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Die Oscars zeitgenössischer Musik

Am 3. Mai werden die alljährlichen Musik- und Förderpreise der Ernst von Siemens Musikstiftung im Herkulessaal München verliehen. Die Förderpreise gehen dieses Jahr an Clara Iannotta, Oriol Saladrigues und Timothy McCormack, den Hauptpreis erhält Beat Furrer. Jeder der Komponisten bekommt einen Portraitfilm von Johannes List, Furrer zudem eine Laudatio von Thomas Macho. Das Klangforum Wien spielt unter Leitung des Hauptpreisträgers Werke aller vier.

Der Ernst von Siemens Musikpreis ist die bedeutendste Auszeichnung für zeitgenössische Komponisten und Musiker, die sich neuer Klangkunst verschrieben haben. Die Verleihung ist jedes Jahr ein wahrer Festakt und Höhepunkt für die Ernst von Siemens Musikstiftung, die jährlich über 100 Projekte fördert.

Die drei Förderpreise gehen an junge, aufstrebende Komponisten, denen es ermöglicht werden soll, sich eine Zeit lang ohne Geldsorgen ihrer schöpferischen Arbeit zu widmen. Den ersten der auf 35.000 Euro dotierten Komponistenpreise verdient sich die aus Italien stammende Komponistin Clara Iannotta: Ihr Werk „troglodyte angels clank by“ von 2015 macht großen Eindruck. Es ist konzipiert für 13 verstärkte Instrumente und Objekte. Langsam schält sich der Klang aus anfänglichem Raspeln und Knattern, bis hohe Frequenzen die Überhand gewinnen und beinahe tinnitushaft im Ohr verankert bleiben. Iannottas Musik ist nicht zum Hören gedacht, sondern zum Erleben; und eben dies geschieht, wenn die verstärkten Frequenzen kontinuierlich aneinanderreiben, wobei sie ganz eigenartige Gefühle und Stimmungen wachrufen. Oriol Saladrigues geht naturwissenschaftlich an die Musik heran, weiß um die unumgängliche Imperfektion eines jeden künstlerischen Schaffens und kalkuliert diese genau mit ein. Ihn beschäftigt das gängige Topos, Zeit und Raum zu verbinden, zu verschieben und neuartig darzustellen, was auch sein heute uraufgeführtes Werk „tempo sospeso“ prägt. Ein Schmunzeln geht durch das Prinzregententheater, als der Portraitfilm von Timothy McCormack gezeigt wird, der ihn als sympathischen und offenen Klangforscher darstellt, der von einem Hornisten die abstrusesten Effekte abverlangt. Weder Töne, noch Rhythmen gäbe es in seiner Musik, sprach der Komponist, Klänge entstehen für ihn durch Kräfte, die gebündelt und geleitet werden, und nicht durch gezielten Einsatz von Instrumenten.

Saladrigues und McCormack bleiben mir musikalisch nur wenig präsent, ihr Eindruck verwischt schnell; Iannotta ist es, die mich fesselt und deren eigenartige Tonwelt mich gefangen hält. Es lässt sich schwer sagen, ob die Durchdringung und Wucht ihrer Aussage auch in Übertragungen oder Aufnahmen wirksam sind, doch live ergreift sie die Aufmerksamkeit und besticht in jeder Sekunde.

