Jörn Peter Hiekel und Christian Utz (Herausgeber): Lexikon Neue Musik
Bärenreiter; ISBN 978-3-7618-2044-5
Zusammen mit dem Metzler-Verlag legt der Bärenreiter-Verlag in Kassel ein neues ‚Lexikon Neue Musik’ vor, das uns vor allem in Ästhetik- und Sprachregelung jener Kreise einführt, die sich nach wie vor als Avantgarde der Musikentwicklung begreifen. Die Enzyklopädie besticht mit großem Detailreichtum hinsichtlich des Mainstreams der Moderne, wie er sich in Mitteleuropa seit Dodekaphonie und Serialismus präsentiert. Was sich an der von hier aus als solche wahrgenommenen Peripherie abspielte und abspielt, wird nur sehr lückenhaft wiedergegeben und fällt vielfach unter den Tisch. So erstaunt es dann aber doch, dass im Indien-Artikel die bahnbrechenden Neuerungen von John Foulds unerwähnt bleiben (wahrscheinlich hat Bhagwati seinen Namen noch nie gehört), und dass in der Übersicht der nordischen Länder mit dem Isländer Jón Leifs einer der radikalsten Modernisten (zudem der bekannteste Komponist des Landes) keiner Erwähnung für würdig befunden wird. Das ist peinlich und zeigt wieder einmal, wie viel von der Qualifikation der einzelnen Autoren abhängt, und natürlich auch von deren Vorlieben. Es wird an entsprechender Stelle auch ignoriert, dass beispielsweise der Däne Per Nørgård ein entscheidender Vorläufer des Spektralismus war. Der Schwerpunkt liegt eindeutig bei den üblichen Verdächtigen mitteleuropäischer und US-amerikanischer Provenienz, mit einigermaßen hilfreicher Einbeziehung der russischen Avantgarde. Ganz unzureichend ist der Artikel über Pop und Rock, denn dort fehlen alle entscheidenden Schrittmacher des Fortschritts wie King Crimson, Henry Cow, Univers Zero, auch Van der Graaf Generator oder Soft Machine. Klar, die Autorin kennt sich einfach nicht genug aus.
Die umfangreichen Hauptartikel am Anfang des Buches, die dem alphabetischen Teil vorausgehen, beschäftigen sich mit: ‚Die Avantgarde der 1920er Jahre und ihre zentralen Diskussionen (Ulrich Mosch), ‚Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte im 20. und 21. Jahrhundert (Wolfgang Rathert), ‚Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation’ (Christian Utz), ‚Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik’ (Jörn Peter Hiekel), ‚Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung im 20. und 21. Jahrhundert’ (Elena Ungeheuer), ‚Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen’ (Christa Brüstle), ‚Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren’ (Lukas Haselböck), ‚Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945’ (Jörn Peter Hiekel) und ‚Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 (Christian Utz). Diese Artikel sind durchaus teils fundiert und interessant, zeigen aber auch zum Teil bereits auf, wie hier die Herausgeber ihre Idee vom Fortschritt als alleingültig verstehen. Christian Utz insbesondere hat sich auf eine ‚Argumentationsweise’ spezialisiert, die jede Kritik allgemeiner Art an diesem Fortschritt als Polemik abtut. Das ist natürlich sehr beschädigend für jegliche fruchtbare Selbstreflexion, und tatsächlich sind wir jetzt bei einem vom Begriff der ‚Postmoderne’ abgeleiteten Begriff der ‚Posttonalität’ angekommen. Das ist natürlich reine Willkür und besagt eigentlich gar nichts außer der Tatsache, dass man weder im umfassenden Sinn je verstanden hat, was Tonalität ist, noch, was Atonalität ist. Unglaublich klug und kompliziert wird hier argumentiert, ohne dass ein generelles Verständnis der musikalischen Grundlagen vorhanden wäre. Solche ‚Denker’ sind ebenso reaktionär wie die konservativen Theoretiker des 19. Jahrhunderts, die in der Selbstverständlichkeit der dur-moll-tonalen Welt als alleinseligmachender Grundlage befangen waren. Stattdessen herrscht heute eben die reine, auf keinem zusammenhängenden Erleben basierende Willkür und Orientierungslosigkeit, die alles interessant findet, was irgendwie einen Weg aus der Tradition heraus zu weisen scheint. Qualität wird so einfach behauptet wie ihr Gegenteil. Jedoch ist dieses Lexikon sehr nützlich und hilfreich für all jene, die mitreden wollen im aktuellen Diskurs innerhalb des geschlossenen Zirkels derjenigen, die sich als die an der Front der neuesten Musik stehend wähnen – also die Macher, Mitwirkenden, Profiteure und Mitläufer der Festivals und Konzertreihen ‚Neuer Musik’, die nur eines scheuen ‚wie der Teufel das Weihwasser’: erlebt und damit erlebbar zusammenhängendes Komponieren. Das Buch gibt wie kein anderes umfassenden Einblick in die intellektuellen ‚Fundamente’ der Echokammer einer ‚posttonalen’ Welt, die sich selbstherrlich um sich selbst dreht und nur dank massiver Subventionen weiterhin existiert. Wer verstehen will, wie die denken, sollte sich anhand dieser spröden Lektüre damit auseinandersetzen. Die Informationsfülle ist gigantisch, auch wenn sie weitgehend ideologisch programmiert und voll blinder Flecken ist. Diesmal übrigens kann Herr Utz, Frontberichterstatter aus dem heroischen Krieg für das innerlich Zusammenhangslose, in der Ästhetik der 1920er Jahre Steckengebliebene und Mitherausgeber dieser epochalen ‚Neusprech’-Enzyklopädie, zurecht von Polemik sprechen – die er allerdings wie so oft nicht faktisch, sondern lediglich ideologisch kontern könnte.
[Annabelle Leskov, Dezember 2016]