Nur einen Tag nach Arnold Schönbergs „Gurre-Liedern“ besuchte unser Rezensent im Münchner Prinzregententheater das Sonntagskonzert des Münchner Rundfunkorchesters vom 21. April 2024 unter Patrick Hahn. Auf dem Programm standen zwei Kompositionen Alexander Zemlinskys: Die Sinfonietta op. 23 sowie die fabelhafte „Lyrische Symphonie“ op. 18, in der Johanni van Oostrum und Milan Siljanov die beiden Gesangspartien gestalteten.
Wenn man unmittelbar nach den Jubiläumskonzerten zum 75-jährigen Bestehens des BRSO als zweiter Klangkörper des Bayerischen Rundfunks nicht nur gratulieren, sondern ein Zeichen für die Leistungsfähigkeit des kleineren Münchner Rundfunkorchesters setzen wollte, war es vielleicht nicht unbedingt die klügste Idee, sein Sonntagskonzert ausschließlich dem Wiener Komponisten Alexander Zemlinsky (1871–1942) zu widmen. Nur eingefleischte Fans – der Rezensent gehört freilich dazu – gerade dieser musikalischen Stilepoche werden die Gelegenheit ergriffen haben, quasi im Tagesabstand zwei so hochbedeutende, dazu äußerst selten gespielte Werke wie Arnold Schönbergs „Gurre-Lieder“ und Zemlinskys „Lyrische Symphonie“ anhören zu wollen. So war das Prinzregententheater an diesem Sonntagabend kaum zu zwei Dritteln gefüllt. Widmete die alte MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart) von 1968 dem Lehrer Schönbergs noch weniger als eine Textspalte und wurde Zemlinskys Musik bis zu Beginn der 1980er Jahre so gut wie nicht gespielt, sind dessen ausgezeichnete Opern und Streichquartette, vor allem jedoch seine offenkundig an Mahlers Lied von der Erde anknüpfende Lyrische Symphonie, in der sieben Gedichte des bengalischen Literaturnobelpreisträgers Rabindranath Tagore vertont werden, mittlerweile sicher im Repertoire verankert und auch auf Tonträgern gut zugänglich.
Patrick Hahn, der sympathische Erste Gastdirigent des Rundfunkorchesters, beginnt den Abend mit der dreisätzigen Sinfonietta von 1934, in der Zemlinsky von seiner Verwurzelung in der Spätromantik längst abgerückt ist – und selbst die Roaring Twenties allenfalls noch als Nachklang wirken. Das Stück ist heterogen, hochartifiziell, schwankt zwischen brillantem Humor, virtuosem Aberwitz und durchaus depressiven Vorahnungen. Hahn dirigiert dies alles kraftvoll und souverän – die linke Hand könnte dabei noch mehr gestalten als nur Dynamik und Einsätze zu verwalten. Das Orchester hat sichtbar Spaß an dieser diffizilen Musik, klingt gerade in den knackigen Tuttis des Kopfsatzes prächtig, bleibt in dessen komplexer Polyphonie und den eher kammermusikalischen Phrasen gleichermaßen durchsichtig. In der düsteren Ballade des zweiten Satzes werden die grundierenden Ostinati flexibel aufgefasst, die gut geführte Dynamik führt zu einem Höhepunkt ohne Pathos mit ebenso organischem Abbau. Die hervorragende Leistung der Holzbläser (Klarinettensolo!) ist besonders hervorzuheben. Das Finale beginnt fein, wird im Forte dann leicht lärmend, gegen Schluss regelrecht wild, ohne seinen Humor zu verlieren und wird dabei von Hahn umsichtig kontrolliert: eine beachtliche Leistung des Orchesters.
Noch vor der Pause wird dann von Moderatorin Anna Greiter mit dem Dirigenten und live demonstrierten Klangbeispielen die Lyrische Symphonie – die heuer ihren 100. Geburtstag feiert – vor allem wohl für die zugeschalteten Rundfunkhörer erklärt. Natürlich soll hier eben nicht in erster Linie ein Fachpublikum angesprochen werden, jedoch gerät das Vorhaben durch unsagbar dümmliche Fragen fast zur Farce. Nein – in dem Stück geht es nie um plumpe Erotik, vielmehr um geschlechterspezifische Stereotypen und die darin begründeten Schwierigkeiten von Beziehungen überhaupt. Und wenn die musikgeschichtliche Nachwirkung von Zemlinskys Stück – von Alban Bergs Lyrischer Suite bis etwa zu Michael Gielens Un Vieux Souvenir – komplett unterschlagen wird, ist das schon traurig. Der Programmhefttext von Wolfgang Stähr hingegen ist völlig adäquat.