1992 wurde Beat Furrer ebenfalls mit dem Förderpreis ausgezeichnet, nun kehrt er als Hauptpreisträger zurück. Er entschied sich dazu, seine „Canti della tenebra“ nach Gedichten von Dino Campana für Mezzosopran und Ensemble aufzuführen, womit die Wahl auf ein echtes „Münchner“ Werk fiel, das am 7. Februar 2014 in der Muffathalle das Licht der Welt erblickte. Damals schon begeisterte mich der starke Bezug zwischen Text und Musik, die Verbindung zwischen dem italienischen Futuristen, der seine letzten Jahre in Irrenanstalten verbrachte, und der Klangwelt des österreichisch-schweizerischen Komponisten der Gegenwart. Auch wenn die fünf Lieder ursprünglich für Gesang und Klavier konzipiert waren, schreien sie doch nach größerer Besetzung: Mit dem großen Ensemble klingen sie beinahe symphonisch. Beat Furrer hat kein Verlangen danach, modern oder futuristisch zu sein, er bleibt er selbst und kreuzt seine verschiedenen Einflüsse zu einer persönlichen Musik, die einzigartig und unverkennbar ist. Hautnah erleben wir den Aufbau und die Gestaltung von Motiven, die sich durch die einzelnen Lieder ziehen und immer wieder auftauchen – der Komponist bezieht den Hörer mit ein. Musik und Text verschmelzen zu einer Einheit, Tanja Ariane Baumgartner fügt sich in das Geflecht der Instrumentalstimmen ein, ohne dass eine der Seiten überwiegen würde. Die Maßstäbe für den diesjährigen Komponisten-Hauptpreis lagen hoch, ist schließlich der letzte Preisträger Per Nørgård einer der bedeutendsten und überragenden Symphoniker unserer Zeit: Doch dürfte Beat Furrer eine gute Wahl und ein würdiger Nachfolger sein.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

Nørgård erhält den Ernst von Siemens Musikpreis

Im Rahmen der Preisverleihung des Ernst von Siemens Musikpreises an Per Nørgård sowie der drei obligatorischen Komponisten-Förderpreise spielt das ensemble recherche die Uraufführung von Hladan ti dah do grla von Milica Djordjević, Intersections von David Hudry und Sachlicher Bericht aus Arien / Zitronen, ebenso eine Uraufführung, von Gordon Kampe. Aus dem Œuvre des Hauptpreisträgers Per Nørgård erklingen Scintillation für sieben Instrumente (1993) und Seadrift für Sopran und Ensemble (1977-78). Für die erkrankte Sarah Maria Sun übernimmt Johanna Zimmer kurzfristig den Sopran-Part, Truike van der Poel „singt“ die Mezzosopran-Partie im Werk von Djordjević.

Endlich ist es soweit und ein Skandinavier erhält den Ernst von Siemens Musikpreis für Komponisten! Es ist der Däne Per Nørgård, der nun diese hoch dotierte und international gewichtige Auszeichnung in Händen hält. Und dies mehr als gerechtfertigt, sein kompositorisches Schaffen ist von stets überraschender Originalität, von höchster handwerklicher Vollendung bis in die dichteste Polyphonie, und wirkt dennoch absolut natürlich, frei und frisch. Rhythmisch besticht es durch nicht an die symmetrische Taktschreibweise angepasste Gliederung, die viel eher von natürlichem Sprachgebrauch und dem menschlichen Interagieren allgemein beeinflusst ist, melodisch entdeckte Nørgård schon in den sechziger Jahren die sogenannte Unendlichkeitsreihe, die sich ebenso von den klassischen Perioden zu lösen vermag und eigene Wege beschreitet, die jedoch immer in gewisser Weise nachvollziehbar bleiben. Die Musik von Nørgård sagt im Kern etwas aus, jedes Werk ist eine vollkommen neue Welt, in höchster Kunstfertigkeit und wie er selbst sagt, immer gewagt und „strange“, doch stets auch für die menschliche Wahrnehmung unmittelbar auffassbar und wirksam.

