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Ein Panorama georgischer und russischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts

Thorofon, CTH2677, EAN: 4 003913 126771

Der junge georgische Pianist Misho Kandashvili präsentiert auf seinem Debütalbum ein buntes Spektrum an georgischer und russischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts. Neben bekannten Namen wie Kantscheli, Prokofjew oder (frühem) Schnittke gibt es hier etliche auf CD nur spärlich vertretene Komponisten zu entdecken.

Für seine (bereits im letzten Jahr erschienene) Debüt-CD beim Label Thorofon hat der georgische Pianist Misho Kandashvili, 1993 in Tiflis geboren, ein recht vielfältiges Programm von Werken georgischer und russischer Komponisten zusammengestellt. Dabei dürfte gerade der georgische Teil des Albums für viele Musikfreunde unserer Gefilde einen anregenden Einblick in die Musikszene eines bislang womöglich eher weniger beachteten Landes bieten, während der russische Teil die bekannteren Namen und am Ende mit Prokofjews Klaviersonate Nr. 3 ein genuines Repertoirestück aufbietet.

Es lohnt sich, zu Beginn wenigstens einen kurzen Blick auf die Geschichte der georgischen klassischen Musik zu werfen. Die Entwicklungen, die man im Russland des 19. Jahrhunderts mit Glinka, der Gruppe der Fünf, Tschaikowski und vielen mehr verzeichnen kann, setzte in der Peripherie des Russischen Reichs, den späteren Sowjetrepubliken, einige Jahrzehnte, im Falle Zentralasiens sogar eher ein Jahrhundert später in durchaus vergleichbarer Form ein. In Georgien etwa gab es eine erste Generation von Komponisten, geboren ab den 1860er Jahren (wie Meliton Balantschiwadse, Sakaria Paliaschwili, Dmitri Arakischwili oder Viktor Dolidse), die in erster Linie Vokalmusik schufen, besonders prominent natürlich (National-) Opern. Ungefähr mit der Gründung der Sowjetunion und der allmählichen Etablierung von Institutionen wie Konservatorien oder Orchestern kam eine zweite Generation ins Spiel, die nun auch verstärkt Instrumentalmusik schuf. So war es etwa Andria Balantschiwadse (der Sohn des oben erwähnten Meliton Balantschiwadse und Bruder des Choreographen Georges Balanchine), der das erste georgische Ballett komponierte, und seine Sinfonie Nr. 1 aus dem Jahre 1944 wurde allgemein als Meilenstein der georgischen Sinfonik betrachtet. Man beachte insbesondere: die Geschichte der georgischen Sinfonik beginnt also faktisch erst in den 1940er Jahren! So jung ist diese Musikszene (jedenfalls, was klassische Musik westlicher Prägung anbelangt), und gleichzeitig ist es beeindruckend zu sehen, wie rasch sich in der Folge eine Musikkultur von mehr als beachtlichem Niveau entwickelte (um beim Beispiel der Sinfonik zu bleiben, kommen dann noch in den 1940ern Namen wie Schalwa Mschwelidse, Aleksi Matschawariani oder Otar Taktakischwili hinzu, nur wenig später auch Sulchan Zinzadse oder Sulchan Nassidse). Auch dies sind Aspekte sowjetischer Musikgeschichte, die freilich häufig unbeachtet bleiben. Insofern kann man Kandashvilis Album auch als einen Überblick, eine Sammlung von Kostproben vom Schaffen dieser Komponisten begreifen.

