Cpo 777 875-2; EAN: 761203787524
Manche Familien sind über Generationen hinweg der Musik verbunden. Die Familie Jurowski ist so eine Familie: Opa Vladimir – Komponist, Sohn Michail – Dirigent, Enkel Vladimir – ebenfalls Dirigent (wurde kürzlich unter etwas merkwürdigen Umständen zum Chef des RSO Berlin erklärt). Schön ist es, wenn sich die Generationen quasi die Hand reichen, so, wie auf diesem neuen Album des Labels cpo.
Michail Jurowski dirigiert hier zwei sehr reizvolle Werke seines Vaters Vladimir Jurowski. Jener war bei niemand Geringerem als Nikolai Mjaskowski in die Lehre gegangen, der bekanntlich zu den zwar noch immer vernachlässigten, nichtsdestotrotz aber bedeutenden Sinfonikern Russlands im 20. Jahrhundert zählte. Mjaskowski (der selbst bei Glière, Liadow und Rimsky-Korsakow studierte) hat einige der wichtigsten Komponisten der UdSSR ausgebildet, darunter u.a. Aram Chatchaturjan, Dmitri Kabalewski und Boris Tschaikowsky. Wer in Mjaskowskis Kompositionsklasse ging, der hatte auf jeden Fall Chancen auf eine Karriere in Sowjetrussland.
Vladimir Jurowski hingegen verstarb früh, und sein Œuvre geriet vielleicht auch deswegen in Vergessenheit. Zugegebenermaßen ist die auf diesem Album zu hörende fünfte Sinfonie und die Kollektion „sinfonischer Bilder“ die den neugierig machenden Titel „Russische Maler“ trägt, auch kompositorisch nicht dasselbe Niveau wie man es bei den prominenteren Schülern Mjaskowskis finden kann. Auch das ausführende Norrköping Symphony Orchestra lässt in fast allen Orchestergruppen durchscheinen, dass es nicht zur Elite der nordeuropäischen Sinfonieorchester gezählt werden kann, wenngleich es sich sehr erfolgreich bemüht, seine allerdings allzu offensichtlichen Schwächen vergessen zu machen.
Trotz dieser Einschränkungen möchte ich diese CD mit russischer Sinfonik jedem wärmstens ans Herz legen, der sich für tonale russische und nordeuropäische Orchestermusik des 20. Jahrhunderts begeistern kann. Warum? Weil diese Platte einfach Laune macht!
Diese CD ist schlicht und ergreifend eine große Spaßmaschine: Diese einfach klasse klingende Musik, die sofort ins Ohr geht, riesig besetzt und sehr effektvoll in Szene gesetzt, diese Anklänge an die Musik von Jurowskis Zeitgenossen, die eine Vergleichbarkeit mit Werken etwa Kurt Atterbergs, Gavriil Popovs oder in Teilen auch Dmitri Schoastakowitschs durchaus erlauben. Das ist einfach so unterhaltsam, dass man dran bleibt, und es verliert auch nach einigen Durchläufen keinen Reiz – was wiederum durchaus für die Kompositionen spricht.
Die fünfte Sinfonie ist riesig besetzt, inklusive einer megalomanisch eingesetzten Kirchenorgel im – am wenigsten überzeugenden – letzten Satz. Am meisten begeistert mich der erste Satz mit seiner sinistren Hintergründigkeit, seinem effektvollen Dynamikspektrum, den schlau eingesetzten Bläserpartien, den nachtglänzenden Streichern und dem „schostakowitschesken“ Schluss. Das hat man zu Jurowskis Zeit in den USA auch nicht besser oder effektvoller gemacht.
Leider fallen die beiden anderen Sätze der Sinfonie im Vergleich zum ersten etwas ab, was die Jurowski-Fünfte im Endeffekt daran hindert, zu den wirklich großen Werken ihrer Zeit gezählt werden zu können.
Die „Russischen Maler“ sind im Vergleich zur Sinfonie geradezu brav, was wohl auch die Bilder gewesen sein mögen, die der Komposition zum Vorbild dienten – zumindest legen deren Titel das nahe. Bilder, die Titel tragen wie „Iwan Tsarewitsch reitet den Grauen Wolf“, „Winterszene“ oder „Porträt einer unbekannten Frau“ klingen dann eben musikalisch entsprechend.
Ein Fazit für diese CD zu ziehen ist also alles andere als einfach: Einerseits haben objektiv betrachtet weder die Werke noch die Interpreten eine unumwundene Empfehlung verdient, andererseits macht dieses Album einfach so viel subjektiven Spaß, dass ich es immer wieder in den CD-Player schiebe und mich daran erfreue. Wer also den Kopf ausschalten kann, bekommt hier Musik für Bauch und Seele mit viel russischem Flair und einer 1A-Spaßgarantie.
[Grete Catus, November 2015]