Der Pianist Martin Ivanov spielt die ersten fünfzehn Ungarischen Rhapsodien S 244 von Franz Liszt für Gramola ein. Dies ist die erste Gesamteinspielung des Zyklus seit mehr als vier Jahren – die 30 Jahre später komponierten Rhapsodien Nr. 16 bis 19, die auch stilistisch vollkommen von den ersten fünfzehn getrennt erscheinen, ließ der Pianist in seiner Aufnahme aus.
In den letzten Jahren wandelte sich die Anschauung auf einige der großen Klavierstücke von Franz Liszt, beispielsweise auf seine Reihe an Ungarischen Rhapsodien, die er größtenteils auf gehörtes oder in Quellen gelesenes Material von Zigeunermusik errichtete. Bislang wurden die Stücke aufgrund ihrer immensen technischen Anforderungen und dem effektgeschwängerten Gestus wie Zirkusnummern behandelt und von den großen Virtuosen als Showstücke heruntergerast, um die pianistische Potenz zu demonstrieren. Nun machte vor allem die neue Notenausgabe von Istvan Stelényi und Zoltán Gárdonyi darauf aufmerksam, „dass bei der Ausführung trotz der erforderlichen Virtuosität niemals reine technische Bravour vorherrschen sollte“, sondern die Werke eine poetische Substanz innehaben.
Die Rhapsodien in ihrer Gesamtheit aufzunehmen hat dennoch vor allem archivarische und nicht zyklische Zwecke, denn sie sind einander im Geiste wie im Duktus doch zu ähnlich und damit zu wenig kontrastreich, um aneinandergereiht ihre Einzelwirkung zu entfalten: der Eindruck verwischt in Gleichförmigkeit. Dabei gibt es einige wahre Schätze unter den Stücken zu entdecken und manch eine der Rhapsodien (auch jenseits der berühmten Nr. 2) birgt melodische und harmonische Reichtümer, die mehr Pianisten ausschöpfen sollten. Andere sind dann aber doch recht oberflächliche Gebilde, die mehr durch die Geschwindigkeit als durch den Gehalt Geltung erhalten.
Zu bedauern bleibt, dass sich Ivanov gegen die letzten vier der Ungarischen Rhapsodien entschied, die Liszt etwa 30 Jahre nach den ersten fünfzehn komponierte. Diese haben nicht mehr die Leichtigkeit und Unbeschwertheit der früheren inne, sondern zeigen auch die Schattenseiten auf, sind daher umso schwieriger auch musikalisch zu bewältigen. Dafür belohnen sie mit Tiefgang, der bei den früheren Werken oft noch nicht so ausgereift war.
Die Leitbilder, die Ivanov für seine Liszt-Aufnahmen nennt, divergieren: Während Vladimir Horowitz durch subtile Detailgebung wahre Magie entlockt und Glenn Gould durch seine skurrile Art vollkommen eigenwillige Nuancen freigibt, drischt György Cziffra die Werke erbarmungslos herunter, stets bemüht, immer schneller und lauter zu hämmern.
Was beim Spiel von Martin Ivanov ins Auge sticht, ist eine persönliche, aufrichtige und eigenständige Note, die sein Musizieren durchdringt. Allein dies macht ihn zu einem Musiker, den man sich merken sollte und von dem hoffentlich noch Großes erwartet werden kann. Ivanov hält sich präzise an die kritische Ausgabe und stellt sich so in den Dienst dieser Werke, die in der Vergangenheit durch eine Vielzahl an Ausgaben, Veränderungen und Überspitzungen verstümmelt wurden. Besonders fein geht der Pianist mit dem Rubato um, welches er trefflich zur Melodiegestaltung einsetzt, ohne es überzustrapazieren. An manchen Höhepunkten geht es zwar doch mit ihm durch und er verfällt ins Rasen oder zieht dem schönen Ton eine effektreichere Darbietung vor – doch ist dies nur ein kleines Manko in einer farbenreichen und forschenden Aufnahme dieser Stücke, die in ihrer Gesamtheit nur selten zu hören sind.
