Das fünfköpfige Ensemble Armoniosa ging in einem verwunschenen Schloss in Piemont in Klausur, um Vivaldis 12 Konzerte „L estro Armonico“ in eigenen Transkriptionen für Kammerbesetzung für eine neue Doppel-CD einzuspielen. Musiziert wurde oft nachts, weil es dann am ruhigsten ist. Ebenso entstand ein Videoclip, der eine tiefgehende visuelle Interpretation der gespielten Musik ist. Hier schwebt der Geist der Musik durch weite Landschaften, beflügelt und entrückt. Vor allem die eingefangenen Lichtstimmungen widerspiegeln eine Welt aus Licht und Schatten, wie sie auch in Vivaldis Konzerten in hoher Verdichtung lebt. Im Gespräch mit Stefan Pieper verrieten der Cellist Marco Demario und der Violinist Franceso Cerrato, an welchen Locations gedreht wurde – und erläuterten darüber hinaus den eigenen Anspruch, aus einer „alten“ Musik eine Botschaft fürs 21. Jahrhundert zu formen.
An welcher traumhaften Location haben Sie dieses Video aufgenommen?
Marco Demaria:
Die Außendrehs haben wir in den französisch-italienischen Alpen gemacht, und zwar am Lac de Mont Cenis, der auf einer Passhöhe in etwa zweitausend Meter Höhe nahe der italienischen Grenze liegt. Hinzu kamen Landschaftsaufnahmen im Gran Paradiso Nationalpark. Die Innenaufnahmen entstanden im
Königlichen Schloss Govone. Es ist der alte Sommerpalast der Königsfamilie aus dem 17.Jahrhundert, wie es hier in Piemont eine ganze Reihe solcher Residenzen gibt. In dem stilvollen Saal dieses Schlosses haben wir übrigens auch unsere Platte aufgenommen.
War es viel Arbeit, diesen Raum zu einem Studio umzufunktionieren?
Francesco Cerrato:
Oh ja! Wir haben sehr viel Zeit damit verbracht, alles herzurichten. Es brauchte viele akustische Vorbereitungen, da es überhaupt keine Dämpfungen an Wänden und Fenstern gab, so dass viele Geräusche von außen eindrangen. Schließlich haben wir beschlossen, nachts aufzunehmen, weil es dann ruhiger ist. Auf jeden Fall hat die harte Arbeit sich gelohnt.
Das Video stellt einen intensiven Bezug zwischen der Musik und der Umgebung her. Welche Energie geht für Sie von solchen Orten aus?
Marco Demaria:
Die Musik ist ein Teil von uns. Und wir zeigen die Gegend, aus der diese Musik kommt, von der sie inspiriert ist, denn sie soll Teil der Schönheit dieses Landes werden. Wir sind sehr glücklich, dass wir in Italien überall viel Schönheit haben. Wir haben die italienischen Alpen in den Fokus gesetzt, um auch mal dieses Gesicht von Italien dem Publikum zu zeigen.
Francesco Cerrato:
Die Aufnahmesessions in diesem faszinierenden Schloss waren eine tolle Erfahrung. Wir waren ganz alleine in diesem Schloss, so dass eine unheimlich starke Aura auf uns wirkte. An diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt Vivaldi zu spielen, hat unvergleichliche Emotionen frei gesetzt. Wir haben uns jenseits von Raum und Zeit gefühlt.
Marco Demaria:
Dieses Schloss wirkt so echt, so real. Nicht zuletzt, weil einige Teile des Gebäudes noch nicht renoviert und auch nicht öffentlich zugänglich sind. Man atmet den Geruch der alten Zeit. Dieser Ort ist einfach echt.
Der Videofilm ist zu einer tiefen Interpretation der Musik geworden. War das von Anfang an geplant?
Marco Demaria:
Wir wollten eine Story erzählen. Dies einem Publikum zu vermitteln ist genauso wichtig wie die Musik selbst. Eine gute PR kostet immer viel Geld, deswegen sollte man so kreativ wie möglich an die Sache heran gehen. Es ist ein Glücksfall, dass wir einen so künstlerisch idealistischen Produzenten wie Alessandro Rota als Freund an unserer Seite haben. Er kennt unsere Fähigkeiten und unsere Potenziale sehr gut und hat die besten Ideen, ihnen ein Gesicht zu verleihen.
Lassen Sie uns jetzt mal über den Kern der Musik sprechen! Was ging der Einspielung dieser zwölf Konzerte voraus?
Francesco Cerrato:
Wir sind ursprünglich von einem großen Ensemble ausgegangen, wie es noch auf der ersten Platte zu hören ist. Mittlerweile hat sich unsere spezielle fünfköpfige Besetzung heraus kristallisiert. Seitdem loten wir immer neue Möglichkeiten aus und da rückten schließlich die Konzerte aus „L’estro Armonico“ in den Focus. Michele Barchi, unser Cembalospieler hat die ganzen Transkribierungen vorgenommen und über dieses Projekt viele Jahre nachgedacht. Was für neue interessante Klangaspekte lassen sich mit unserer Besetzung realisieren, lautete hier eine spannende Frage. Wie kann man es schaffen, diesen berühmten Zyklus mit einem kleinen Ensemble zu realisieren, dass am Ende wirklich große Musik herauskommt? Es taten sich bei der Erarbeitung immer neue Möglichkeiten und Aspekte auf, unser ganzes Potenzial zu entfalten.