Am Beginn der CD stehen acht der zwölf Romantischen Stücke des bereits erwähnten Andria Balantschiwadse (1906–1992). Dabei handelt es sich um einen Zyklus aus dem Jahre 1972, was insofern von Bedeutung ist, als dass man Balantschiwadse hier zu einer Zeit erlebt, zu der er sich intensiver mit moderneren Tendenzen befasste als in früheren Jahren (wenigstens tendenziell schrieben die meisten sowjetischen Komponisten – natürlich insbesondere politisch bedingt – im Spätstalinismus ihre traditionellsten Werke, spätestens ab den 1960er Jahren werden dann in unterschiedlichem Maße modernere Einflüsse rezipiert). Balantschiwadse bewegt sich dabei in eher gemäßigten Bahnen, Atonalität spielt keine Rolle, wohl aber Bi- und Polytonalität, und ganz generell ist der Titel leicht irreführend, denn so romantisch wirken diese eher etwas herben Miniaturen eigentlich nicht. In der Tat, denkt man dabei an einen warmen, vollen Klaviersatz, wird man von der eher kargen Zweistimmigkeit (und den gelegentlichen Sekundreibungen) von Nr. 2 und Nr. 4 überrascht werden, die Freude in Nr. 7 ist ebenfalls keine überschäumende, und auch dann, wenn sich Nr. 10 als eine Art folkloristisch kolorierte Aria in Es-Dur darstellt, ähnlich wie sie Otar Taktakischwili meisterhaft zu komponieren wusste, sorgt Balantschiwadse mit allerlei herberen Einsprengseln für eine gewisse Distanz. Überhaupt könnte man davon sprechen, dass die romantischen Topoi, die die Titel der Stücke zweifelsohne suggerieren, eben aus der Distanz betrachtet, ein wenig verfremdet werden. Einen Bogen schlagen dabei die an Prokofjew gemahnenden Grüße (Nr. 1), die am Ende des letzten Stücks zitiert werden. Ein nicht immer unbedingt eingängiger und teilweise auch etwas spröder, aber insgesamt nicht uninteressanter Zyklus.

Deutlich früher, nämlich bereits 1951, entstand das Poem von Balantschiwadses Schüler Otar Taktakischwili (1924–1989). Taktakischwili konnte bereits als junger Mann mit seinen Kompositionen reüssieren; dass er mit seinem Beitrag den Wettbewerb für die Hymne der Georgischen SSR gewann, war offenbar für ihn selbst zunächst eine Überraschung, aber gegen Ende der 1940er Jahre trat er mit einer Reihe größerer Werke hervor, die durch ihre ungemein einprägsame Melodik, effektvolle Dramatik, farbenreiche Orchestrierung und große Geste bestechen – dabei stets deutlich an der georgischen Folklore orientiert – und entsprechende Resonanz fanden. Sein Klavierkonzert Nr. 1 etwa ist ein echter Reißer, eigentlich wohl eines der publikumswirksamsten Klavierkonzerte jener Zeit, wenn es denn nur einmal aufgeführt würde. Später wandte sich Taktakischwili, der u. a. auch Generalsekretär des georgischen Komponistenverbands und langjähriger Kulturminister der Georgischen SSR war, verstärkt, aber nicht ausschließlich Vokalmusik zu, etwa in Form von Opern oder national getönten Oratorien; zu seinen inspiriertesten Instrumentalwerken jener Zeit zählen das Violinkonzert Nr. 1 f-moll von 1976 oder das Mitte der 1980er komponierte Streichquartett. Moderne Tendenzen spielen in Taktakischwilis Schaffen auch in späteren Jahren eine eher untergeordnete Rolle, auch wenn es sicherlich einen Unterschied gemacht hätte, wenn sich Kandashvili beispielsweise für die Klaviersuite Imitation georgischer Volksinstrumente (1973) entschieden hätte. Das kurze Poem, das auch unter dem Titel Elegie durchgehen könnte, ist ein eher kleineres Werk, wobei das lyrische, melismatisch geprägte Melos dieses Stücks die charakteristische Handschrift seines Schöpfers deutlich verrät.

