damaligen „Ostblocks“, denn es gibt zumindest vom Höreindruck her manche Parallelen zum sinfonischen Werk von z.B. Prokofjew, Martinů oder Myaskovsky. Erinnerungen kommen zudem an andere ungarische Musik auf: So blitzt in dem auf diesem Album eingespielten Opus 19 der Stil Kodálys auf oder auch der Weiners.

Im Opus 35 und in der ersten Sinfonie Op. 24 ist der Zugriff moderner, kantiger, mit einem spürbaren Willen zur Expression. Die Symphonie Nr. 1 erscheint dann auch in mancher Hinsicht „gewollt“ (aber auch gekonnt, wie ich hinzufügen möchte), wie überhaupt Lajthas Musik nicht den Eindruck eines gelassen, entspannt Komponierenden vermittelt, sondern stets (auch in ruhigeren, lyrischeren am französischen Impressionismus orientierten) Stücken oder Werkteilen eine gewisse Unruhe und innere Zerrissenheit in sich trägt.

Ist dies vielleicht auch mit ein Grund dafür, warum Lajthas Orchestermusik in der gesamten Tonträgergeschichte bislang nur durch das einstige ungarische Staatslabel Hungaroton und durch die Marco Polo-Edition, die hier bei Naxos nach Jahren wiedererscheint, dokumentiert ist? Man kann nur vermuten. Das Hören dieser Musik lohnt sich jedenfalls, und in der auch für heutige Maßstäbe noch exzellenten Klangqualität und Darbietung dieser Aufnahmen Nicolás Pasquets aus Pécs erst Recht! Schön, dass diese Raritäten nach Jahren endlich wieder erhältlich sind.

[Grete Catus, August 2016]

Swinging Cello

SWR Music, Vertrieb: Naxos, SWR19002CD; EAN: 7 47313 90028 2

Cellowerke des 1937 geborenen Nikolai Kapustin werden dargeboten von Christine Rauh. Ihre Mitstreiter sind der Altsaxophonist Peter Lehel, der Pianist Benyamin Nuss, die Schlagzeugerin Ni Fan am Vibraphon sowie die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Leitung von Nicholas Collon.

Kann man diese Musik in den Bereich des Jazz einordnen, oder gehört sie doch eher in die klassische Sparte, ist sie gar beides zugleich oder keines davon? Das Œuvre des ukrainischen Komponisten und Pianisten Nikolai Kapustin wirft immer wieder diese Fragen auf. Selbst sah sich Kapustin nie als einen Jazzpianisten, doch sagte er zugleich, er müsse dies sein, alleine wegen des Komponierens. Meist sind verschiedene der unzähligen Klavierkompositionen Kapustins zu hören, nicht bekannt hingegen sind die Werke für andere Instrumente. Dem entgegenwirkend spielte nun Christine Rauh Werke für das Violoncello ein.

Die Cellistin trumpft auf mit einer unbändigen Leichtigkeit und Spielfreude auf, die fröhlich springend beinahe an eine Operettensängerin erinnert, die mit keckem non legato ihren Ambitus austestet und dabei jeden Ton als singuläres Ereignis genießt. Auch gelingt Rauh eine selten klare und reine Tongebung auch in den hohen Lagen. Das Cantabile beherrscht die Solistin ebenso in überzeugend natürlicher und feingliedriger Weise, überrascht dabei mit recht wenig und dafür flexibel den Gegebenheiten angepasstem Vibrato, wodurch sie einem Großteil ihrer Kollegen um Längen voraus ist, bei welchen ein mechanisches Vibrato in unverhältnismäßig großem Ambitus der Regelfall ist. Allgemein ist Christine Rauh ein unverkennbarer Feinsinn zuzuschreiben, mit wachem und gewandtem Geist den musikalischen Charakter zu erfassen und unmittelbar mit dem Klang ihres Cellos darauf zu reagieren.

Die drei Mitstreiter Rauhs sind ebenso durchgehend auf hohem musikalischen Niveau und zeigen großes Verständnis für die Musik Kapustins. Peter Lehel lässt wahrlich den Spirit des Swing auferstehen im Duet for Cello and Alto Saxophone Op. 99, mit rein sanglichem und rundem Klang spielt er absolut auf Rauh abgestimmt, fühlt innerlich jeden Ton und kostet ihn voll aus. In der Sonata for Cello and Piano No. 2 Op. 84 sowie im Nearly Waltz Op. 98, der Elegy Op. 96 und der Burlesque Op. 97 ist Benyamin Nuss zu hören (übrigens Neffe von Hubert Nuss, dem gefragten Jazzpianisten). Er hält sich hauptsächlich in den sanft zurückhaltenden Gefilden auf, die er eher flächig auszugestalten weiß, wobei er durch rhythmische Finesse besticht. Vibraphon gibt es in zwei der acht Konzertetüden Op. 40, welche Christine Rauh aus dem Klavieroriginal für die Schlagwerkerin Ni Fan und sich arrangierte. Ein ganz eigener Klang entsteht in dieser ungewöhnlichen Kombination, der durchaus funktioniert. Ni Fan fliegt in schier unglaublicher Virtuosität über ihr Instrument, und das mit einer unbekümmerten Gelassenheit, in der sie ihre Stimme in aller Natürlichkeit und ohne jede „Einwirkung von außen“ gedeihen lassen kann. Gegen die bisher zu hörende Qualität mag die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Leitung von Nicholas Collon direkt etwas plump wirken, die aufgeweckte und sprunghafte Seele der Solistin kann im Streichorchester kein Pendant finden. Zu gepresst und mit zu viel Druck, zu sehr „gewollt und gemacht“ klingt das Tutti, die unbeschwerte Freiheit geht verloren.

Die Zugabe schrieb Christine Rauh zusammen mit Benyamin Nuss, eine Hommage à Kapustin für Cello und Klavier. An die bisher erklungene Musik erinnert die Hommage in ihrer zarten Verträumtheit und breit angelegten Linie kaum, doch ist sie eine bezaubernde Nocturne, welche auch Rauhs tiefe Lagen einmal präsentiert und einen zartempfundenen Abschluss dieser ansonsten so belebten CD bildet.

[Oliver Fraenzke, August 2016]

Wunderbare Stücke in wunderbarer Vielfalt

Polish Violin Concertos
Piotr Plawner (Violine)
Kammersymphonie Berlin – Jürgen Bruns
Label: NAXOS
EAN: 747313349678

Wie definiert man polnische Musik? Das ist eine Frage, die sich bei der Beschäftigung mit diesem neuen Album des NAXOS-Labels unvermittelt stellt.

Ein Komponist wie Alexandre Tansman, geboren 1897 in Łódź, 1920 die französische Staatsbürgerschaft angenommen, vor den Nazis nach Lissabon geflohen und von dort dann in die USA ausgereist, 1946 nach Paris zurückgekehrt und bis zu seinem Tod dort geblieben. Hat er „polnische“ Musik komponiert?

Oder Michał Spisak: 1914 geboren in Südpolen, ab 1935 wohnhaft in Paris, wo er 1965 auch gestorben ist. Auch Andrzej Panufnik, der einen Großteil seines Lebens in Großbritannien verbrachte und aus Enttäuschung in den 1950er-Jahren seinem Heimatland Polen den Rücken kehrte oder Grażyna Bacewicz, die Anfang der 1930er-Jahre nach Paris ging, um (wie auch Spisak) bei Nadia Boulanger zu studieren, kann man schwerlich einen hörbar „polnischen Stil“ attestieren, auch wenn diese beiden immerhin viel Zeit ihres Lebens in ihrem Heimatland verlebt haben.

Es ist daher durchaus fraglich, ob es gerade bei polnischen Komponisten Sinn macht, ein Album mit vermeintlich „polnischer Musik“ zu konzipieren. Gerade in Polen kann man keine „Schule“ ausmachen, keinen spezifischen „Sound“ wie man ihn etwa sofort im Ohr hat, wenn von tschechischer, ungarischer oder russischer Musik die Rede ist.

Ein Manko ist das aber nicht. Ganz im Gegenteil, wie dieses hoch interessante Album beweist. Es enthält vier ganz hervorragende Kompositionen von überwiegend ausgezeichneter Qualität, und es ist zudem von der Kammersymphonie Berlin unter Jürgen Bruns und vom überraschend großartigen Solisten Piotr Plawner (der zumindest mir vor dieser Aufnahme überhaupt kein Begriff war) in sehr, sehr guter Qualität eingespielt worden, dank einer Koproduktion mit dem Deutschlandradio zudem in brillantem Aufnahmeklang.

Das erste Konzert des Albums ist auch das Interessanteste. Es stammt von Grażyna Bacewicz. Naxos hatte bereits im letzten Jahr mit einer Gesamteinspielung der Bacewicz-Streichquartette einen echten Coup gelandet. Bacewiczs Musik, die manchmal sehr an Weinberg und Schostakowitsch erinnert, müsste ein großes Publikum begeistern können. Und kaum ein Werk wäre besser geeignet, um besagtes Publikum für sich zu gewinnen, als dieses tolle Violinkonzert.

Es ist nicht einfach vordergründig virtuos, sondern es wimmelt vor allem von schönen Melodien und einem von lyrischer Heiterkeit durchwehten Geist. Erstaunlich ist dies schon allein deshalb, weil das Stück im Jahr 1937 entstand, als die bevorstehende politische Krise nicht wenige (darunter auch Bacewicz selbst) zu düster-vorahnungsvollen Kompositionen inspirierte. Hört man etwa Bacewiczs düster bis teils sogar depressiv gefärbte Streichquartette, kann man kaum glauben, dass dieses heitere, ganz unproblematisch zugängliche Stück von derselben Komponistin stammen soll.

Alexandre Tansmans „Cinq Pièces pour violon et petit orchestre“ atmen (wie so vieles von diesem schwierig zu interpretierenden Komponisten) den Neoklassizismus der Art Strawinsky, freilich durchwebt mit dem Hauch zurückhaltender Noblesse und Eleganz, die man bei Tansman häufig findet. Auch diese Stücke sind einfach nur hinreißende Musik, ja, mit das Schönste für diese Besetzung, was ich aus den späten 20er-/frühen 30er-Jahren bislang gehört habe.
„Andante und Allegro für Violine und Streichorchester“ sind die beiden folgenden Stücke aus dem Jahr 1954 betitelt. Sie stammen von Michał Spisak, und stünde dieser Name nicht darüber, ich hätte das Andante glatt für eine verschollene Schostakowitsch-Komposition gehalten, und ich meinte damit jenen sinistren, der Last des Lebens müden Schostakowitsch, der sich etwa im ersten Satz der sechsten Sinfonie oder in der Viola-Sonate findet. Das Allegro hingegen könnte man fast für ein Werk Brittens halten, wobei auch Strawinskys „Orpheus“ hier hätte Pate stehen können.