Der gebürtige Bulgare Martin Ivanov ist einer der interessantesten Pianisten der jüngeren Generation. Als einer der letzten Studenten Oleg Maisenbergs in Wien scheint er die traditionellen Werte des professionellen Klavierspiels zu verkörpern wie nur wenige andere in der heutigen Zeit. Im Interview mit www.the-new-listener.de gibt Ivanov interessante Einblicke in seinen Werdegang und in seinen Interpretationsansatz. Dieses Interview erscheint anlässlich der Veröffentlichung der Gesamteinspielung von Franz Liszts „Ungarischen Rhapsodien“, die Martin Ivanov für sein langjähriges Stammlabel gramola aufgenommen hat. Es ist die erste Gesamtaufnahme dieses Zyklus seit mehr als vier Jahren und allein deswegen schon ein Ereignis. Doch Martin Ivanov zeigt mit diesem Doppel-Album auch, dass er bereit ist, schon bald zu den Großen seines Fachs gezählt zu werden.
The-new-listener.de: Herr Ivanov, sieht man sich Ihre Biografie an, kann man dort viele Superlative finden: Bereits im Alter von vier Jahren haben Sie mit dem Klavierspiel begonnen, haben im Laufe der Zeit an mehr als 50 Klavierwettbewerben teilgenommen und haben allein im Jahr 2016 international 32 Klavierrezitale gegeben, eine Zahl, die seither sicherlich noch angestiegen ist. Ist für Sie das Spielen vor Publikum der Schlüssel zur Entwicklung als Künstler? Zumindest scheint es ja für Ihre bisherige Karriere ganz entscheidend gewesen zu sein.
Martin Ivanov: Das Spielen vor Publikum war mir immer eine Freude. Selbst die Vorbereitung eines Programmes, wissend, dass es im Konzertsaal dargeboten wird, ist für mich ein sehr inspirierender Prozess – dabei habe ich genügend Zeit, um nachzudenken, wie genau ich jedes Stück oder gar jede Passage spielen möchte, damit das Publikum immer ein unvergessliches Erlebnis bekommt: jeder Auftritt muss ja effektvoll und brillant sein, sonst macht es für mich keinen Sinn. Ob das Spielen vor Publikum der Schlüssel zur Entwicklung als Künstler ist … – ja natürlich, es ist ein Teil davon. Die größte Entwicklung sollte aber noch in der Kindheit jedes Künstlers stattfinden, damit man in seinen “stärksten” Jahren mit der Musik Spaß hat – da gehört das musikalische und vor allem das technische Können richtig gelernt.
The-new-listener.de: Wie gehen Sie dann mit der aktuellen Zeit der Einschränkungen von öffentlichen Konzerten in Zeiten der Corona-Krise um? Das muss schlimm für Sie sein.
Martin Ivanov: Wirtschaftlich gesehen ist die Corona-Krise für keinen Künstler einfach zu bewältigen. Einerseits führte der Lockdown der Konzertsäle für viele dazu, dass kein Einkommen erwirtschaftet werden konnte, und für einige führte es auch zu einer Art Depression. In dieser Zeit gingen nicht nur Engagements verloren, sondern auch Kontakte zu den verschiedensten Veranstaltern und zukünftigen Projekten. Andererseits bietet diese Zeit auch die Gelegenheit, entweder sein künstlerisches Niveau zu verschlechtern, indem man aufgrund mangelnder Motivation nicht genug Zeit mit dem Instrument zu Hause verbringt oder, ganz im Gegenteil, – man findet endlich die Zeit dazu, um neues Repertoire einzustudieren und sucht nach neuen Wegen, um sich zu präsentieren. Ich habe persönlich erstens Förderern aus meinem Publikum, die mich auch finanziell unterstützen wollten, angeboten, ihnen Kompositionen zu widmen, so dass ich mich einen guten Teil meiner Zeit auf meine kreative Seite fokussierte. Zweitens habe ich mich auch auf einige Klavierkonzerte und die Nocturnes von Chopin, die ich im Herbst aufnehmen möchte, konzentriert. Drittens habe ich mir einen langjährigen Traum erfüllt, und zwar ein Tonstudio zu gründen, mit dem ich mich sowohl als Künstler als auch als Tontechniker profilieren kann.
Seit einiger Zeit sind Sie sehr aktiv im Aufnahmestudio. Wie empfinden Sie den Prozess der Albumaufnahme im Vergleich zum Live-Konzert? Empfinden sie es als positiv, weil man sich Zeit nehmen kann, um die ideale Interpretation einzuspielen oder fehlt Ihnen die Rückkopplung mit dem Publikum?
Martin Ivanov: Der Aufnahmeprozess ist eine andere Art des Musizierens. Er ist kein Konzert oder Wettbewerb und auch nicht wie Üben zu Hause. Eine Aufnahme sehe ich als die einzige Möglichkeit, das Repertoire eines Künstlers zu “speichern” und für die Nachwelt im Archiv zu dokumentieren. Daher sind vor allem Geduld und eine sehr präzise Vorbereitung erforderlich, um die “ideale” Interpretation zu erreichen.