Besonders als Komponistin von Musik für Kinder hervorgetreten ist die gleichaltrige Meri Dawitaschwili (1924–2014), ebenfalls Schülerin Balantschiwadses. Ihr Chorumi (ein georgischer Kriegstanz) aus dem Jahre 1949 (oder bereits 1945?) ist ein kurzes, rhythmisch pointiertes, sehr effektvolles Konzertstück im 5/8-Takt, das nicht nur in der Wahl der Tonart (es-moll) einen gewissen Einfluss von Chatschaturjans Toccata verrät (man beachte etwa die markante Akkordik des Beginns). Der bei weitem bekannteste georgische Komponist dieser Zusammenstellung ist Gija Kantscheli (1935–2019), der hier mit vier Stücken aus seiner Simple Music, einer Sammlung von 33 Miniaturen nach (eigenen) Filmmusiken, vertreten ist, kurze Skizzen, Petitessen, von leichter Hand gezeichnet, betont schlicht gehalten und mit einer gewissen Nähe zur Salonmusik gekonnt spielend.

Wascha Asaraschwili (* 1936) schließlich, einmal mehr ein Schüler Balantschiwadses, hat neben einem expressiven, durchaus national getönten Neoklassizismus (repräsentiert z. B. durch sein Cellokonzert Nr. 1, für das sich in jüngerer Zeit Maximilian Hornung eingesetzt hat) auch eine Vielzahl von Werken geschaffen, die eher in Richtung Unterhaltungsmusik gehen, u. a. zahlreiche Lieder. In diesen Kontext gehört auch sein Nocturne aus dem Jahr 1986, das zudem in einer Version für Orchester vorliegt, eine Art Arie zunächst in G-Dur, später dann nach E- und schließlich – emphatisch gesteigert, am Ende Harfenklänge suggerierend – C-Dur wechselnd; ein Stück, das man sich auch sehr gut als Filmmusik vorstellen könnte. Im Unterschied zu Kantscheli spielt Asaraschwili weniger mit entsprechenden Vorlagen, sondern adaptiert sie. Für mich bleibt hier ein leicht zwiespältiger Eindruck, weil sich die Musik doch arg direkt an Paradigmen westlicher Unterhaltungsmusik orientiert (wobei Asaraschwili damit kein Einzelfall ist, man denke etwa an Andrei Eschpais leichtere Ader).

So interessant ein georgisches Programm per se ist, ist die Idee, ihm einen russischen Part gegenüberzustellen, grundsätzlich berechtigt, allein schon deshalb, weil die russische Musik natürlich – wie in nahezu allen ehemaligen Sowjetrepubliken – bei der Entwicklung der georgischen klassischen Musik eine wichtige Rolle gespielt hat. Man darf sich die zweite Programmhälfte allerdings weniger als Spiegelbild der ersten vorstellen, denn bereits angesichts des obigen kurzen historischen Abrisses ist ziemlich klar, dass es keinen georgischen Prokofjew oder georgischen Mossolow gegeben haben kann. Insofern darf die Wahl der russischen Beiträge auf dieser CD wohl insbesondere als Zusammenstellung von Werken gelten, die Kandashvili selbst wichtig sind.

Alexander Mossolow (1900–1973) gehört zweifelsohne zu den Komponisten, deren Schaffen durch die politischen Rahmenbedingungen der Sowjetunion am stärksten und am nachhaltigsten beeinflusst wurde, sodass man in seinem Fall ganz deutlich von zwei sehr unterschiedlichen Schaffensperioden sprechen kann: auf der einen Seite das radikale, expressionistische, avantgardistische Frühwerk, auf der anderen die Zeit nach dem Gulag (1937/38), die zu großen Teilen einen völlig veränderten Komponisten zeigt. Mossolows Klaviersonate Nr. 4 op. 11 (1925) gehört zu seinem frühen Schaffen, ein Einsätzer, dessen tritonusgesättigte Harmonik, voller Klaviersatz (manchmal Glockenklänge beschwörend) und dunkel-fatalistisch getönte Ausdruckssphären weniger an Prokofjew erinnern, dessen Musik Mossolow grundsätzlich wesentlich beeinflusst hat, sondern entschieden an den späten Skrjabin anknüpfen.