Ich muss gestehen, dass Spisaks Stücke mich zwar mit ihrer Zugänglichkeit begeistern – man muss sie ja einfach gern haben, weil sie so schön klingen – aber unter kompositorischen Aspekten sind sie die womöglich am wenigsten „gehaltvollen“ Werke dieser CD.

Das Violinkonzert Andrzej Panufniks aus dem Jahr 1971 beschließt das Album mit dem typischen, ganz unverkennbaren Panufnik-Sound, den man entweder liebt oder hasst. Panufnik war ein Individualist vor dem Herrn, einer, der seinen eigenen Kopf durchsetzen musste. Sein Violinkonzert überrascht mit zurückgenommenen kammermusikalischen Passagen und mit einer für Panufniks Verhältnisse vergleichsweise stark ausgeprägten Expressivität. Es ist eine im Prinzip ganz untypische Musikmoderne für einen mitteleuropäischen Komponisten. Es ist Musik, die man auch von einem US-Amerikaner wie William Schuman oder Roy Harris akzeptiert hätte.

Panufniks Konzert gleicht einem Spiel der Violine mit dem Orchester oder besser gesagt, einer Art Wettkampf oder einem Katz-und-Maus-Spiel. Nur wenige Passagen lassen beide „Parteien“ zusammen erklingen, die Violine steht oft allein oder tritt in teils aufgeregte Dialogpassagen mit dem klein besetzten Orchester ein. Ein enorm interessant gemachtes Werk, in dem man immer wieder Neues entdeckt, je öfter man es hört.

Fazit: Der Titel des Albums mag verfehlt sein (wie wir gezeigt haben, gibt es weder ausschließlich Violinkonzerte auf dieser CD noch könnte man hier irgendwo eine dezidiert „polnische“ Musik ausmachen), doch die enthaltenen Kompositionen und ihre Interpreten begeistern!

[Grete Catus, Juli 2016]

Bilder und Momente

Naxos 8.573469; EAN: 7 47313 34697 4

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Über siebzig Minuten Rachmaninoff gibt es auf der nunmehr dritten CD von Boris Giltburg für Naxos zu hören. Den zweiten Band der Études-tableaux Op. 39 und die zwanzig Jahre früher entstandenen Moment musicaux Op. 16 (wenn auch die Jahreszahlen auf der CD vertauscht wurden) spielt der 1984 in Moskau geborene Pianist.

Die unglaubliche Inspiriertheit von Sergei Rachmaninoff manifestiert sich nirgendwo monumentaler als in seinen Klavierminiaturen. Der lyrische Moment der nachklingenden Romantik ist in diesen auf vollendete Weise enthalten, sie haben eine fesselnde und mitreißende Wirkung, stets schillernde Bildhaftigkeit und auch pianistisch mehr als reizvolle Passagen. Sehr eindrücklich zeigen dies bereits die frühen Moments musicaux Op. 16 von 1896, von welchen vor allem die vierte Nummer in e-Moll berühmt geworden ist durch ihre packende Virtuosität, über die sich ein Thema erhebt, welches schlichter und eingängiger kaum sein könnte. Für mich der spannendste und vielleicht ausgereifteste Werkzyklus des Russen bleibt allerdings derjenige der Études-tableaux, der in zwei Bänden Op. 33 und Op. 39 erschienen ist. „Etüden-Bilder“, dieser Name trifft den Inhalt vorzüglich, weisen doch alle enthaltenen Stücke horrende technische Anforderungen auf (teils hintergründig und versteckt wie bei Op. 33, Nr. 3, doch beim Spielen durchaus merklich, denn gerade hier liegt die Herausforderung darin, die Stimmführung herauszumeißeln – auch das ist eine technisch nicht zu unterschätzende Aufgabe!) und sind doch allesamt keine reinen Übungsstücke, sondern abstrakte Illustrationen oder, wie Giltburg in seinem Booklettext schreibt, Kurzgeschichten, teils wie akustische Filmvorlagen. Die Etüden aus dem hier zu hörenden Opus 39 weisen zwar nicht die würzige Kürze und Unmittelbarkeit derjenigen aus Op. 33 auf, doch dafür einen viel weiter gespannten Bogen über mehrere Abschnitte hinweg, noch höhere pianistische Anforderungen und eine ausgereifte Vielstimmigkeit.

Boris Giltburg findet in den Werken einen durchwegs lyrischen Grundcharakter, eine gewisse Weichheit und bildliche Strahlkraft. Auch die vielstimmigen Akkorde erhalten einen vollen Ton und gleiten nicht in ein dumpfes Schlagen ab. Manuell kann Giltburg bis hin in enorme Tempi überzeugen, manch horrend schwieriges Stück gerät bei ihm gar noch schneller als vom Komponisten intendiert und lässt dadurch staunen.

Einiges verliert sich allerdings in Willkür, so werden die Tempi zu oft durch freie Rubati unterbrochen und jeder Grundpuls geht dadurch verloren, teilweise auch die innere Ruhe durch beschleunigenden Puls wie in Op. 39, Nr. 2. Die Ritardandi sind zudem vielerorts mechanisiert und treten automatisch an gewissen Stellen auf, meist beim Zulaufen auf den neuen Takt oder einen Themeneinsatz. Aus mir nicht erkennbaren Gründen, scheinbar unbewusst, durchlebt die Dynamik erhebliche Abweichungen von der in den Noten stehenden Vorzeichnung, wodurch einige Kontraste verloren gehen. Nicht zuletzt tauchen, hauptsächlich bei den Etüden, auch einige zentrale Melodien komplett in den Untergrund ab, die entscheidend für die melodische Aussage der Werke wären.

So wäre wirklich zu wünschen, Boris Giltburg würde intensiv daran arbeiten, die Stücke aus ihrer Unmittelbarkeit heraus zu erleben und aus mancherlei tradierten Willkürlichkeiten, Manierismen und Mechanisierungen zu befreien. Denn die Auffassungsgabe, den Kern aus der Musik herauszuholen, hat er eigentlich und kann es in manchen Stücken auch eindrucksvoll umsetzen.

[Oliver Fraenzke, Mai 2016]

A mixed bag: Transkriptionen von Musik John Irelands

Naxos/British Music Society
8.571372
EAN: 747313137275
Orchestra of the Swan
Raphael Wallfisch (Cello)
David Curtis

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Zugegeben: Qualitativ zählte John Ireland nicht immer zur absoluten Speerspitze der britischen Komponisten im 20. Jahrhundert, aber in seinen stärksten Momenten (z.B. Klavierkonzert oder das schön-schaurige sinfonische Gemälde „Legend“ nach einer schön-schaurigen literarischen Vorlage von Arthur Machen) hat er Musik geschrieben, die für jeden Liebhaber lyrischer Spätromantik mit einem Hang zum französischen Impressionismus unwiderstehlich erscheinen muss. Nun erscheint bei Naxos/British Music Society ein neues Album, das die Ambivalenz von Irelands Musik neu zur Diskussion stellt.

Dazu muss man vielleicht zunächst darauf eingehen, was es mit dem „co-labelling“ dieses Albums auf sich hat. Wie Liebhaber britischer Musik wissen, hatte die British Music Society jahrelang ein eigenes Label mit dem Kürzel BMS, das hierzulande kaum erhältlich war. Die Verkaufszahlen waren zuletzt so gering, das man auf die Methode „press on demand“ ausgewichen war, bei der eine CD erst dann gepresst wird, wenn eine Kundenbestellung vorliegt. Auch das klappte wohl irgendwie nicht so, wie sich das die Society vorgestellt hatte, und so kam Naxos als Partner, bei dem auch Raritäten ein Zuhause finden, wohl gerade zur rechten Zeit.

Aber zurück zur Musik, denn davon gibt es auf diesem Album einen bunten Strauß: Der etwas prosaische Albumtitel „Music for String Orchestra“ täuscht darüber hinweg, dass wir es hier mit nicht weniger als acht Werken zu tun haben, davon nur zwei Werke mit Spiellängen von mehr als 15 Minuten, der Rest sind kleinere Kompositionen. Es handelt sich beim Repertoire auf diesem Album zudem durchweg um Transkriptionen und Arrangements, meistens von Klaviermusik und Kammermusik.

So wurde Irelands Sonate in g-Moll für Cello und Klavier hier für Cello und Streichorchester gesetzt. Mit dem fabelhaften „Orchestra of the Swan“ und dem berühmten Cellisten Raphael Wallfisch sind Top-Kräfte am Start, die interpretatorischen Glanz en masse verströmen müssten. Der Vortrag gelingt jedoch „nur“ gut, vor allem weil Wallfisch und das Orchester nie als Interpretenteam erscheinen. Dies ist vielleicht ein Produkt des etwas „zerstückelt“ anmutenden Dirigats von David Curtis.

Kaum ist der Solist verschwunden, verströmen Gelegenheitswerke wie „Summer Evening“ oder „In a May Morning“ auf deutlich überzeugendere Art und Weise das schwere, patschulihafte Parfum, für das man Irelands Musikimpressionen entweder liebt oder ablehnt.

Vor allem „In a May Morning“ weiß zu gefallen. Ireland, der zugleich ein Naturbewunderer und dem Übersinnlich-Esoterischen zugeneigt war, zeigt hier ein schimmerndes Klangfarbenspiel, das von einem Moment auf den anderen von haarscharf am Kitsch vorbei schlitternden Kantilenen ein mysteriös klingendes Düsterreich tangieren kann, nur um die Komposition in schönstem Lyrismus zu beschließen, als sei nie etwas anderes dagewesen. Das eigentlich für Klavier geschriebene Stück klingt auf diesem Album übrigens, als sei es original für Streichorchester gemacht, was für die Qualität des dargebotenen Arrangements von Graham Parlett spricht.

Ähnliches könnte man über andere „kleine“ Stücke dieses Albums sagen, die wohl den am nächsten liegenden Kaufgrund für dieses Album darstellen. „A Dowland Suite“ (im Streichorchesterarrangement vom Komponisten selbst unter Mithilfe von Geoffrey Bush) ist typologisch artverwandt mit Gustav Holsts „St. Paul’s Suite“. Holsts Suite ist allerdings eleganter, schöner und, tja, auch einfach besser.