Wie fühlen Sie sich in der Konkurrenz zu den zahllosen anderen Barockensembles, die auch alle Vivaldi spielen?
Francesco Cerrato:
Ich glaube, diese Besetzung, diese Aufnahme und diese Neuarrangierungen sind allesamt genug Antworten auf diese Frage. Wir haben das gute Gefühl, einen neuen, anderen Weg gegangen zu sein.
Marco Demaria:
Man kann mit einer solchen Produktion auch immer die Qualität des Materials aus einem neuen Blickwinkel heraus definieren. Vivaldi, einer der größten Namen aus der Barockzeit, wird in unserer individuelle Lesart in seiner Größe und Ausstrahlung einmal mehr bestätigt. Auch das Verhältnis von Vivaldi zu Bach eine thematische Idee des Projekts. Bach hat bekanntlich diese Konzerte transkribiert und diese Transkriptionen fließen ja auch in die neuen Arrangements mit ein, vor allem was die Parts für Cembalo bzw. Orgel betreffen. Wir haben zwei Jahre lang an diesem Projekte gearbeitet – jetzt haben wir das gute Gefühl, dass etwas sehr persönliches dabei heraus gekommen ist.
Wie würden Sie Ihren eigenen Stil charakterisieren?
Marco Demaria:
Wir haben mit Reinhard Goebel und Trevor Pinnock gearbeitet, das sind viele Erfahrungen, die uns immer zu Gute kommen. Bei allem sind wir Italiener mit italienischen Prinzipien. Trotzdem bemühen wir uns um eine emanzipierte Haltung gegenüber Dogmen und so mancher inflationärer Tendenz. Es gibt ja viele Konventionen, Meinungen und Moden, etwa wenn es um Akzentierungen in der Barockmusik geht. Wir wollen in dieser Hinsicht schon unter italienisches Gepräge nicht verleugnen, zollen aber zugleich der Partitur höchsten Respekt.
Was ist die Botschaft dieser Musik für die Gegenwart?
Marco Demaria:
Unsere Hauptbotschaft soll sein: Diese Musik lebt. Zu Beginn nannten wir uns „Armoniosa Barock Ensemble“. Jetzt heißen wir einfach nur Armoniosa. Barock ja – aber diese Stilschublade ist so behaftet mit Konnotationen. Mit diesen aktuellen Transkriptionen zeigen wir unter anderem auf, was Bach für Tasteninstrumente mit Vivaldis Musik gemacht hat. Die Musik berührte immer sehr unmittelbar in ihrer spezifischen Zeit. Bach wollte, dass sein Publikum ihm zuhörte. Wir wollen unsere eigene Botschaft herausholen, um diese Musik in heutiger Zeit lebendig zu machen. Auf keinen Fall wollen wir kopieren oder gar etwas museales oder archäologisches betreiben. Wir gehen dafür mit den Fertigkeiten des 21. Jahrhunderts an diese Sache heran. Das schließt keineswegs die korrekte Kenntnis der Regeln, Prinzipien und Theorien aus, denen wir höchsten Respekt zollen. Wir respektieren, was Vivaldi wollte, was in der Partitur steht. Wir bearbeiten Bachs Partituren, um sie auf neue Weise für Vivaldis Botschaft zu öffnen. Damit diese im 21. Jahrhundert neu erfahrbar wird!
Francesco Cerrato:
Ich sage es noch direkter: Wir lieben diese Musik einfach sehr. Wir haben sehr viel Leidenschaft, genießen diese Musik und wollen diese Leidenschaft beim Publikum wecken. Wenn die Zuhörer diese Musik genauso lieben wie wir, dann haben wir ein Ziel erreicht. Musik eine Sprache und Vivaldis Musik ist unsere Sprache. Wir können dem Publikum Geschichten erzählen. Wir können in unserer Sprache mit den Menschen sprechen.
Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen populärer und klassischer Musik in Italien?
Francesco Cerrato:
Generell kommen relativ wenig Leute in Konzerte, um Barockmusik zu hören. Das große Publikum hat gar keine Ahnung über klassische Musik. Da sind die typischen Vorurteile: Barockmusik sei langweilig und es gibt sie nur in der Kirche. Viele Menschen sind dann plötzlich sehr überrascht, wenn sie in unseren Konzerten zum ersten Mal erleben, was für ein Spaß diese Musik verströmt. Für solche Erlebnisse sind Vivaldis Konzerte natürlich prädestiniert. Musik aus dieser Zeit hat eine unglaubliche Direktheit. Man kann hier so viel erleben und sich mitreißen lassen. Es gibt hier noch nicht die ganze Komplexität wie in der Musik des 19. Jahrhunderts. Das ist unsere große Chance, um viel ungeahnte musikalische Frische zu erzeugen!
Ensemble Armoniosa: Vivaldi | 12 Concerti op.3 „L’estro Armonico“, Reddress 2019
Michele Barchi: cembalo, Daniel Ferreti: organ, Francesco Cerrato: violin, Stefano Cerrato: 5 string cello, Marco Demaria: cello