Bei den hier eingespielten Drei Präludien von Alfred Schnittke (1934–1998) handelt es sich um Juvenilia aus den Jahren 1953/54, präziser um die ersten drei Stücke einer Sammlung, die bei Toccata Classics als Sechs Präludien auf CD veröffentlicht worden bzw. unter dem Titel Fünf Präludien und Fuge im Druck erschienen ist. Man darf bei diesen (hübschen) Stücken nicht an den reifen Schnittke denken; vielmehr vollzieht der junge Komponist hier Muster aus der Klaviermusik des 19. Jahrhunderts nach bis hin zu Einflüssen von Nikolai Mjaskowski (sehr deutlich im zweiten Präludium), bei dessen Schüler Jewgeni Golubew (1910–1988) Schnittke seinerzeit im Übrigen selbst am Moskauer Konservatorium studierte. Am Ende des Programms steht Sergei Prokofjews (1891–1953) kompakte, energisch-brillante Klaviersonate Nr. 3 a-moll op. 28, wiederum ein Einsätzer also, den Prokofjew 1917 „nach alten Skizzen“ (aus dem Jahr 1907) verfasste.

Misho Kandashvili präsentiert sich auf dieser CD als technisch beschlagener, umsichtig und kontrolliert musizierender Pianist. Seine Interpretationen muten in der Tendenz eher sachlich-ausgeglichen als (emotional) zugespitzt an. So wirkt Balantschiwadses eigene Interpretation seiner Romantischen Stücke eine Spur wärmer, aber andererseits lässt Kandashvili z. B. den Glückseligen Abend in Nr. 6 sehr schön, die ruhigen, wohlig-entspannten Linien dieser Musik vorzüglich nachvollziehend zur Entfaltung kommen, überzeugt er in der Erleuchtung von Nr. 10 durch differenzierte Anschlagskultur. Voll in seinem Element ist er in Kantschelis Miniaturen, Taktakischwilis Poem könnte vielleicht etwas mehr Emphase und Dawitaschwilis Chorumi etwas mehr Ekstase vertragen, wobei er das treibende rhythmische Element im Chorumi klar herausarbeitet und seine Interpretation nie rabiat oder über Gebühr forciert wirkt.

Insgesamt überzeugend und im Vergleich zu den anderen Stücken eigentlich fast überraschend massiv, wuchtig auch die Interpretation von Mossolows Sonate Nr. 4, deren bedrohliche, düster-vergrübelte Atmosphärik Kandashvili gekonnt zu realisieren weiß. Tatsächlich ist es vor allem Prokofjews Dritte Sonate, die etwas schwächer gerät, nicht nur angesichts der natürlich extrem dichten diskographischen Konkurrenz. Die fulminante Verve etwa von Gilels’ Live-Mitschnitten geht Kandashvilis – gewiss solider – Lesart ab, aber auch generell wären hier intensiver nachvollzogene musikalische Linien (speziell in den zurückgenommeneren Abschnitten), präziser herausarbeitete Kontraste und stärkere Differenzierung möglich (nur als Beispiel beachte man etwa die kurzen Quasi-tromba-Einwürfe in der Coda, die bei Kandashvili zu kurz kommen). Etwas schade ist, dass sich das Beiheft im Wesentlichen mit Kurzbiographien der hier präsentierten Komponisten begnügt.

Am Ende steht ein gelungenes Debütalbum zu Buche, auf dem sich Kandashvili als junger Pianist von beachtlichem technischen und musikalischen Niveau vorstellt und – ganz besonders hervorzuheben – ein Programm vorstellt, das dem interessierten Hörer eine ganze Reihe von Anregungen bietet, sich intensiver mit der Musik Georgiens auseinanderzusetzen.

[Holger Sambale, Juni 2023]