Kurz und gut: Dieses Album ist nicht schlecht, könnte aber besser sein. Das liegt einerseits an der dargebotenen Musik, die nicht immer zu Irelands Top-Ware zählt. Andererseits haben auch die Interpretationen noch „Luft nach oben“. Für Ireland-Fans, die alles brauchen, ist diese Platte aber sicherlich unverzichtbar, denn diese Streichorchesterarrangements gibt es nirgends anders, und sie sind auch spannend und interessant zu hören.

[Grete Catus, April 2016]

Viva la Salsa

Naxos 8.559817; EAN: 6 36943 98172 6

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„La Salsa“ lautet der Titel der Sinfonía No. 3 von 2005 des 1953 geborenen Roberto Sierra. Zusammen mit Borikén (2005), El Baile (2012) und dem Orchesterliederzyklus Beyond the Silence of Sorrow (2002) wurden sie von Maximiliano Valdés und dem Puerto Rico Symphony Orchestra für die Reihe American Classics bei Naxos eingespielt. Sopransolistin in den Liedern ist Martha Guth.

Es gibt so manche großartigen Komponisten, an denen man unerklärlicherweise jahrelang komplett vorbeigeht. Doch in glücklichen Fällen wird man dann doch auf eines seiner Werke aufmerksam, legt eine CD ein und ist gebannt vom ersten Ton an. So erging es mir mit der Musik des 1953 geborenen Komponisten Roberto Sierra aus Puerto Rico. Der Titel der dritten Symphonie macht gespannt. „La Salsa“: Dies als Symphoniename evoziert sogleich eine Kombination aus lateinamerikanischer und europäischer klassischer Musik. Jeder, der einmal ein Konzert mit Musik Lateinamerikas besucht hat, kann bestätigen, wie fesselnd die Rhythmik ist, welch ein Schwung und welch unvergleichliche Atmosphäre aufkommen und wie doch jedes Land seine spezifischen Eigenheiten kann, die ganz klar zu differenzieren sind – ein Potpourri der Stile, zeitgleich divergierend und einheitlich verbunden. Die Versuche, solche Musik mit der europäischen Tradition zu verschmelzen, brachten bereits manch ein großes Meisterwerk hervor, wobei Namen wie Villa-Lobos, Ginastera, Serebrier, Hamel, Chuquisengo oder Iturriaga, Carpio oder León repräsentativ zu nennen sind.

Ein weiterer Name ist nun zweifelsohne in eine solche Favoritenliste aufzunehmen: Roberto Sierra. Seine Musik umfängt mit belebtem Schwung und tänzerisch-leichtfüßigem Elan, die lateinamerikanischen Tanzrhythmen und Charakteristika verschmelzen auf elegante Weise mit klassischen oder barocken Formen und schaffen eine einzigartige Mixtur, in welcher die grundverschiedenen Welten in Einklang zusammenleben. Der erste Satz der Symphonie entreißt den Hörer der vertrauten Welt und schmeißt ihn bereits in den ersten dreißig Sekunden in den Süden Amerikas dank seiner prägnanten Rhythmik und des gekonnten Einsatzes der Instrumente. Sowohl in der Symphonie als auch in den anderen Werken belässt Sierra es nicht bei einem einzigen Salsa-Stil, sondern mischt ältere und neuere Rhythmen. In Borikén herrscht zentral auch die spanische Musik und über lange Zeit eine gewisse dissonante Reibung vor, die nach dem spektakulären Höhepunkt nahtlos in einen bewegten Tanz ausmündet, dessen Thematik trotz des großen melodischen Ambitus lange Zeit im Kopf bleibt. Die Motivzelle von El Baile birgt zeitlos deutschen Kontext, denn hier findet sich unverkennbar die Notenfolge B-A-C-H, die wie die Chaconneform von Borikén auf das Barockzeitalter verweist – wenngleich dies nicht wirklich auf Anhieb herauszuhören ist. Sierra schafft kontinuierliche Entwicklungen, einen vollkommen eigenen Stil in der Kombination der unterschiedlichsten Einflüsse, und demonstriert eine unvergleichliche Gabe der Orchestration, die Instrumente eines klassischen Symphonieorchesters wie auch lateinamerikanische Rhythmusinstrumente einbezieht.

Das Puerto Rico Symphony Orchestra spielt makellos und klar durchhörbar, Dirigent Maximiliano Valdés sorgt für eine merkliche Strukturierung der Stimmpolyphonie und auch der Dynamik. Er achtet auf authentisch vermittelten Spannungsaufbau und lässt die Abschnitte organisch ineinander übergehen, ohne dass Lücken entstehen. Ihm gelingt es, die grundverschiedenen Elemente der Musik einzeln ans Licht zu rücken, einander abwechseln zu lassen und doch zugleich als zu einheitlicher Wirkung zu bringen. Alle Werke entstehen somit in einer spielerischen Leichtigkeit, die den Tanzcharakter unterstreicht, die Rhythmik ist dabei penibel genau eingehalten und überträgt unwiderstehlich den markanten Ausdruck der Musik. Eindrucksvoll ist die Plastizität, mit der alles so natürlich geschieht, der volle und gleichzeitig durchsichtige Klang, die schnelle Wandlungsfähigkeit zwischen Dissonanz und Tanz sowie im Bezug auf die Stimmwechsel. Teils etwas gekünstelt wirkt der Sopran von Martha Guth mit divenhafter Opernprätention und statisch-monotonem Vibrato. Dennoch passt sich die Stimme erstaunlich gut in das Orchestergeschehen ein und vermag, die enormen Kräfte zu lenken. Dabei beweist Guth frappierende Brillanz in abenteuerlichen Sprüngen und in sämtlichen Lagen ihrer Stimme.

Zusammenfassend eine restlos empfehlenswerte Einspielung aus dem Hause Naxos von einem grandiosen Komponisten, von dem hoffentlich noch mehr Musik auf CD erscheinen wird oder vielleicht sogar bald einmal im Konzertsaal zu erleben ist!

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Der andere Wieniawski

NAXOS 8.573404; EAN: 7 47313 34047 7

Wieniawski

Liv und Mairan Migdal spielen für NAXOS die Sonate für Violine und Klavier in d-Moll Op. 24 von Józef Wieniawski sowie Allegro de sonate g-Moll Op. 2 und Grand Duo polonais G-Dur Op. 5, eine Zusammenarbeit der Brüder Józef und Henryk Wieniawski, ein.

Tochter und Vater spielen die Werke zweier Gebrüder; die Tochter an der Violine am Anfang ihrer verheißungsvoll beginnenden Karriere, der Vater am Klavier mit diesen letzten Aufnahmen vor seinem Tod im Frühjahr 2015 am Ende seiner Laufbahn: der eine Bruder ein noch heute weltbekannter Violinist und Komponist, der andere als Pianist und ebenso als Komponist vollkommen in Vergessenheit geraten – sowohl seine Violinsonate als auch die in Kollaboration der beiden Brüder entstandenen Werke für Violine und Klavier wurden bisher noch nie eingespielt.

Warum Józef Wieniawski nach wie vor keine Beachtung in der Musikwelt findet, ist ein großes Rätsel. Zu Lebzeiten war er ein gefragter Pianist, der 1855 bei Franz Liszt und danach bei Adolf Bernhard Marx studiert hat und nach Liszt der erste Pianist war, der alle Chopin-Etüden öffentlich aufführte. Er begleitete eine große Anzahl der größten Künstler seiner Zeit wie unter anderen Joachim, Sarasate und Vieuxtemps. Auch als Komponist schuf er gewichtige Werke, so unter anderem eine Symphonie in D-Dur, ein Klavierkonzert in g-Moll, eine Klaviersonate, 24 Etüden in teils recht interessanten Formen wie „Fantasie und Fuge“ und etliche andere Solo- und Kammermusikstücke.

Einigen dieser Werke widmeten sich nun Liv Migdal und ihr Vater Marian Migdal in einem bereits seit längerer Zeit geplanten Projekt. In ihrer Kindheit komponierten die beiden Brüder, Henryk und der zwei Jahre jüngere Józef Wieniawski, einige Stücke zusammen: Auf dieser CD zu hören ist das beschwingte, mit kindlicher Leichtigkeit und (im positiven Sinne) Naivität durchtränkte Allegro de sonate g-Moll Op. 2 (Józef war zu diesem Zeitpunkt erst elf Jahre alt) und das fünf Jahre später entstandene Grand Duo polonais G-Dur Op. 5, ein wesentlich größeres und ernsteres Werk, mit spürbarem kompositorischen Geschick von beiden Seiten. Trotz des jungen Alters der Komponisten sind die Werke durchaus ausgereift und technisch für beide Partner mit hohen Schwierigkeiten versehen. Das gewichtigste Werk der Aufnahme ist die große Violinsonate in d-Moll Op. 24 von Józef Wieniawski, die Ende seiner zwanziger Jahre entstand. Die viersätzige Sonate beginnt mit einem großformatigen und ziemlich düsteren Kopfsatz, auf den ein zwielichtiges Andante religioso folgt, in welchem das Klavier immer wieder Trost bieten will, was allerdings von der Violine oft genug verneint wird und die Stimmung wieder in dunkle Gefilde wirft, wobei der Satz schließlich doch eher versöhnlich endet. Ein heller Lichtblick wird durch den dritten Satz erreicht, ein knackiges und prägnantes Scherzo von größter Eingängigkeit, worauf ein wildes, kaum zu bändigendes Allegro appassionato, ma non troppo presto die Sonate schwungvoll beendet.

Das Spiel von Liv und Marian Migdal ist vollendet abgestimmt, Tochter und Vater hören einander exakt zu und reagieren auf das musikalische Geschehen in der Stimme des Partners. Hier wird jahre- oder jahrzehntelange Erfahrung im gemeinsamen Spiel deutlich und lässt die beiden Solisten zu einer Einheit verschmelzen. Zwar sind beide recht kontinuierlich eine Dynamikstufe zu laut und vertrauen etwas zu selten auf die Farbnuancen des leicht oder hauchend gespielten Tones, doch kommt dies auch einer großen Expressivität und Extrovertiertheit zu Gute, die die Musik unmittelbar an den Hörer heranträgt. Und auch die wirklich lauten Passagen sind zu keiner Zeit bloß hart geschlagen oder mit nicht in Relation zum Resultat stehender Kraft gespielt, sondern stets volltönend und warm. Solch eine Wärme macht auch insgesamt den Klang von Liv und Marian Migdal aus, so dass man sich komplett heimisch fühlen kann in der Ausdruckswelt der beiden Musiker.