Nach der Begrüßung durch Michael Krüger – Vorsitzender des Stiftungsrats der Ernst von Siemens Musikstiftung und Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste – beginnt der Abend mit der Uraufführung von Milica Djordjevićs „Hladan ti dah do grla“, auf Deutsch „Verflucht dein Atem bis zum Schlund“, für Mezzosopran und Ensemble. Ihre Musik solle den Menschen bis in sein Innerstes erschüttern und keinen Hörer kalt lassen, heißt es im sehr gelungenen Portraitfilm über die Komponistin (alle vier Portraitfilme sind von Johannes List ausgezeichnet gedreht und produziert). Doch berühren kann mich ihr dargebotenes Werk kein bisschen, es lässt mich absolut unbeteiligt. Die Streicher kratzen und quietschen, der Schlagzeuger drischt wüst auf alle möglichen Trommeln ein und kratzt mit aufgesetzten Nägeln über Blech, die Bassklarinette spielt total unzusammenhängendes Ton-Chaos. Solch eine Musik kann heute gar nicht mehr erschüttern – vielleicht hätte sie es vor sechzig Jahren einmal gekonnt, aber selbst das würde ich bezweifeln, mehr als einen kurzen Schock hätte sie nicht ausgelöst. Man hat sich schlicht sattgehört an solch einer Musik, die im Grunde gewöhnlich unangenehm ist wie das quietschende Einfahren einer U-Bahn, und es macht auch klanglich wenig Unterschied. Alles verliert sich in Strukturlosigkeit, skurrilem Klang- und Geräuschgewirre ohne jeglichen Sinn und einer dumpfen Statik, die jede Art der Entwicklung im Vorhinein ausschließt.

Intersections heißt das zweite Werk des Abends, von David Hudry, komponiert 2014. Die Grundidee dahinter besteht in der ständig wechselnden Beleuchtung einer vorgegebenen Figur, wodurch immer neue Perspektiven eröffnet werden. Unvermeidlich erhält Intersections durch dieses Prinzip eine gewisse Starrheit und technokratische Aura mit dem kontinuierlich bestehen bleibenden Grundgedanken. Doch hat es einen gewaltigen Reiz, all die Neuschattierungen und changierenden Kontexte auszukundschaften, die mit einfallsreich reflektierten Klängen magische Momente erzeugen.

Interesse erregt der Titel der dritten Komposition: „Sachlicher Bericht“ und dann noch aus einer Sammlung namens „Arien / Zitronen“. Und tatsächlich erlebt das Publikum hier eine sehr erfreuliche Überraschung. Gordon Kampe hat eine wahrhaft eigene Aussage in diesem Werk für Sopran und Ensemble. Die Tonsprache tanzt durch ihre Individualität aus der Reihe der viel zu oft gleichförmig-nichtssagenden Werke der postmodernen Avantgarde, bietet höchst spannende Augenblicke und birgt sogar eine gewisse sinnlich unmittelbar sich vermittelnde Struktur. Gewiss, teils mag der musikalische Sinn der Gesamtkonstruktion noch etwas wackeln und der Kontext verlorengehen, doch bin ich der festen Überzeugung, dass Gordon Kampe den heutigen Förderpreis wirklich nutzen kann, um an seinem Stil zu schleifen und seine vielseitig eigene Tonsprache reifen zu lassen.