Das Rundfunkorchester hatte bei der Vorbereitung doppeltes Pech mit gleich zwei Absagen für die Sopranpartie hintereinander (Marlis Petersen bzw. Vera-Lotte Boecker), so dass die Südafrikanerin Johanni van Oostrum äußerst kurzfristig eingesprungen sein muss. Sie singt stimmlich schön und gestaltet differenziert – die Stimme ist aber leider selbst für diese in den Streichern klar unterdimensionierte Besetzung zu klein. Zemlinsky hat kongenial aus den 85 unzusammenhängenden Gedichten aus Tagores Band Der Gärtner zwar keinen wirklichen „Plot“ exzerpiert. Aber die ausgewählten Texte zeichnen teleologisch, dabei kreisförmig eine Beziehungsentwicklung nach: von der Sehnsucht des Mannes und der mädchenhaften Schwärmerei für den „Märchenprinzen“ über Eroberung, gegenseitiges Unverständnis in Ekstase, Loslassen bzw. Verlassen bis hin zum erneuten Alleinsein. Beim Sopran hat der Komponist dies viel deutlicher in die Gesangsstimme integriert als beim Bariton. Der extremen Spannweite von jugendlichem Überschwang im 2. Gesang bis zur Eiseskälte mit nicht mehr tonalen Intervallgängen im 6. Gesang wird van Oostrum noch nicht wirklich gerecht, erwischt manchmal auch nicht alle Töne korrekt. Perfekt hat dies nach Meinung des Rezensenten bisher vielleicht nur Julia Varady in der Aufnahme mit ihrem Gatten Dietrich Fischer-Dieskau hinbekommen. Bei Milan Siljanov spürt man dagegen sofort, dass er sich eingehend mit Text und Musik auseinandergesetzt hat: Textverständlichkeit, Diktion, Emotion – alles wirklich überzeugend. Seine auffallend einnehmende Stimme kommt ohne Mühe über das Orchester und seine Darbietung erfasst die Vielschichtigkeit der Partie gut, vermeidet dabei bewusst Übertreibungen, gerade im 3. Lied, und überlässt dies dem Orchester.
Das Münchner Rundfunkorchester stellt die enorme Farbigkeit – hier übertrifft der erfahrene Zemlinsky sogar die „Gurre-Lieder“ seines Schülers Schönberg – ganz hervorragend zur Schau. Die vielen Effekte – namentlich Glissandi – in allen Instrumentengruppen wirken daher eher schmerzlich, emotional überwältigt oder einfach als tonmalerische Natur-Mimesis: grandios z. B. die Stelle im 4. Gesang bei „der Wind seufzt durch die Blätter“. Den großen symphonischen Zusammenhang kann Patrick Hahn allerdings nicht überall herstellen. Bei den echten Höhepunkten bzw. Zwischenspielen, wo Zemlinsky dann tatsächlich mal ein dreifaches Forte bemüht, fehlen hier schlicht mindestens ein Dutzend Streicher. Ebenso gibt es Stellen, wo das Holz zugedeckt wird oder sogar die Hörner [Ziffer 104] nicht mehr durchkommen, was dann eher der Platzierung auf der Bühne des Prinzregententheaters geschuldet ist. Die Ausgestaltung sämtlicher Solostellen – vorzüglich das Violinsolo im 4. Satz – braucht sich keinesfalls hinter dem BRSO zu verstecken. Bei der Wahl der Tempi fällt auf, dass Hahn im ersten Satz schon ab dem Baritoneinsatz ein wenig zu zäh agiert und das Stück noch größere Flexibilität verdienen würde. Der gesamte 6. Gesang gerät viel zu langsam und die ein wenig unsichere Sopranistin bräuchte da bessere Führung durch den Dirigenten. So zerfällt hier jegliche Spannung. Insgesamt zweifellos ein mutiger und durchaus gelungener Abend, zu dem man dem Rundfunkorchester gratulieren darf. Das Publikum im Saal reagierte auf diesen Vorstoß in offensichtliches Neuland gar enthusiastisch.
[Martin Blaumeiser, 22. April 2024]