Fast könne man meinen, der Ton von Liv Migdal möchte explodieren, so erfüllt mit innerem Gefühl und Aussage ist er. Er wird in enormer Spannung gehalten und sogar noch weiter ausgebaut, anstatt dem Auflösungsbestreben nachzugeben, was einen ungeheuer fesselnden und in allen verzweigten Wegen der Musik Wieniawskis mitreißenden Effekt verleiht. Mehr als angenehm ist auch ihre Art des Vibratos, das in eleganter und zarter Manier dem Ton Singkraft verleiht, ohne durch zu starken oder quantitativ zu häufigen Gebrauch die Wirkung zu nivellieren.

Seinen ganz eigenen Weg hat auch Marian Migdal am Klavier gefunden. Er versuchte, sich als Spieler weitestgehend auszuschalten und nur die Musik für sich sprechen zu lassen. Resultat ist eine vollkommen natürliche und frei von Manierismen geführte Linie mit einem ausgewogenen Verhältnis von Spannung und Entspannung in einem klaren wie verständlichen Tonfall, der umgehend verständlich ist. In den vorliegenden Aufnahmen mit anspruchsvollen wie dankbaren Stimmen für beide Spieler kann auch Marian Migdal als Begleiter sich voll entfalten und sein enormes Können noch einmal unter Beweis stellen. Nach unzähligen brillanten Aufnahmen mit Hauptwerken bekannter Komponisten wie Haydn, Mozart, Grieg, Liszt und Chopin sowie eher unbekannten Größen wie Adolf Wiklund oder Franz Berwald ist die CD mit der Musik Józef Wieniawskis ein würdevoller Abschluss seiner Diskographie – und wie hätte man so ein Ende besser vollbringen können als im Kreise der Familie.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Die schwedische Klassik

Naxos 8.572457, EAN: 7 47313 24577 2

Naxos 8.573378, EAN: 7 47313 33787 3

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Das Gävle Symphonieorchester spielt unter Gérard Korsten die vier fertiggestellten Symphonien des schwedischen Komponisten Joachim Nikolas Eggert für Naxos ein, ebenso die Ouvertüre aus der Schauspielmusik zu Mohrene i Spanien sowie die gesamte Schauspielmusik zu Svante Sture. Abgesehen von der dritten Symphonie und den Mohren in Spanien handelt es sich durchgehend um Ersteinspielungen.

Wieder einmal gelingt es Naxos, einen zu Unrecht vollkommen in Vergessenheit geratenen Komponisten zu entdecken und die zum größten Teil noch nie eingespielte Musik den Hörern zugänglich zu machen. Dieses Mal ist es ein besonders wertvoller Glücksgriff, denn Joachim Nikolas Eggert ist eine Generation vor Franz Berwald gewissermaßen das Bindeglied zwischen der Wiener Klassik und dem schwedischen Musikleben, außerdem ein Neuerer ungeahnten Ausmaßes.

Joachim Nikolas Eggert wurde 1779 auf Rügen geboren, das damals noch zu Schwedisch-Pommern gehörte, bevor es 1807 von den Franzosen besetzt wurde. Nachdem er von Heimatkünstlern früh als außergewöhnliches Talent entdeckt wurde und eine Ausbildung unter anderem in Stralsund absolvierte, erhielt er 1802 seine erste Anstellung als Kapellmeister in Mecklenburg-Schwerin. Im kommenden Jahr wollte er eine Reise nach St. Petersburg antreten, musste diese allerdings krankheitsbedingt in Stockholm beenden, wo er später einen Violinistenposten erhielt. In Schweden entstanden alle seine vier vollendeten Symphonien, mutmaßlich zwischen 1804 und 1810. 1807 wurde er Kapellmeister der Königlichen Schwedischen Musikakademie und baute seine Reputation von dort stark aus. Mit nur 34 Jahren starb Eggert an Tuberkulose in der schwedischen Provinz im Hause eines seiner Studenten. Besondere Verdienste erwarb er sich durch Erstaufführungen von Werken Mozarts und Beethovens in Schweden. Joachim Nikolas Eggert gehört zu den fortschrittlichsten Komponisten seiner Zeit und somit sollte auch jegliche Verwechslungsgefahr zu einem recht langweilig zu hörenden deutschen Komponisten unserer Zeit gleichen Nachnamens beseitigt sein, der abgesehen von skurrilen wie sinnlosen Ideen keinerlei hörenswerte Neuerung schuf.

Jede der vier Symphonien (eine fünfte blieb unvollendet) Joachim Nikolas Eggerts ist ein komplett eigenständiges Werk und weist einzigartige Charakteristika auf. Auffällig ist die enorme Kantabilität der Melodien, die jeden Satz geradezu zu einem Ohrwurm werden lässt. Die Satzstruktur ist schlicht und gut durchhörbar, doch fällt stets das große kompositorische Geschick Eggerts ins Auge. Sowohl in kurzen Sätzen der Symphonien und in den nie länger als drei Minuten dauernden Stücken der Schauspielmusiken als auch in den groß dimensionierten symphonischen Kopfsätzen mit einer Länge von je über zehn Minuten zeigt sich eine brillante Formbeherrschung. Stets hat der Hörer die klare Orientierung, wo gerade er sich innerhalb eines Werkes befindet, und zu keiner Zeit entsteht ein Moment einer Überstrapazierung der symphonischen Form. Während die Symphonien Nr. 1, 2 und 4 einen klassischen viersätzigen Aufbau aufweisen durch schnellen Kopfsatz mit langsamer Einleitung, langsamen Satz, Menuett und Trio sowie schnellen Finalsatz (in der 4. Symphonie eine Fuge), geht die dritte Symphonie ganz eigene und äußerst interessante Wege: Das 1807 komponierte Werk beginnt mit einem dreizehnminütigen Kopfsatz, auf den ein kurzer Marsch im Grave folgt, der von einer ebenso nicht sonderlich langen Fuge beendet wird, die wiederum einen langsamen und dann erst einen schnellen Teil hat – das ansonsten vorhandene scherzohafte (man erinnere sich an die Symphonien von Ludvig van Beethoven) Menuett fehlt. Teils nimmt Eggert auch damals noch nicht sonderlich übliche Besetzungen auf, so finden sich in der zweiten Symphonien bereits drei Trompeten (wodurch die Uraufführung sogar verschoben werden musste, da es an eben jenem dritten Trompeter mangelte), und in der vierten Symphonie erscheint in häufigem Gebrauch die Triangel, die zu der Zeit noch lange nicht etabliert im Orchester war und hauptsächlich der „Türkenoper“ zugeordnet wurde. Das musikalisch wohl am weitesten in die Zukunft reichende Werk ist der alternative zweite Satz zur vierten Symphonie, ein Largo: Zu Beginn spielt lediglich ein Solohorn, dem sich ein zweites Horn hinzugesellt. Zusammen wandern sie in feinster Zweistimmigkeit durch allerlei teils herbe Dissonanzen, die absolut nicht in die Zeit passen möchten, sondern den Hörer ins späte 19. Jahrhundert zu katapultieren scheinen (zu wagnerischen Klängen, wie der Autor des Booklettextes Bertil van Boer meint, der abgesehen von etlichen viel zu weit hergeholten und vor allem musikchronologisch vorausgreifenden Vergleichen viele wissenswerten Informationen zu Komponist und Werk bietet). Und so unscheinbar, wie er begann, endet der Satz auch wieder mit einem nur alibihaft kadenzierenden Horn, wo noch immer der Vorhalt sichtlicher in Erinnerung bleibt als die „zu“ kurze Auflösung. Ob wohl Eggert der Satz zu modern war, oder dem Publikum, und er deshalb nur als Alternativsatz überliefert ist? Über zeitgenössische Rezeption ist uns leider nichts bekannt – doch hoffentlich wird die Forschung in Bälde wissenswerte Informationen zutage fördern.

Das Gävle Symphonieorchester spielte die nun erschienen CDs größtenteils 2014 in Schweden ein, die Symphonien Nr. 1 und 3 waren allerdings schon 2009 fertiggestellt – kurz darauf erschienen bei Musikaliska Kunstforeningen in Schweden auch die Partituren aller vier Symphonien. Das Orchester beeindruckt mit farbenreich schillerndem und brillantem Klang, auch ist es in polyphonen Passagen gut aufeinander abgestimmt und lässt die gewaltige Stimmenvielfalt gut durchhörbar mitverfolgen. Der Klang ist recht volltönend und kann in den Tuttipassagen äußerst animierend wirken, dafür sind allerdings einige der eigentlich zurückhaltenden Stellen ein wenig zu voll und massiv vorgetragen. Dynamisch sind die Werke gut erarbeitet und viele kleine Details schön ausgestaltet, mit selten schwankender Qualität. Enorm stimmungsvoll gelingen dem Dirigenten Gérard Korsten vor allem die Abschnitte in kleinen Besetzungen, die er umso genauer erarbeiten ließ, um sie mit einem magischen Glanz zu umhüllen und die wenigen Instrumente feinfühlig aufeinander abzustimmen. Also liegt hier eine überaus hörenswerte Einspielung aller Symphonien des schwedischen Komponisten Joachim Nikolas Eggert vor; dieser Komponist sollte dringend verstärkt erforscht und vermehrt dargeboten werden, es handelt sich um eine der herausragenden Entdeckungen der Zeit um 1800.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Brahms’sche Poesie für Violoncello und Klavier

NAXOS 8.573489, EAN: 7 47313 34897 8

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Neben den beiden Cellosonaten von Johannes Brahms spielen der junge, preisgekrönte Cellist Gabriel Schwabe und dessen nicht weniger namhafter Klavierpartner Nicholas Rimmer erstmals sechs Lieder des Komponisten, bearbeitet für ihre Besetzung, ein. Gefördert wurde die von Radio Bremen koproduzierte Aufnahme durch die Deutsche Stiftung Musikleben.