The-new-listener.de: Seit 2017 haben Sie beim Label gramola jedes Jahr ein neues Album vorgelegt. Dabei fällt auf, dass Sie sich offenbar ganz und gar auf das romantische Klavierrepertoire konzentrieren. Würden Sie sagen, dass die musikalische Romantik Ihr bevorzugtes Genre ist?
Martin Ivanov: Es steht außer Frage, dass mir die Musik der Romantik besonders am Herzen liegt. Vor allem sie berührt den Geschmack vieler Menschen ganz unmittelbar und erlaubt dadurch, dass man als Künstler ein hohes Maß an Kreativität und Individualität zeigen kann. Auf der anderen Seite stellt ein Repertoire wie Schumanns „Novelletten“, Liszts „Paganini-Etüden“ oder die „Ungarischen Rhapsodien“ eine technische Herausforderung dar: trotz ihrer Schwierigkeiten soll diese Musik “jung und frisch” klingen. Daher finde ich, dass jetzt die richtige Zeit für mich ist, mich mit diesen, auch nicht so häufig aufgenommenen, Klavierstücken zu beschäftigen.
Gleichzeitig umfasst mein Repertoire aber nicht nur Musik der Romantik, sondern auch alles, was zur bedeutenden Klavierliteratur vom Barock bis zum 20. Jahrhundert zählt. Als ein Beispiel darf ich hier die 32 Sonaten von Beethoven nennen, die ich in den nächsten Jahren sukzessive aufzunehmen gedenke.
The-new-listener.de: Mit Ihrem Chopin- und Ihrem Schumann-Album haben Sie noch Werke erkundet, die zwar zweifellos zu den Meisterwerken der Klaviermusik zählen, im Œuvre der beiden Komponisten zumeist aber durch noch bekanntere Kompositionen überschattet werden. Mit Ihrem ersten Liszt-Album im vergangenen Jahr hat sich das geändert, und Sie haben unter anderem die große h-Moll-Sonate dargeboten, nun folgen die ebenfalls meisterhaften und beim Publikum sehr beliebten ungarischen Rhapsodien. Sind Ihre CD-Alben also auch ein Abbild Ihrer Entwicklung als Künstler?
Martin Ivanov: Ich glaube nicht, dass die Reihenfolge meiner CD-Alben etwas mit meiner Entwicklung als Künstler zu tun hat. Die Musik, die ich bisher aufgenommen habe, umfasst Klavierkompositionen, die ich sehr mag und von denen ich meine Interpretation auf CDs festhalten wollte.
Was mir jedoch noch vor meiner ersten Platte klar wurde, war, dass ich immer ein ganzes Album einer bestimmten Gattung eines Komponisten widmen müsste, um eine wichtige CD zu veröffentlichen, und seitdem war das immer der Fall. Das allein hat sicherlich meine künstlerische Entwicklung beeinflusst, da es mir geholfen hat, die Musik aus einer größeren Perspektive zu betrachten.
The-new-listener.de: Wenn ich einmal ins Detail gehen darf: Was mich besonders begeistert, ist Ihr Umgang mit dem Rubato. Das Rubato ist ja eine hohe Kunst, die viele jüngere Interpreten aber sehr frei und teilweise im Übermaß gebrauchen, wodurch die Interpretation schnell aus dem Ruder geraten kann. Sie hingegen scheinen sich über das Thema Rubato präzise Gedanken gemacht zu haben und setzen das Stilmittel ausgesprochen sicher und pointiert ein. Was raten Sie Ihren Klavierschülern für gewöhnlich zum Umgang mit Rubato?
Martin Ivanov: Das Thema Rubato kann sicherlich von vielen Künstlern und Musikwissenschaftlern intensiv diskutiert werden, und ich vermute, dass es eine genaue theoretische Definition gibt, wie man richtig Rubato spielen soll. Darüber habe ich aber ehrlich gesagt nie nachgedacht. Es muss vor allem natürlich gespielt werden – so, dass es nicht den Charakter, das Tempo und die Linie der musikalischen Phrase zerstört. Das ist prinzipiell viel leichter gesagt, als getan.
The-new-listener.de: Sie haben zunächst bei Ihrer Mutter und bei Sultana Markovska, anschließend beim legendären Oleg Maisenberg studiert. Wie unterscheiden sich die Persönlichkeiten Ihrer Lehrer/innen und inwiefern hat Sie selbst das musikalisch geprägt?