Nach der Pause folgt der Hauptteil der Veranstaltung, die Verleihung des begehrten Ernst von Siemens Musikpreises an den dänischen Meister Per Nørgård. Anders Beyer, Intendant des Bergen International Festival, ist extra aus Norwegen angereist, um die kompakte, geistreiche Laudatio zu halten, und Michael Krüger überreicht die Urkunde an den Komponisten. Umrahmt wird der Festakt durch die Darbietung zweier Werke aus den 90er- beziehungsweise 70er-Jahren. Zunächst Scintillation für sieben Instrumente, ein dicht polyphon gewobenes Werk von unverkennbarer Eigenständigkeit, einer vom ersten bis zum letzten Ton anhaltenden Spannung mit herrlich unorthodox formulierter melodischer Kontinuität. Beendet wird der Abend durch die Walt Whitman-Vertonung Seadrift, ein mehrteiliges Werk für Sopran und Ensemble, was einen Umbruch in der Musik von Nørgård darstellt, noch vor seiner vielzitierten „Wölfli-Ära“. Dieses in jeder Hinsicht vollendete Werk dürfte wohl jeden im Saal angesprochen haben durch seine unbestechliche Natürlichkeit, den klaren Sprachfluss, die phänomenale Instrumentation inklusive verstärkter Gitarre und ungewöhnlichem Schlagwerk wie kleinen, zarten Glöckchen. Was für eine Rhythmik, die absolut von innen heraus gefühlt ist, vollkommen ungekünstelt wirkt und doch gegen alle Gewohnheiten aufbegehrt! Solch eine rundum überzeugende Musik der Gegenwart (und dies auch noch so vollkommen unprätentiös!) ist eine absolute Rarität und hat es noch nie in den Kanon der auf dem Kontinent des Öfteren gespielten zeitgenössischen Musik geschafft – warum, lässt sich schwer sagen, vielleicht mag es an den eigenen Aussagen der Musik liegen, an ihrer so ungewohnten und doch organisch zusammenhängend entstehenden Klangvielfalt, die ganz im Gegenteil zum Gros der heutigen Avantgarde tatsächlich noch fortschrittlich modern und komplett eigenständig ist – und somit für die meisten, selbst für die gestandenen Anhänger zeitgenössischer Musik oft „gewöhnungsbedürftig“.

Die Musiker des ensemble modern sind natürlich erfahren in der Darbietung zeitgenössischer Musik, und trotzdem ist es frappierend, wie scheinbar mühelos sie mit den unmöglichsten Geräusch-Abstraktionen und mit selbst in der verzweigtesten Rhythmik überzeugen. Sogar die qualitativ schwächeren Passagen bei Djordjević spielen sie mit voller Überzeugung, wodurch selbst diesen ein gewisser Reiz abgewonnen werden kann. Truike van der Poel erfüllt in Djordjevićs Werk hauptsächlich eine parlierend-skandierende, oft vulgär aufschreiende Aufgabe, die ihre Stimme nicht in ein attraktives Licht setzen kann, doch dafür bekommt Johanna Zimmer als kurzfristige Einspringerin für Sarah Maria Sun umso mehr die Möglichkeit zu glänzen. Die virtuosen Solostimmen von Kampe und Nørgård musste sie innerhalb von wenigen Tagen vollkommen neu einstudieren. Doch das hört man ihr kein bisschen an, sie singt mit einer Freiheit, Feinheit und innigem Ausdruck, als wären diese Stücke ihr bereits in die Wiege gelegt worden. Sie hat sichtliche Freude vor allem an Nørgårds Seadrift und surft in unvergleichlichem Einklang mit allen Instrumentalisten des Ensembles in hellwach traumwandlerischem Vertrauen auf ihre herrliche Stimme. Zimmer singt klar, hell, verfügt über unüberschaubar viele ausgereifte Nuancen der Tongebung und ein exzellentes Gespür für Dynamik, Artikulation und Vibrato. Auch der Komponist selbst ist sichtlich begeistert von ihrer Leistung und will es sich trotz beängstigender gesundheitlicher Beschwerden – nachdem er sogar bei der Urkundenverleihung sitzen bleiben musste – nicht nehmen lassen, auf die Bühne zu steigen, um die Sängerin zu umarmen – und das zu Recht!

Es ist selten, dass man vollkommen begeistert aus einem Konzert herauskommt und so sehr beeindruckt ist von der kompositorischen Qualität eines Meisters der Gegenwart, dass man über die Musik sagen möchte: „Verweile doch, du bist so schön“. Und es hätte keinen würdigeren Preisträger geben können als Per Nørgård. Wir gratulieren dem Komponisten zu dieser Auszeichnung und hoffen sehr, dass er uns als Mittachtziger noch einige weitere grandiose Werke schenken wird.

[Oliver Fraenzke, Mai 2016]