Von den vielen Aufnahmen der beiden Sonaten für Violoncello und Klavier Op. 38 in e-Moll und Op. 99 in F-Dur tendieren nicht wenige dazu, entweder sehr pauschal schwelgerisch die Solostimme herauszustellen oder schnell und trocken bis hin zu nichtssagend zu sein. Umso erfreulicher ist es, wie der noch nicht einmal dreißigjährige Schwabe und der nicht minder kompetente Rimmer beide Sonaten in ihrer Essenz klug und mit viel Innenleben deuten: Allgemein heben sie die Eigenständigkeit jeder Stimme klar hervor, gestalten die Themen, Verläufe und das Tempo so, dass sich immer eine geschlossene Struktur hieraus ergibt, ohne dabei jemals akademisch zu wirken. Dank dieser durchdachten Herangehensweise klingen beide Sonaten größtenteils „perfekt“, als ob es selbstverständlich und leicht wäre, so zu musizieren – was es natürlich nicht ist.

Prinzipiell gilt das auch für die eigentliche Novität dieser CD, die sechs ausgewählten Lieder aus verschiedenen Schaffensphasen des Komponisten in Cello-Arrangements. Dadurch, dass Brahms, dessen Liederzyklen immerhin ein Drittel seines gesamten Schaffens ausmachen, diese eher knapp und klanglich homogen schrieb, hatten die beiden Musiker sowohl in ihrer Bearbeitungspraxis als auch in ihrer Ausführung leichtes Spiel. Anders gesagt, erscheint es für Schwabe und Rimmer keine große Herausforderung, den Liedbearbeitungen Charakter zu verleihen und sie in ihrer individuellen Stimmung auszudeuten. Interessant ist die Auswahl der Lieder, welche die Künstler vornahmen und worüber der ausführliche und musikwissenschaftlich kompetente Booklettext von Oliver Fraenzke bestens informiert. Wie er schreibt, arbeitete das Duo daran, bewusst Lieder mit weiter entstehungszeitlicher Bandbreite (aus den Jahren 1866 bis 1885) zu wählen, die sich zudem in Melodieführung und Transponierbarkeit eignen und nach Bearbeitung für Cello und Klavier eigenständige, aber dennoch urtexttreue Werke bilden würden.

Die Mainacht (Op. 43, Nr. 2) wird zu einer dreiteiligen Nocturne, in deren Mittelteil sie das Pathos des originalen melancholischen Liedtextes („ …aber ich wende mich, / Suche dunklere Schatten“) angemessen zum Ausdruck bringen. Schwungvoll klingt die Botschaft (Op. 47, Nr. 1), was bisweilen auch für die Liebesglut (auch Op. 47, Nr. 2) gilt, wobei das Duo auch hier auf Klarheit der Stimmen setzt. Sind diese nun Werke aus den 1860er Jahren, so entstand Verzagen (Op. 72, Nr. 4) 1877. Dieses Lied beinhaltet eine noch komplexere Faktur sowohl durch die ständige 32stel-Bewegung als auch durch den weniger strophischen als entwickelnd durchkomponierten Aufbau. Und hier schaffen es Schwabe und Rimmer, ein vergleichsweise gemessenes Tableau aus diesem Lied zu formen, das in seiner Originalgestalt oftmals zu affektiert und dramatisch vorgetragen wird. Die in den 1880er Jahren entstandenen Lieder Sommerabend (Op. 85, Nr. 1) und Nachtigall (Op.97, Nr. 1) haben sowohl einen pastoralen Text als auch einen eher lyrischen Klangcharakter gemein. Auch hier kann man das Spiel der beiden Musiker und deren Sinn für die richtige Atmosphäre einfach nur makellos nennen, selbst in einigen wenigen Spitzentönen des Cellos, die um keinen Deut intensiver vibriert werden dürften.

In den mehr herausfordernden Sonaten spielen beide Künstler äußerst sicher und mit vollem Ton, nicht ohne Risiken einzugehen. Im Allegro non troppo der ersten Sonate erklingt das Grundthema sicher und gemessen, wogegen die Überleitung zum Seitenthema in h-Moll mit sehr viel Emotion durchdrungen ist. Bisweilen bewegen sie sich klanglich an der Grenze aller Sicherheit, behalten aber dennoch die Kontrolle und sorgen so beim Zuhörer für einige Spannung. Erfreulicherweise wird das Cello selbst in den lauteren Passagen nie zugedeckt. Auch die heiklen Akkordsprünge beider Instrumente in der Durchführung glücken vollkommen. Die Überleitung zur Reprise zeichnet sich durch Ruhe und Beherrschung im Zusammenspiel aus und bekräftigt wiederum die Ausgewogenheit zwischen klanglichen Gegensätzen. Im Allegretto quasi menuetto heben Schwabe und Rimmer das Tänzerische des Themas deutlich hervor, ohne je ins Vulgäre zu verfallen. Charakteristisch für dieses Menuett ist mithin die Leichtigkeit, die das Duo dem Stück angedeihen lässt, während das fis-Moll-Trio deutlich sensibler, jedoch gefasst wiedergegeben wird. Bezüglich des finalen Allegros klärt Fraenzke darüber auf, dass Brahms lange kein passendes Finale einfiel und die schließlich komponierte Fuge und ihr komplexes Gewebe problematisch für die Durchhörbarkeit werden könne. In der Tat geben auch Schwabe und Rimmer sich hörbar Mühe, ein zudeckendes Klangvolumen zu vermeiden, wobei sie auch hier ihr oftmals kraftvolles Spiel beibehalten. Allerdings nutzen sie geschickt die weniger kontrapunktischen Passagen, um dynamische wie auch artikulatorische Abwechslung einzubringen, wodurch dieses Finale, fernab jeglicher polyphonen Etüde, zu einem lebendigen Kehraus wird.

Ähnlich souverän gestaltet das Duo die zweite Sonate: das eröffnende Allegro vivace klingt in den Tremoli des Klaviers vital, Schwabe verzichtet in den Cellosynkopen zu Satzbeginn auf pathetische Gesten, behält aber seinen ausdrucksstarken Ton bei. Da dieser Kopfsatz, im Vergleich zum Vorgängersonate, viel mehr auf Motivkombinationen setzt, macht ihn das in seiner Struktur auch zerklüfteter. Schwabe und Rimmer verstehen es, einen erlebbaren Gesamtzusammenhang herzustellen, nicht ohne die verschiedenen Facetten und Klangfarben des Satzes ausgiebig auszuloten. Im Adagio affettuoso schreiten die Pizzicati des Cellos gemessen, dabei weder zu langsam noch zu forciert voran, was der melancholischen Stimmung sowie der Formbalance sehr zugute kommt. Obgleich der folgende Satz ein Allegro passionato ist, heben die Musiker weniger das Leidenschaftliche als das Geschwinde hervor. Schwabe reißt gar einzelne Töne seiner Stimme nur noch scharf an und verleiht diesem Scherzo somit einen zusätzlich makabren Charakter. Die Cellomelodie des Trios wird zwar kantabel hervorgehoben, das Tempo jedoch drosseln Schwabe und Rimmer kaum. Und: niemals klingt es irgendwo überhetzt. Die wohl größte Herausforderung dieser Sonate ist das abschließende Allegro molto: Die absichtliche Belanglosigkeit des F-Dur-Themas fordert viele Kammermusiker insofern, diesem eine tiefere Bedeutung abzugewinnen. Nun nehmen Schwabe und Rimmer die Satzbezeichnung ziemlich wörtlich, sprich, auch hier wird der Kehrauscharakter nachdrücklich betont. Das Nebenthema in a-Moll hat auch etwas Ironisches (wie vielerorts bei Schostakowitsch). Auch hier setzen die beiden Musiker die Kontraste klug ein, indem sie z. B. die erste Episode dieses Rondos im Tempo drosseln, um mehr Tiefe hineinzubringen. Schlussendlich dominiert jedoch das Motorische des Satzes (zumal aufgrund der omnipräsenten Klaviertriolen), ohne jedoch mechanisch zu wirken. So setzt auch dieser Schlusssatz ein Markenzeichen für zwei junge Musiker, die die Cellosonaten durch ihr lebhaftes und bewusstes Musizieren in angemessener Gestalt und Individualität entstehen lassen und diese CD zu einem sehr empfehlenswerten Ereignis innerhalb der reichen Diskographie machen. 

[Peter Fröhlich, Januar 2016]

Eine positive Überraschung aus Ungarn

Eugene Zador
Festouvertüre (1963)
Variationen über ein ungarisches Volkslied (1919)
Tanz-Symphonie (1936)
Budapest Symphony Orchestra MÁV
Mariusz Smolj
Naxos 8.573274, EAN: 747313327478

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Neben vielen anderen Vorzügen, ist das Schöne am Label Naxos, dass es einen immer wieder auf erstaunlich gute Musik von erstaunlich unbekannten Komponisten aufmerksam macht. Mir ging es zuletzt so mit diesem Album mit Musik des ungarisch-amerikanischen Komponisten Jenő Zádor, der nach seiner Emigration in die USA den Namen Eugene Zador annahm. Eine sehr positive Überraschung!

Jenő Zádor wurde 1894 in Südungarn nahe der Grenze zu Kroatien geboren. Zur historischen Einordnung: Zádor ist damit einige Jahre jünger als Béla Bartók und Kodály. Musikalisch war er jedoch weniger progressiv, blieb stets in einem spätromantischen Duktus, den er allerdings mit seinen zum Teil hoch dramatischen Kompositionen bis an die Grenzen der Tonalität aufplusterte.

Zádor war in Wien Student Max Regers und wurde dort 1921 selbst Musikprofessor. Später wechselte er an die Franz-Liszt-Musikakademie Budapest und kehrte somit in sein Heimatland zurück.

Im Zuge der Bedrohung Ungarns durch das Terrorregime der Nazis ereilte ihn dasselbe Schicksal wie zahllose andere osteuropäische Musiker und Komponisten: Er musste in die USA emigrieren. Wie viele andere Komponisten bestritt Zádor dort sein Leben mit Filmmusik. Allerdings komponierte er sie nicht, wie uns die englischsprachige Wikipedia weismachen will (einen deutschen Wikipedia-Eintrag für Eugene Zador gibt es übrigens noch nicht), sondern er war mit der Orchestrierung der Musik anderer, namhafterer Komponisten beschäftigt.

Und so arbeitete Zador fleißig mit an etwa Miklós Rózsas Jahrhundertsoundtrack „Ben Hur“ sowie am Soundtrack anderer Monumentalfilme der 1960er-Jahre wie „El Cid“ oder „König der Könige“, ohne dass sein Name je im Abspann dieser Filme aufgetaucht wäre. Denn für die Nennung im Abspann waren Leute wie Zádor den Studios von Hollywood scheinbar schlicht nicht wichtig genug. Zador war also einer der vielen Lohnarbeiter, die sich mit musikalischer Routinearbeit herumplagen mussten, und das zu einem höchstwahrscheinlich sehr kargen Salär.

