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Maximale Vitalität in den Sphären der Transzendenz

Die italienische Meisterpianistin Ottavia Maria Maceratini gab am 26. Juni im von Säulen durchzogenen Gewölbesaal der Mohr-Villa in München-Freimann ein Solo-Recital mit Ludwig van Beethovens ‚Mondschein’-Sonate, den jeweils ersten beiden Balladen von Johannes Brahms und Frédéric Chopin, der Sonatine von Maurice Ravel und der großen Phantasie ‚Guerrero Andino’ von Juan José Chuquisengo, die sie in diesem Jahr in der Zürcher Tonhalle uraufgeführt hatte.

Was für ein Ereignis! Ich bin kein Freund von Schwärmereien, doch hier fällt es mir schwer, einen nüchternen Tonfall anzuschlagen. Ottavia Maria Maceratini, die aus den Marche stammende, bei Lorenzo di Bella, Elisso Virsaladze und Christoph Schlüren ausgebildete Pianistin, soeben 30 Jahre alt geworden, hat zum wiederholten Male in München gespielt, nachdem sie als Solistin mit dem Deutschen Symphonieorchester in der Berliner Philharmonie und bei ihrem Debüt in der Zürcher Tonhalle bemerkenswerte Erfolge feiern konnte. Ich kannte bislang ihre beiden vorzüglichen, bei Aldilà Records erschienenen Solo-CDs, und so bedurfte es keinen großen Zuredens besser informierter Freunde, um sie mir endlich einmal live anzuhören.

Ich möchte es angemessen direkt angehen: Hier tritt eine der beeindruckendsten Musiker-Erscheinungen der jungen Generation vor uns, mit einer spürbaren, respektgebietenden Reife und Selbstbewusstheit, und vollkommen jenseits virtuosen und philosophierendes Beeindrucken-Wollens. Dieser jungen Künstlerin geht es überhaupt nicht um eine Karriere, sie schert sich nicht um das, was fast alle wollen, und sie versucht gar nicht erst, angepasst zu gefallen. Das Adagio von Beethovens Mondschein-Sonate ist in seiner durchlässigen Introspektion ein sehr heikler Einstieg, und sie ließ es so langsam angehen, dass der Kosmos geradezu herausgefordert wurde, mit Mut und Unerschrockenheit, und dabei mit einer sensitiven Gegenwärtigkeit, die Ehrfurcht einflößen kann. Das Finale dann hat das Publikum in ungeheurer Weise aufgeschreckt und erschüttert: was für eine Dichte, geballt dunkle Energie, gebündelte Wildheit. Sie spielt mit einer unglaublichen Kraft aus dem ganzen Körper, aus der Hüfte scheinen alle Klänge direkt übertragen, und egal wie wuchtig es klingt, ist es doch nie gefühllos geschlagen, der Klang wird nicht hart, sondern machtvoll kernig. Danach die beiden Brahms-Balladen, von wunderbarer Wärme und Empfindsamkeit, dabei herrlich klar strukturiert, so ganz organisch zusammenhängend verstanden, und mit einem ‚siebten Sinn’ für die hier so wichtigen tiefen Register. Ganz menschlich durchfühlt, und doch auf Transzendenz gerichtet. Chopin entfaltete eine überwältigende Kraft, vor allem in der g-moll-Ballade, die fast wie aus einem Guss entstand. Das Wunder ist, wie es zugleich aufs feinstrukturell Präziseste erarbeitet ist und doch mitreißend spontan wirkt. Und Ottavia Maria Maceratini ist das Gegenteil von einem Oberstimmen-Häschen! Sie hat stets den ganzen Umfang, die ganze Bandbreite des Tonsatzes im Blick, und selbst die Begleitfiguren sprühen vor Leben und – Wesentlichkeit!

Nicht weniger gelang die Zauberwelt Maurice Ravels, wobei man sich besonders hier eine besseren Flügel gewünscht hätte als das recht bescheidene Hohner-Modell, das kaum ein leises Spektrum zulässt, zumal in einer so halligen Akustik. Aber es sind ja auch die besonderen Herausforderungen, in denen sich wahre Qualität erweisen muss, und zweifellos hat sie eigentlich mehr daraus gemacht als „das Beste“ – sie hat uns völlig vergessen lassen, wie unzulänglich die zur Verfügung stehende Materie war. Dies gilt auch für den gut 20minütigen ‚Guerrero Andino’, den ‚Andenkrieger’ von Juan José Chuquisengo, der sich anschickt, nicht nur der substanziellste Komponist seiner peruanischen Heimat zu sein, sondern der lateinamerikanischen Musik eine neue kompositorische Klasse erschließt, die hoffentlich noch viele Früchte tragen wird. Ohne den geringsten Zweifel dürfen wir annehmen, dass dieses Stück bald ein Klassiker unserer Zeit sein wird. Und die Hypervirtuosität des Klaviersatzes ist in diesem Fall nicht abschreckend, sondern in völliger Übereinstimmung mit dem inneren Reichtum des Komponisten und dem weiten Spektrum instrumentalen Ausdrucks, der einfach notwendig ist, um diesen Reichtum einzufangen. Als Zugaben folgten danach noch Chopins Nocturne Opus 48. Nr. 2 in fis-Moll und Schumanns Arabeske, ein bisschen sehr geschwind, aber faszinierend organisch erarbeitet. Glücklich, wer hier dabei sein konnte. Und wir beobachten mit großer Spannung, wohin sich Ottavia Maria Maceratini noch bewegen und entwickeln wird. Schon jetzt ist sie ein leuchtendes Beispiel für junge Musiker, die Orientierung suchen in einer Klassikwelt, die immer mehr zum Business der Stars und Exoten degeneriert ist. Sie ist auf einem Weg, der Musik als spirituelle Erfahrung möglich macht, ohne dass dies irgendwie den Lustfaktor beeinträchtigen würde – tatsächlich ein Wunder: maximale Vitalität mitzunehmen in die Sphären der Transzendenz.

[Ernst Richter, Juni 2016]