Notre Dame
Capriccio, C5481, EAN: 845221054810
Am 22. Dezember 2024 jährt sich der Geburtstag von Franz Schmidt zum 150. Mal. Aus diesem Anlass hat die Beschäftigung mit dem österreichischen Komponisten, der heute im Schatten von Mahler und Bruckner steht, neuen Auftrieb bekommen. Seinerzeit genoss er im Wiener Musikleben hohes Ansehen: als Cellist bei den Philharmonikern, als Organist, Dirigent, Pädagoge und als Tonschöpfer, der die spätromantische Tradition fortführte. Davon zeugen insbesondere vier gewichtige Symphonien. Über die Neuaufnahme durch Jonathan Berman hat der New Listener umfassend berichtet, ein ergänzendes Interview mit dem Dirigenten über sein Franz Schmidt Project vertiefte das Verständnis für die Musik. Doch auch Schmidts Vokalwerke verdienen mehr Beachtung, obwohl sie mit zwei Opern, einem Oratorium und einer Kantate nur einen kleinen Teil innerhalb des Gesamtoeuvres einnehmen.
Sein Bühnenerstling Notre Dame bescherte dem Komponisten nach der Uraufführung 1914 in Wien einen Anfangserfolg. Die Vertonung von Victor Hugos Roman Der Glöckner von Notre-Dame wurde gelegentlich an der dortigen Staats- und Volksoper nachgespielt, in Deutschland gab es sie letztmalig 2010 in Dresden. Doch die gewisse Popularität verdankt sie allein dem melodiösen, wunschkonzerttauglichen Intermezzo, das als Esmeraldas Erkennungsthema das ganze Stück durchzieht. Wer Notre Dame als Ganzes hören will, muss momentan auf die bereits 1989 erschienene Studio-Aufnahme zurückgreifen. Christof Prick, im englischsprachigen Raum unter dem Namen Christof Perick besser bekannt, rückt mit dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin den instrumentalen Farbreichtum und die schillernden Harmonien der sinfonisch geprägten Partitur ins rechte Licht. Rollendeckend besetzt sind der balsamische Bass Kurt Moll als Mitleid erregender Quasimodo, der ungemein ausdrucksstarke Harmut Welker als Archidiakon und der charaktervolle Horst R. Laubenthal als eifersüchtiger Ehemann Gringoire. Das Liebespaar hingegen – Gwyneth Jones als Esmeralda und James King als Phoebus – setzt mehr auf hochdramatische Kraft denn auf lyrische Sensibilität.
Fredigundis
Orfeo, C5478, EAN: 845221054780
Dürftiger als Notre Dame ist die Rezeptionsgeschichte von Schmidts zweiter, 1922 in Berlin uraufgeführter Oper Fredigundis. Dort fiel sie durch und auch die Wiener Inszenierung zwei Jahre später wurde nur dreimal gespielt. Grund dafür mag das krude Libretto gewesen sein. Im Mittelpunkt steht die historische Frankenkönigin Fredigunde, die als über Leichen gehende Machtfrau gezeichnet wird und am Ende im Angesicht ihrer Schuld stirbt. Musikalisch macht der Dreiakter durch sängerische Expression und spätromantische Orchesteropulenz samt wiederkehrenden Bläserfanfaren Effekt. Die Wiener Konzertaufführung vom September 1979, deren Mitschnitt jüngst veröffentlicht wurde, bietet beides. Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Leitung von Ernst Märzendorfer badet in üppigen Klängen, die Titelrolle singt Dunja Vejzovic, einst Karajans Kundry, mit furioser Attacke und fulminanten Spitzentönen. Großartig ist auch Werner Hollweg. Mit virilem, dabei äußerst kultiviertem Tenor gelingt es ihm, die Wandlung vom aussichtslos Liebenden zum Bischof, der die Königin vergeblich vom Pfad des Bösen abbringen will, stimmlich zu beglaubigen.
Das Buch mit sieben Siegeln
Somm, Ariadne 5026-2, EAN: 758871502627
Zwischen 1935 und 1937 schuf Schmidt trotz schwerer Herzprobleme das Oratorium Das Buch mit sieben Siegeln, sein bedeutendstes Vokalwerk. Die musikalische Adaption der Apokalypse basiert auf den Offenbarungen des Johannes und führt in eine Klangwelt der Extreme zwischen Entfesselung und Entrückung, die eine gewaltige Herausforderung für den Riesenapparat, bestehend aus Soloquartett, Chor, Orgel (ein bevorzugtes Instrument Schmidts) und Orchester, darstellt. Sie inspirierte auch Regisseure: legendär ist die Inszenierung von Georg Tabori, die bei den Salzburger Festspielen 1987 einen Skandal auslöste und dann wegen Nacktszenen verboten wurde.
Das Buch mit sieben Siegeln liegt in verschiedenen prominent besetzten Aufnahmen vor. Einen besonderen Rang nimmt die anlässlich des Jubiläums wiederveröffentlichte Einspielung aus dem Jahre 1962 ein. Zum einen ist es eines der wenigen Tondokumente des Grazer Domkapellmeisters Anton Lippe, der den Domchor und die Münchner Philharmoniker zu höchsten Leistungen anspornt. Zum anderen singt Julius Patzak auf seine unverkennbare, interpretatorisch eindringliche Art die anspruchsvolle Partie des Johannes. Der Tenor war Schmidt besonders verbunden, er studierte bei ihm Komposition und Dirigieren, bevor er als Autodidakt seine große Gesangskarriere begann.
Der Vollständigkeit halber muss noch die Kantate Deutsche Auferstehung erwähnt werden. Schmidt komponierte diese Führer-Verherrlichung im Auftrag der nationalsozialistisch gesonnenen Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, konnte sie aber nicht mehr vollenden. Robert Wagner, ein Kenner seines Schaffens, stellte sie nach dem Particell fertig, die Uraufführung fand 1940 statt, ein gutes Jahr nach Schmidts Tod. Seinem Ansehen schadete das „Festlied“ posthum, er galt nach 1945 als Mitläufer. Heute jedoch ist es umstritten, ob Schmidt das Regime mit dem Stück tatsächlich hofieren wollte oder wie seine Haltung tatsächlich war. Was für ihn spricht: statt Deutsche Auferstehung abzuschließen komponierte der bereits Sterbenskranke zwei Konzertstücke für den jüdischen Pianisten Paul Wittgenstein.
[Karin Coper, Dezember 2024]