Abseits der Filmmusik war der Ungar wohl in erster Linie Opernkomponist. Aber seine mindestens 12 Opern (die so spannende, Neugier erregende Namen tragen wie „Yehu, eine Weihnachtslegende“, „X-mal Rembrandt“, „Die scharlachrote Mühle“ oder „Der magische Stuhl“) werden heute nicht mehr gespielt.

Naxos hat inzwischen aber einige Alben mit Instrumentalmusik Eugene Zadors im Programm. Dieses brandneue ist jedoch das erste, durch das ich auf diesen interessanten Komponisten aufmerksam wurde. Es enthält mit der Festouvertüre von 1963 ein Spätwerk des 1977 in Hollywood verstorbenen Komponisten, ein Frühwerk (Variationen über ein ungarisches Volkslied von 1919) und ein sinfonisches Hauptwerk („Tanz-Symphonie“ – in der Zählung der Symphonien Zadors die Nummer 3 – von 1936) aus seiner Zeit als Musikprofessor in Budapest.

Die Musik Zadors wirkt für uns, denen der musikalische Blick in den Rückspiegel mit einer Fernsicht offensteht, die Generationen vor uns logischerweise nicht hatten, eigentlich von Beginn seiner Karriere an sehr filmmusiktauglich: Bei seinem Studium in Wien hatte sich Zador offenbar stehenden Fußes in neckische Geigerglissandi verliebt, die bis zuletzt ein Markenzeichen seiner Musik blieben und die der spieltechnisch oft mit höchsten Schwierigkeitsgraden einhergehenden Sinfonik dieses Komponisten eine verschmitzte Leichtigkeit verliehen. Selbst in der mit haarsträubend schwierigen Orchesterparts einhergehenden „Tanz-Symphonie“ von 1936 scheint der Himmel voller Geigen zu hängen – während den Musikern wahrscheinlich die Schweißperlen auf der Stirn stehen. Vor dem inneren Auge des Hörers läuft dazu ein nie gedrehter Schwarz-Weiß-Film ab.

Selbst Zadors frühe „Variationen über ein ungarisches Volkslied“ klingen schon wesentlich kosmopolitischer als es Bartók oder Kodály bei ihren ähnlich gelagerten Werken je waren. Trotzdem begeistert diese Musik auch durch einen Personalstil. Hat man sich in den quirlig-verspielten und irgendwie „zackig“ klingenden Stil Zadors erst einmal hineingehört, fällt es schwer, Vergleiche zu ziehen. „Klingt wie…“ funktioniert hier nicht. Zador hat seine eigene musikalische Handschrift gehabt, und das offenbar von Beginn seiner kompositorischen Karriere an.

Das Budapest Symphony Orchestra MÁV ist leider mit der komplexen Orchestrierung zum Teil deutlich überfordert. Hier müsste ein Spitzenorchester ran, das an allen Pulten mit exzellenten Musikern besetzt ist. Das ist das Budapest Symphony Orchestra MÁV leider nicht. Dirigent Mariusz Smolj hatte womöglich auch nicht genügend Probezeit zur Verfügung, um aus seinem Orchester etwas anderes herauszuholen, als eine Art von „Durchlavieren“ durch die mit jeder Menge spieltechnischer Untiefen gespickten Partituren. Alles in allem ist die Leistung aber noch gut und vermittelt zudem einen gewissen authentischen Charme, der mir persönlich manchmal viel besser gefällt als eine blitzeblank polierte Leistung, der aber die „Seele“ fehlt.

Fazit: Zador war ein Meister in der Beherrschung des musikalischen Handwerks. Er hat einen ausgeprägten Personalstil gehabt und eine eigene „Handschrift“. Das, in Verbindung mit der einfach spannenden und unterhaltsamen Art, die seine Stücke auszeichnet, ergibt eine äußerst reizvolle Musikmixtur, die mich spontan und nachhaltig begeistert hat.
Kompositorisch im Sinne der „musikalischen Erfindung“ ist Zador zwar nicht zur „A-Liga“ der Komponisten seines Landes zu zählen, gleichwohl gebührt ihm eigentlich ein höherer Rang, als er ihn heute, wo sein Name praktisch komplett vergessen ist, einnimmt. Die Einspielung durch das Budapest Symphony Orchestra MÁV mag Schwächen haben, entzückt aber auch mit einem authentischen Charme, der ebenso liebenswert wirkt, wie die eingespielte Musik.

[Grete Catus, Januar 2016]

An den Rand gedrängte Bühnenwerke

NAXOS 8.573341; EAN: 7 47313 33417 9

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Nachdem bereits eine beachtliche Anzahl der Orchestermusik aus Bühnenwerken von Jean Sibelius in dieser Reihe erschienen ist, gilt nun die neueste Aufnahme von Leif Segerstam und dem Turku Philharmonic Orchestra Svanevit (Schwanenweiß) und Ödlan (Die Eidechse) sowie den beiden kurzen Melodramen Ett ensamt skispår (Eine einsame Skispur) und Grevinnans konterfej (Das Portrait der Gräfin).

Gegenüber den bekannten sieben großen Symphonien, der frühen Kullervo-Symphonie, den Lemminkäinen-Legenden, einer stattlichen Anzahl symphonischer Dichtungen, der Karelia-Musik, der Valse triste und dem omnipräsenten Violinkonzert des überragenden finnischen Komponisten Jean Sibelius sind unzählige weitere Werke für Orchester unbekannt geblieben. Unter ihnen auch die Bühnenmusiken, von denen – mit Ausnahme von Pelléas et Mélisande und besagter Valse triste aus Kuolema – keines hierzulande regelmäßig aufgeführt wird. Der finnische Dirigent, Komponist, Violinist und Pianist Leif Segerstam will dies nun mit einem groß angelegten Projekt für NAXOS ändern und hat bereits viele der selten gespielten Stücke mit neuesten Aufnahmestandards auf CD festgehalten. Nach unter anderem Kuolema, König Kristian II, Pelléas et Mélisande, Belsazars Gastmahl und Jedermann folgen nun Svanevit und Ödlan. Ersteres, Schwanenweiß, ist ein märchenhaftes, dem Symbolismus verschriebenes Schauspiel des wohl eigentümlichsten Autors der schwedischen Literaturgeschichte, August Strindberg, in welchem eine junge Prinzessin sich statt in den König, dem sie versprochen ist, in den als Boten gesandten Prinzen verliebt. Sibelius erhielt als junger Mann den Auftrag, zur Premiere eine Bühnenmusik zu schreiben, welche zusammen mit dem Schauspiel zur Uraufführung kam. Mikael Lybeck war der Verfasser des Schauspiels Ödlan, die Eidechse, in welchem ein Graf zwischen dem Guten in Person seiner Verlobten und dem Bösen in Form eines inneren Widersachers im Eidechsenanzug zu kämpfen hat, wobei alles recht unwirklich und traumhaft erscheint. Sibelius’ Musik zu den beiden literarischen Vorwürfen erscheint sehr divergierend: Für Svanevit schreibt er dreizehn kurze und eingängig-zarte Nummern sowie einen kurzen Hornruf und einen zweimalig erscheinenden an- und abschwellenden Akkord, der den Schwanenflug abbilden soll. Ödlan ist im Gegensatz dazu eine ziemlich düstere Musik, die in zwei ungleich lange Szenen unterteilt ist und suggestiv auf das Bühnengeschehen Bezug nimmt.

Der CD ist ein englischsprachiger Booklettext von Dominic Wells beigegeben, der einige wissenswerten Informationen über die beiden Schauspielmusiken mitteilt, dem ich allerdings inhaltlich in einigen Punkten nicht zustimmen würde und der auch erstaunlich nahe an die Strukturierung und Wortwahl der offiziellen Texte auf Sibelius.fi angelehnt ist.

Das Turku Philharmonic Orchestra unter Leif Segerstam hat bei Sibelius einen natürlichen Heimvorteil und spürbar viel Erfahrung mit der Musik seines großen Landsmannes. Oft lässt sich ein ganz eigener Klang feststellen, der einmalig die Gefühlslage dieser Stücke widerspiegelt und von kaum einem anderen Orchester so natürlich und unverfälscht zu erwarten wäre. Der Klangkörper weist einen vollen und robusten Ton auf, der mit Einheitlichkeit und Zusammengehörigkeit aufwarten kann. Es entsteht auf diese Art ein gewisses Gefühl von Wärme. Dynamisch hingegen wirkt bedauerlicherweise alles viel zu flächig gleich und streckenweise gar abwechslungslos und langwierig. Auf feine melodische und harmonische Veränderungen wird schlicht nicht eingegangen, wodurch der technische dem musikalischen Aspekt gegenüber gewichtiger bleibt. Im Allgemeinen überwiegt ein kräftiger und pathetischer Ton, der das Sangliche und Lyrische verdrängt – wie es vor allem im zarten, märchenhaften Svanevit deutlich wird. Und dies trotz durchgängig kleiner Besetzung in den Werken, in Ödlan (welches ursprünglich für nur neun Musiker geschrieben ist) und Grevinnans konterfej gar mit reiner Streicheraufstellung. Grund für all das ist wohl, dass Segerstam doch nach wie vor hauptsächlich auf Opulenz aus ist, und auf Quantität, wie sowohl im Komponieren von mittlerweile über 250 Symphonien als auch in Bezug auf die Anzahl seiner Einspielungen deutlich wird, durch die sein Name fast monatlich in den Neuheiten erscheint. Da bleibt selbstverständlich wenig Zeit, die Musik auch musikalisch minutiös mit einem Orchester einzustudieren, und so währt hohles Pathos mit Fixierung auf die Hauptstimme als Ausweg fort statt sorgfältiger Ausarbeitung der Unter- und Nebenstimmen sowie dynamischer und artikulatorischer Nuancen – die jedoch an sich erst das wahre musikalische Denken offenbaren würden.

Im Anschluss an die beiden Schauspielmusiken folgen noch zwei Miniatur-Melodramen: Ett ensamt skispår, Eine einsame Skispur, und Grevinnans konterfej, Das Portrait der Gräfin. Diese schwedischsprachigen Stimmungsbilder mit nur dezenter Dramatik in der feingliedrigen Musik sind für mich persönlich der Höhepunkt dieser CD. Sie sind von solch einer herrlichen, edlen Zurückhaltung geprägt und wirken doch so unmittelbar und frei, in größter Naturbelassenheit und Ausdruckskraft! Riho Eklundh erweist sich hierbei als ein gelassener Erzähler, der sich nicht zu übermäßig identifiziertem oder übertrieben akzentuierendem Erzählstil hinreißen lässt, dem aber diese Texte doch offenkundig aus der Seele sprechen. Tontechnisch ist er zwar ein klein bisschen zu präsent abgebildet vor dem hier erfreulicherweise ungewohnt lyrisch agierenden Instrumentalkörper, wobei dennoch die Orchesterstimmen gut durchhörbar bleiben.