Martin Ivanov: Die Ausbildung eines Künstlers ist in mehrere Phasen unterteilt, und davon ist die erste Phase, in der die Hände eines zukünftigen Pianisten erstmals auf das Klavier gelegt werden, die allerwichtigste. Während dieser Phase ist vor allem die technische Ausbildung des Schülers für seine spätere Entwicklung entscheidend. Ich bin sehr glücklich, dass meine Kindheit in Bezug auf den Klavierunterricht mit meiner Mutter und Frau Markovska verknüpft war, weil sie mit mir immer darauf hingearbeitet haben, die maximale Qualität jeder einzelnen Note zu erreichen. Beispielsweise arbeitete ich regelmäßig mit einer von ihnen stundenlang nur an einem einzigen Takt, damit er schön klingt. Ich sollte auch jeden Tag, seit ich vier Jahre alt war, mit Tonleitern in verschiedensten Varianten beginnen. Dieser Lernprozess war für mich als Kind nicht immer leicht, aber er hat sich schon unsagbar ausgezahlt.
Meine spätere Ausbildung bei Oleg Maisenberg habe ich sehr genossen. Ich bin vor allem wegen ihm nach Wiengekommen. Er ist ein großartiger Künstler, der sich einfach, aber immer sehr bedeutsam ausdrückte; und er hat mich stets motiviert, mein Repertoire zu vergrößern und jede Woche ein neues Stück vorzubereiten. Nachdem er in den Ruhestand ging, beschloss ich, ausschließlich selbständig zu arbeiten und meine Ausbildung selbst weiterzuführen.
The-new-listener.de: In Ihrem Stil finde ich viele Tugenden, unter denen ich Authentizität, Persönlichkeit, Charakter und Werktreue besonders hervorheben würde. Auf mich wirken Ihre Interpretationen in einem sehr positiven Sinne fast aus der Zeit gefallen: Während ja viele Ihrer jungen Kollegen heutzutage offenbar vor allem versuchen, Neuland zu suchen, von der vermeintlichen „Norm“ abweichende und besonders „revolutionäre“ Interpretationen vorzulegen, hat man bei Ihnen immer den Eindruck, Sie knüpften bewusst an die große Schule von Interpreten wie Gilels, Rubinstein oder Serkin an. Wie sehen Sie selbst sich denn in unserer schnelllebigen Zeit und in dieser ausgesprochen diversen Klavierszene von heute? Oder anders gefragt: Wie möchten Sie selbst gesehen werden?
Martin Ivanov: Ich war immer der Meinung, dass das Spiel eines Musikers immer überzeugend sein muss. Egal was man macht, soll man immer versuchen, Langweiligkeit zu vermeiden. Das kommt heutzutage leider nicht sehr oft vor. Viele haben Angst vor Kreativität und eigener Persönlichkeit und versuchen daher, alles perfekt und ohne Risiko oder falsche Töne zu spielen. Doch ein falscher Ton ist nicht immer schlecht! Er zeigt ja nämlich, dass dieser Künstler ein Mensch ist.
Es ist selbstverständlich, dass alle Künstler einen eigenen Weg gehen, und alle wollen sich bestmöglich entwickeln. Mir ist es am wichtigsten, die Liebe und die ehrliche Emotion für die Musik nie zu verlieren, weil sie davon lebt.
The-new-listener.de: Im Internet ist eine ganz unglaubliche Live-Darbietung von Balakirevs „Islamey“ von Ihnen zu finden. Ich muss sagen: Ich glaube, ich habe dieses Stück vielleicht noch nie in einer so großartigen Interpretation gehört! Wäre das etwas, was Sie gern auch einmal aufnehmen möchten? Vielleicht im Zusammenhang mit einem „russischen Album“?
Martin Ivanov: Gute Idee.
The-new-listener.de: Abschließend – trotz Corona-Krise – die Frage nach Ihren Plänen für die Zukunft? Gibt es in nächster Zeit Konzerte oder andere Pläne?
Martin Ivanov: Ich habe viele Konzerte und andere Pläne vor mir und ich hoffe, dass die Corona-Krise bald vorbei ist, damit sie stattfinden. Ich bin auch auf dem Weg, ein eigenes Festival in Österreich zu gründen und wenn die Welt ab nächstem Jahr hoffentlich wieder normal läuft, erwarten mich Auftritte in mehreren Europäischen Ländern.