[Oliver Fraenzke, Januar 2016]

Ein Leben in Symphonien

NAXOS, 8.501111; EAN: 7 30099 11114 0

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Das gesamte Symphonieschaffen des großen russischen Komponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra sowie dem Royal Liverpool Philharmonic Choir (in den Symphonien Nr. 2, 3 und 13), der Huddersfield Choral Society (in der Symphonie Nr. 13) und den Solisten Alexander Vinogradov (in den Symphonien Nr. 13 und 14) als Bass und Gal James (in der Symphonie Nr. 14) als Sopran unter dem Dirigat von Vasily Petrenko ist nun als 11 CD-Box bei NAXOS erhältlich mit Einspielungen aus den Jahren 2009 bis 2014.

Kein anderes Genre zieht sich so sehr durch das Leben von Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch wie das der Symphonie: 1924/25 schrieb der 1906 geborene Komponist sein frühes Erstlingswerk und verstummte schließlich symphonisch 1971 mit seiner fünfzehnten Symphonie, vier Jahre vor dem Herzinfarkttod des bereits schwer Krebskranken 1975. Sein utopisches Ziel war zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht erreicht, – 24 Streichquartette und 24 Symphonien wollte er schreiben, ähnlich dem von so vielen Komponisten wie auch ihm selbst verfassten Zyklus von 24 Präludien und Fugen durch alle Tonarten – lediglich 15 konnte er vollenden, sowohl Symphonien als auch Streichquartette.

Jeder Versuch, das gesamte symphonische Werk Schostakowitschs auf einen Nenner zu bringen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn zu divergierend sind sie doch alle. Bereits zwischen der eingängigen ersten und der undurchschaubaren, mit bis zu dreizehnstimmigem Fugato verstrickenden, höchst komplexen zweiten Symphonie liegen Welten, auch die Längen der Werke schwanken insgesamt zwischen knapp 20 und 80 Minuten, ebenso ist die Besetzung sehr wechselnd. Sucht man doch nach Verknüpfungspunkten zwischen Schostakowitschs Symphonien, so sollte sein Gespür für beißende Ironie und todernsten Sarkasmus ins Zentrum gerückt werden – bei kaum einem anderen Komponisten wird noch immer so heftig spekuliert, was er aussagen wollte mit solchen fast frivol-markanten Passagen, sei es der plötzliche überlang auftrumpfende Schluss der Fünften, sei es das verstümmelte Rossini-Zitat in der Fünfzehnten, sei es der Höllentanz der Malagueña als zweiter Satz der Vierzehnten, der erst in den letzten Takten sein wahres Gesicht zeigt, sei es die Umfunktionierung der Loreley in selbigem Werk, die sich von ihrem Felsen stürzt und im unmittelbaren Anschluss als scheinbar andere Person schließlich über ihr eigenes Grab spricht, verbunden mit zwei identischen Glockenschlägen, die einen parallel grinsen und Gänsehaut machen, oder sei es die ganze fast an Haydn erinnernde Form der „Neunten“, die statt Ruhm und Götterfunken in aller Kürze alles Militärische veralbert, karikiert und dem System die lange Nase zeigt. Tausendfach diskutiert man seit jeher, ob Schostakowitsch nun für oder gegen das System war, ob er seine Meinung zeitweise änderte und wie sich dies in seinem Schaffen abbildet – Extremfall die nach Stalins Tod geschriebene Zehnte, die heute meist als „Befreiung aus dem System allgemein und im Einzelschicksal“ angesehen wird. Bezeichnend auch für alle Werke ist die unglaubliche Kunst Dmitri Schostakowitschs, mit seinen Motiven zu spielen, sie obsessiv in durchgängigem Precipitato-Empfinden in die Höhe zu treiben, militärische Anklänge einzubeziehen und diese wieder in der Beklommenheit und Stille versinken zu lassen. Und dies in einer Verbindung mit ausgefeiltester kontrapunktischen Fertigkeit und einem einmaligen Gespür für Instrumentierung, die das gesamte große Orchester einbezieht und unzählige Soli gebiert.

Vasily Petrenko wagt sich nun an die Gesamteinspielung dieses zwölfstündigen Marathons, der ihn von 2009 bis 2014 beschäftigte. Damit tritt er in die Fußstapfen einiger sehr namhaften Dirigenten wie Kirill Kondraschin, Gennadi Roschdestwensky, Valery Gergiev, Rudolf Barshai oder Mariss Jansons, bei dem Petrenko auch einige Zeit lernte und dessen Gesamteinspielung meiner Meinung die alles in allem vielleicht gelungenste ist, auch wenn einige Symphonien beispielsweise unter Gergiev noch etwas mehr Glanz und Unmittelbarkeit versprühen. Das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra dirigiert der noch recht junge Orchesterleiter in einer nahezu unwirklich erscheinenden Synchronizität, die bis in die verzwicktesten Rhythmen vollkommen makellos ist. Das Orchester erhält einen trockenen Anstrich, der jedoch nicht ins Spröde und vor allem zu keiner Zeit in romantischen Kitsch verfällt, was gerade bei den ausgedehnten langsamen Sätzen das unumstößliche Todesurteil für die Musik darstellen würde. In den meisten Symphonien erreicht es Petrenko, die verzweigten Stimmengeflechte alle hörbar werden zu lassen und für eine gute Transparenz zu sorgen, nur in manchen Einzelfällen fehlt mir eine zentrale Instrumentalstimme, die von Bedeutung gewesen wäre und nun in der Klangmasse verloren geht. Dynamisch hält sich das Orchester zwar nicht zwangsläufig an alle vorgegebenen Feinheiten, schafft aber dennoch oder eben sogar damit stets ein lebendig pulsierendes Klanggebilde mit Respekt für die Bogenlinie und die verschiedenen Dynamikebenen in der Partitur. Ein wenig in die Extreme geht Vasily Petrenko bei der Tempofrage, die schmetternden Höhepunkt in größter Pracht drängen unglaublich nach vorne, während die eh schon teils überlangen ruhigen Tempi noch mehr in die Breite gezogen werden. Das Drängen ist alles andere als störend, weil dadurch kein qualitativer Verlust der Musik zu beklagen ist, nach wie vor bleibt alles sauber und durchsichtig, nur die langsamen Sätze zerbröckeln teils etwas und verlieren dadurch ihre an sich schon gedehnte Form – besonders deutlich wird dies zum Beispiel bei der sechsten Symphonie, deren erster Satz hier eine Länge von knapp 20 Minuten aufweist (bei Jansons im für mein Empfinden perfekten Tempo 15 Minuten). Es wäre so lange nichts gegen dieses Tempo zu sagen, wenn auch musikalisch entsprechend Fülle und Dichte bestünde, wie dies bei einem Celibidache die Grundeigenschaft einer jeden Darbietung war, doch ist eben dies bei Konzerten für den Besucher durch die Wirkung des anwesenden Orchesterapparates wesentlich leichter nachvollziehbar als auf nie an die Klangqualität und Unmittelbarkeit eines Livekonzertes reichende Aufnahmen, die deshalb nicht selten (sogar bei dem großen Meister Celibidache manchmal) für den Nachhörenden unter übermäßig gedehnten Tempi leiden.

Die Musiker des Royal Liverpool Philharmonic Orchestra sind allesamt von beeindruckendem technischen Können und mit genauestem Verständnis für Hintergründe und Zerklüftungen in dem Symphonieschaffen vertraut, mit dem sie sich sichtlich jahrelang beschäftigten, wodurch sie es auch angemessen vermitteln können. Die Solisten sind allesamt präzise, können sich gut vor das Orchester stellen und werden problemlos mit ihren größtenteils wirklich anstrengenden Solopassagen fertig. Lediglich der Konzertmeister nimmt manch ein Solo ein wenig zu spröde abgehackt und der Piccoloflötist kann nicht durchgehend die unschlagbare Wirkung erzielen, die von der enormen Höhe ausstrahlen kann und in manch einer Vergleichseinspielung oder im Livekonzert für Atemlosigkeit sorgt. Hervorzuheben sind vor allem die Soli von Fagott, Klarinette und Oboe sowie die gediegenen Bläserchoräle wie im zweiten Satz der letzten Symphonie. Nicht weniger das vielstimmige Schlagwerk ist positiv zu erwähnen, zu keiner Zeit überdeckt es das Orchester und ist dennoch immer in gutem Maße präsent.

Neben der Orchesterleistung darf auch die des Royal Liverpool Philharmonic Choir, teils unter Verstärkung von Männerstimmen der Huddersfield Choral Society, nicht vergessen werden. Der Chor ist sehr bodenständig mit solidem und kräftigem Klang, er kann in allen Dynamikstufen frei gestalten und schafft in jeder Umgebung eine durchdringende Wirkung und Atmosphäre. Wenngleich nicht mit der selben faszinierenden Synchronizität wie das Orchester agierend, ist diese ins Orchester eingepasste Stimmvielfalt wirklich eindrucksvoll und dem großartigen Instrumentalkörper angemessen. In zwei Symphonien wirkt Alexander Vinogradov als sonorer Bass mit dunkler Stimme und sehr angenehmem, ruhigem Timbre. In der Vierzehnten steht ihm zudem die Sopranistin Gal James zur Seite, die ihre hektischen und selbstzerstörerischen Partien so glaubhaft herüberbringt, dass man meinen könnte, sie selber sei das lyrische Ich, das sein wahres Schicksal besingt. Trotz der so unterschiedlichen Rollen und Stimmfärbungen mischen sich die beiden Solisten gut und haben eine langgeprobte Übereinstimmung mit dem restlichen Klangkörper, der seinerseits untrennbar mit dem Vokalpart verbunden scheint.

Mit neuester Aufnahmetechnik eingespielt herrscht eine phänomenale Klanglichkeit, die einen fast live ins Geschehen zu versetzen vermag. Der mehr als ausführliche Booklettext von Richard Whitehouse auf Englisch gibt einen guten Einblick in jedes einzelne dieser großartigen Werke und bietet eine nützliche Verständnisgrundlage für die Umstände dieser doch oft subjektiv konnotierten Musik. Ein zusätzlicher Kommentar zu jeder Symphonie vom Dirigenten Vasily Petrenko lässt auch ein wenig dessen Gedanken zu den Symphonien durchscheinen.

Alles in allem eine sehr empfehlenswerte Gesamteinspielung des gesamten Symphonieschaffens Dmitri Dmitijewitsch Schostakowitschs. Persönlich kenne ich auch allgemein keine Gesamteinspielung irgendeines großes Œuvres, wo es nichts zu kritisieren gäbe und wo alle Aufnahmen vollendet gelungen wären. Dies kann man denn auch nicht erwarten, doch liegt hier eine mehr als beeindruckende Sammlung auf 11 CDs mit absoluten Spitzenmusikern und einem wirklich verständigen Dirigenten vor, die dem Hörer diese fantastische Musik vermittelt.

[Oliver Fraenzke; Dezember 2015]

Wenn die Engel singen

OUR Recordings 6.220615 (Vertrieb Naxos); EAN: 7 47313 16156 0

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Europäische Weihnachtslieder vom 13. bis zum 18. Jahrhundert aus vielen Ländern wurden von Michael Bojesen zusammengetragen und arrangiert für die Besetzung Chor und Blockflöte. Er dirigiert das Danish National Vocal Ensemble mit der Blockflötenvirtuosin Michala Petri.

Keine andere Zeit des Jahres verbinden wir heute so sehr mit Gesang wie die Zeit um Weihnachten, die Feier zur Geburt Christi. Schon in den frühesten Choralsammlungen sind immer wieder Adventsgesänge zu finden; Das Kirchenjahr beginnt mit dem 1. Advent, der stets mit dem berühmten „Ad te levavi“ eingeläutet wird. Doch nicht nur in der Kirche gehört der Gesang zu Weihnachten, auch im Bereich der Volksmusik ist er wesentlicher Bestandteil dieser Zeit der Feierlichkeit, und uns sind zu diesem Anlass aus vielen Ländern unzählige Melodien und Texte überliefert.

Siebzehn dieser Weihnachtslieder nahm sich der Dirigent Michael Bojesen für diese Anthologie vor, wofür er baskische, franziskanische, tschechische, englische, holländische, deutsche, polnische und französische Lieder sowie solche aus den „Piae Cantiones“ auswählte. Diese, mit einer Entstehungszeit zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert, bearbeitete er für sein internationale Reputation genießendes Danish National Vocal Ensemble und Michala Petri, die berühmte Blockflötistin, die sowohl in alter als auch in zeitgenössischer Musik zu Hause ist und bereits über 150 Werke uraufgeführt hat. Die Bearbeitungen von Michael Bojesen sind äußerst vielseitig, gut abgestimmt und können die herrlichen Volks- und Kirchenmelodien gleichzeitig pietätvoll untermalen wie auch durch die Vielstimmigkeit bereichern. Der Chorsatz ist mit sichtlicher Erfahrung und Geschick gesetzt, alle Stimmen haben ihre besonderen Einsätze und wechseln sich in der Führung ab. Manch ein polphon versetzter Stimmeinwurf lässt aufhorchen, und zu keiner Zeit läuft die Musik Gefahr, zu langweilen durch einen gleichförmigen oder nichtssagenden Satz. Nicht weniger kunstvoll ist die Soloflöte Michala Petris eingewoben, die sich trotz des natürlich immer hervorstechenden Instrumentaltons erstaunlich gut in die Chorstimmen integrieren kann, sie auch teils solistisch umspielt und mit einem lamettaartig feinen Hauch versieht. Auch manch einen solistischen Auftritt gibt Michael Bojesen seiner grandiosen Blockflötistin.

Das Danish National Vocal Ensemble, bestehend aus fünf Sopran- und vier Altstimmen, sechs Tenören und fünf Bässen, die im achtstimmigen Chorsatz jeweils zweigeteilt auftreten, besticht mit größter Sauberkeit und einem sehr entspannten, ruhigen Ton. Zu keiner Zeit lassen sie sich die Schwierigkeiten der teils vertrackten Stimmpolyphonien vernehmen, nie kommt Hektik und Unsicherheit auf. Ob alle Stimmen am aktiven melodiösen Verlauf beteiligt sind oder ob die einen Sänger eine solide Basis bilden, über der andere frei schweben können, ist in dieser Hinsicht vollkommen gleich, stets singt jeder Mitstreiter mit höchster Inbrunst und Freude an der Musik. Der gesamte Chor wirkt trotz der geringen Stimmenzahl sehr robust und stabil mit großem Volumen und reicher Fülle. Sehr angenehm ist auch die gute Textverständlichkeit ohne die so zur Mode gewordene Überakzentuierung eines jeden Konsonanten. Der Arrangeur Michael Bojesen tritt hier auch als Dirigent auf und hält sein Werk zusammen. Er erreicht erstaunliche Synchronizität und achtet auf genaueste Abstimmung seiner Sänger, darauf, dass stets die zentralen Stimmen im Vordergrund stehen, ohne dass die anderen Linien im Hintergrund verloren gehen, auch schafft er ein tragfähiges Kontinuum des Spannungsverlaufs, das in einem großen Bogen jedes Stück zusammenhält.

Eine besondere Rolle kommt natürlich Michala Petri mit der Blockflöte zu. Ihre ergänzende und ausschmückende Position als einzige Instrumentalistin verlangt einiges von der Dänin, indem sie ihre Flöte auch sehr sängerhaft einzusetzen hat, um nicht aus dem Gesamtkonzept zu fallen. Ihre Stimme passt sich nun wunderbar in das Gesamtbild herein, sämtliche virtuosen Höchstschwierigkeiten auf ihrem Instrument lässt sie locker vergessen. Es klingt tatsächlich so, als wäre die Blockflöte untrennbar mit diesen alten Melodien verbunden und als hätte es nie eine andere Möglichkeit gegeben, den Chor zu verzieren. Der Hörer wird kein anderes Instrument vermissen und beglückt sein über die zarte Blockflöte, die sich über dem stimmungsvollen Chor zu freudigen Höhenflügen hinreißen lässt.

„Let The Angels Sing“ ist eine durch und durch empfehlenswerte CD für alle, die auch einmal andere Melodien zu Weihnachten zu hören wünschen als diejenigen, die eh jedes Jahr rauf und runter gespielt werden, auch wenn auch hier das eine oder andere Lied durchaus nicht unbekannt ist. Es ist eine schöne Sammlung unterschiedlichster Stücke aus verschiedenen Ländern und Epochen, dargeboten von einem wahren Spitzenensemble. Nach dem Hören dieser CD ist für mich klar, was es dieses Jahr beim Zusammensein um den Weihnachtsbaum als musikalische Begleitung geben wird.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2015]

Douglas Lilburn zum 100. (02.11.1915)

Naxos 8.572185; EAN: 7 4731321857 8

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Prospero Dreaming
Neuseeländische Gitarrenmusik
von Douglas Lilburn und David Farquhar

Gunter Herbig

Douglas Lilburn (1915-2001) und sein Schüler, der Komponist David Farquhar (1928-2007) sind nicht nur einfach zwei herausragende Vertreter der neuseeländischen Musik, sondern weit mehr als das. Als Komponisten sind sie bei uns immer noch völlig unbekannt, aber das ändert sich pünktlich zum 100. Geburtstag am 2. November zumindest bei Lilburn, denn da wartet auf die europäische Musikwelt eine schier unglaublich reiche und spannende Entdeckung.
Christoph Schlüren schreibt in seiner Lilburn-Würdigung in der aktuellen Neuen Musikzeitung, Lilburn sei „ein Meister von universellem Karat, eine singuläre Stimme in der unglaublichen Vielfalt der Musik des 20. Jahrhunderts. Wo seine Musik erklingt, strahlt sie auf Musiker und Zuhörer eine unwiderstehliche Wirkung aus – magisch, belebend, verwandelnd.“ Ich kann ihm nur uneingeschränkt zustimmen. Also, unbedingt anhören, das ganze Spektrum seines Schaffens ist es wert!

Auch diese CD vom Label Naxos – das sich ohnehin seit Jahren um die Neu- und Wiederentdeckung verschollener Musik verdient macht – ist ein Volltreffer. Ganz besonders auch dazu deswegen, weil mit dem Gitarristen Gunter Herbig endlich mal ein wahrer Musiker die Gitarre spielt, der nicht nur seine Fingerfertigkeit zeigt oder jugendliche Unbekümmertheit und Temperament ins Spiel bringt, sondern die Stücke von Lilburn und Farquhar in ihrer ganzen Tiefe und musikalischen Struktur ‚singend’ zum Leben erweckt.

Schon lange habe ich keinen so überzeugenden klassischen Gitarristen erlebt wie Gunter Herbig. Sein phänomenologisches Verständnis für die melodischen und harmonischen Abläufe, für rhythmische und klangliche Nuancen ist bemerkenswert. Außerdem lässt er den Tönen und Klängen die Zeit zur Entfaltung, schreckt auch vor Zäsuren nicht zurück, auf dass der Zuhörer das Neu-Entstehen von Musik wie in einer gelungenen Improvisation im Augenblick des Spiels mitvollziehen kann.
Natürlich gibt es bei 29 Stücken, die auf dieser CD versammelt sind, Lieblingsstücke und welche, die mir persönlich weniger zusagen. Aber sowohl vom Melodischen als auch vom Rhythmischen und Harmonischen her sind sie alle authentisch erlebt und äußerst musikalisch realisiert. Besonders gut gelungen scheinen mir die vier Canzonas von Lilburn und Prospero Dreaming von Farquhar.

Die Magie der Gitarre, seit eh und je ein Hauptaspekt dieses Instruments, kommt bei Gunter Herbig voll zum Tragen, aber abgesehen vom Instrumentalen entsteht eben auch wirklich Musik in ihrem ganzen Reichtum.
„Es gibt viele Prim-Geiger, aber nur einen Bream-Gitarristen!“ heißt ein  vielzitierter Satz über das „Problem“ Gitarre und ihre SpielerInnen. Mit Gunter Herbig und der neuen CD der beiden neuseeländischen Komponisten hat eine singulär überzeugende musikalische Vorstellung Gestalt angenommen, die mich – ich bin selber Sänger und Gitarrist – ganz besonders angesprochen und begeistert hat.

[Ulrich Hermann, Oktober 2015]